Anspruch eines an Krebs durch ionisierende Strahlen leidenden ehemaligen Wehrdienstpflichtigen der NVA auf Feststellung einer
Berufskrankheit in der gesetzlichen Unfallversicherung
Gründe:
I
Zwischen den Beteiligten sind Ansprüche auf Feststellung einer Hodentumorerkrankung als Berufskrankheit (BK) und als Wehrdienstbeschädigung
sowie auf Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung und des sozialen Entschädigungsrechts streitig.
Der 1951 geborene Kläger leistete vom 3.5.1973 bis zum 31.10.1974 seinen Grundwehrdienst bei der Nationalen Volksarmee (NVA)
der Deutschen Demokratischen Republik (DDR). Als Funkorter/Operator war er am Radargerät Rundblickstation P-14 eingesetzt.
Im März 1991 wurde bei ihm ein Tumorleiden festgestellt, das zur Entfernung der rechten Hode führte.
Mit Schreiben vom 7.8.2001 beantragte der Kläger bei der Bundesausführungsbehörde für Unfallversicherung (BAfU; Rechtsvorgängerin
der beklagten Unfallkasse des Bundes) die Anerkennung der Hodentumorerkrankung als BK. Die Beklagte lehnte die Feststellung
einer BK nach Nr 2402 (im Folgenden BK 2402) der
Berufskrankheiten-Verordnung und die Gewährung von Leistungen ab, weil der Kläger keinen schädigenden Einwirkungen ausgesetzt gewesen sei (Bescheid vom
24.6.2003; Widerspruchsbescheid vom 20.2.2004).
Das SG Dresden hat die Klage abgewiesen (Gerichtsbescheid vom 30.12.2005). Das Sächsische LSG hat die Berufung zurückgewiesen
(Urteil vom 25.10.2007). Die Krebserkrankung sei der Beklagten erst nach dem 31.12.1993 bekannt geworden. Auch sei die Erkrankung
nicht nach dem Dritten Buch der
Reichsversicherungsordnung (
RVO) zu entschädigen gewesen, weil nach § 541 Abs 1 Nr 2
RVO für Wehrdienstleistende Versicherungsfreiheit bestanden habe.
Mit der vom Bundessozialgericht (BSG) zugelassenen Revision rügt der Kläger eine Verletzung des Einigungsvertrages (EinigVtr),
des § 1150 Abs 2 Satz 2 Nr 1
RVO sowie einen Verstoß gegen die Pflicht zur Amtsermittlung. Er sei während seiner Wartungs- und Instandsetzungsarbeiten am
eingeschalteten und offenen Radargerät ionisierenden Strahlen ausgesetzt gewesen. Nach den Empfehlungen der Radarkommission
seien sämtliche maligne Tumore mit Ausnahme der Chronisch Lymphatischen Leukämie (CLL) als durch Strahlung hervorgerufene
Erkrankungen anzusehen. Dadurch habe er eine BK 2402 und eine Wehrdienstbeschädigung erlitten. Zudem habe eine BK nach Nr
51 oder Nr 92 der
Berufskrankheitenverordnung der DDR bestanden. Für deren Entschädigung sei die Beklagte zuständig. Im Übrigen habe es das LSG versäumt, den Sachverhalt
umfassend aufzuklären.
Der Kläger hat schriftsätzlich beantragt,
das Urteil des Sächsischen Landessozialgerichts vom 25. Oktober 2007 und den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Dresden vom
30. Dezember 2005 sowie den Bescheid der Beklagten vom 24. Juni 2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. Februar
2004 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, an ihn Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung und des sozialen Entschädigungsrechts
zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Revision sei unzulässig, da es an der Bezeichnung der verletzten Rechtsnorm fehle. Abgesehen davon habe das Radargerät
P-14 über eine Abschaltautomatik verfügt und damit nicht zu den als gefährdend eingestuften Radarstationen gehört. Eine Verursachung
von Hodentumoren durch Radarstrahlen sei nach derzeitigem Kenntnisstand der medizinischen Wissenschaft nicht wahrscheinlich.
Das Gesuch des Klägers, den Richter am BSG Dr. Becker wegen Besorgnis der Befangenheit abzulehnen, hat der Senat ohne dessen
Mitwirkung durch Beschluss vom 14.1.2010 zurückgewiesen. Die hiergegen erhobene Verfassungsbeschwerde hat das Bundesverfassungsgericht
mit Beschluss vom 19.4.2010 (1 BvR 626/10) nicht zur Entscheidung angenommen.
II
Der Senat entscheidet in der oben angegebenen Besetzung, nachdem das Gesuch des Klägers, den Richter am BSG Dr. Becker wegen
Besorgnis der Befangenheit abzulehnen, durch Beschluss des Senats vom 14.1.2010 zurückgewiesen worden ist.
Die Revision ist in dem im Urteilsausspruch genannten Umfang unzulässig, im Übrigen zwar zulässig, aber unbegründet.
Der Kläger begehrt vom BSG, die vorinstanzlichen Entscheidungen sowie die Ablehnungsentscheidung der Beklagten aufzuheben
und gerichtlich festzustellen, dass die Hodentumorerkrankung eine BK 51 oder BK 92 der Anlage zu § 1 der Ersten Durchführungsbestimmung
vom 21.4.1981 zur Verordnung über die Verhütung, Meldung und Begutachtung von Berufskrankheiten der DDR vom 26.2.1981 (GBl
I 137, 139; im Folgenden BK 51 DDR und BK 92 DDR) oder eine BK 2402 sowie eine Wehrdienstbeschädigung ist. Darüber hinaus
strebt er die Verurteilung der Beklagten zur Gewährung von Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung und des sozialen
Entschädigungsrechts an. Nach dem Wortlaut des in der Revisionsbegründungsschrift gestellten Antrags werden zwar lediglich
die genannten Leistungen gefordert. Aufgrund des bei der Auslegung des Antrags zu berücksichtigenden Revisionsvorbringens
(vgl §
123 Sozialgerichtsgesetz [SGG]) geht es dem Kläger aber ersichtlich auch um die Feststellung einer Wehrdienstbeschädigung und der bezeichneten BKen
als Grundlage für das Leistungsbegehren.
Die Revision genügt, entgegen der Ansicht der Beklagten, noch den Begründungsanforderungen des §
164 Abs
2 Satz 1 und
3 SGG. Danach muss die Begründung einen bestimmten Antrag enthalten und die verletzte Rechtsnorm bezeichnen. Insoweit ist mit rechtlichen
Erwägungen aufzuzeigen, dass und weshalb die Rechtsansicht des Berufungsgerichts nicht geteilt wird. Es bedarf einer Auseinandersetzung
mit den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils und der Darlegung, inwieweit die als verletzt gerügte Vorschrift des
materiellen Bundesrechts nicht oder nicht richtig angewandt worden ist (BSG vom 2.12.2008 - B 2 U 26/06 R - BSGE 102, 111 = SozR 4-2700 § 8 Nr 29, jeweils RdNr 10 mwN). Die Revisionsbegründung lässt noch erkennen, weshalb der Kläger die angefochtene
Entscheidung für unzutreffend hält. Er hat einen Verstoß gegen den EinigVtr gerügt und eine Verletzung des § 1150 Abs 2 Satz 2 Nr 1
RVO deutlich geltend gemacht, indem er ausgeführt hat, das LSG sei unter Berufung auf das Urteil des Senats vom 10.10.2002 (B 2 U 10/02 R) zu Unrecht davon ausgegangen, die Feststellung der BK 2402 scheitere an der in der
RVO geregelten Versicherungsfreiheit wehrdienstpflichtiger Personen.
Die Revision des Klägers ist mangels Beschwer als unzulässig zu verwerfen (§
169 SGG), soweit er die Feststellung einer BK 51 DDR oder BK 92 DDR, einer Wehrdienstbeschädigung sowie Leistungen begehrt. Darüber
hat das LSG nicht entschieden und hatte der Kläger eine Entscheidung vom Berufungsgericht auch nicht verlangt. Er hat schon
vor dem SG nur die Feststellung eines Rechts auf eine Verletztenrente sowie Zahlungen hieraus gefordert und damit unausgesprochen auch
die zuvor bei der BAfU beantragte Feststellung des Vorliegens des Versicherungsfalls einer der nach dem Sachverhalt in Betracht
kommenden BK begehrt. Das erst mit dem Revisionsantrag erklärte Begehren auf Feststellung einer Wehrdienstbeschädigung und
auf Leistungen der sozialen Entschädigung war davon bereits nicht erfasst. Zudem hat er durch seinen Prozessbevollmächtigten
vor dem LSG zu dessen Protokoll nur noch die Feststellung des Versicherungsfalls der BK 2402 beantragt und dadurch die Entscheidung
des LSG auf allein dieses Begehren beschränkt. Über die anderen Begehren hatte das Berufungsgericht nicht zu entscheiden und
hat es auch nicht geurteilt. Dass der in der mündlichen Verhandlung des LSG protokollierte Antrag vor dem Hintergrund seiner
Rechtsauffassung offenkundig nicht den Interessen des Klägers entsprochen hätte oder dass die Beschränkung rechtsmissbräuchlich
erfolgt wäre, ist weder behauptet worden noch ersichtlich.
Die damit lediglich hinsichtlich des Begehrens auf Feststellung des Versicherungsfalls der BK 2402 zulässige Revision ist
nicht begründet. Das LSG hat im Ergebnis zu Recht die Berufung gegen den die Klagen abweisenden Gerichtsbescheid des SG zurückgewiesen. Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Aufhebung der Ablehnung einer Feststellung einer BK 2402 und auf die
gerichtliche Feststellung dieses Versicherungsfalls. Denn er erfüllt hierfür keine Anspruchsgrundlage.
Eine Anspruchsgrundlage kann sich grundsätzlich nur aus dem zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung geltenden Bundesrecht
ergeben. Nach §
9 Abs
1 Satz 1 des zum 1.1.1997 eingeführten Sozialgesetzbuchs Siebtes Buch (
SGB VII; Art 36 UnfallversicherungsEinordnungsgesetz vom 7.8.1996 - BGBl I 1254) iVm §
1 der
Berufskrankheiten-Verordnung vom 31.10.1997 (
BKV; BGBl I 2623) in der Fassung (idF) der Zweiten Verordnung zur Änderung der
BKV vom 11.6.2009 (BGBl I 1273) sind BKen nur diejenigen Krankheiten, welche die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung
des Bundesrates als BKen bezeichnet (Listen-BK). Der Verordnungsgeber hat zwar "Erkrankungen durch ionisierende Strahlen"
als BK 2402 in die Anlage 1 (bis 30.6.2009: Anlage) zur
BKV aufgenommen. Der zeitliche Geltungsbereich der zum 1.12.1997 in Kraft gesetzten
BKV (§
8 Abs
1 BKV) erstreckt sich aber nur auf ab diesem Zeitpunkt eingetretene Versicherungsfälle. Erst das Inkrafttreten einer Rechtsnorm
gemäß Art
82 Abs
2 Satz 1 und
2 Grundgesetz (
GG) führt zur Wirksamkeit der Geltungsanordnung. Mangels Übergangsregelung beansprucht die
BKV keine Gültigkeit für Sachverhalte, die sich vor ihrem Inkrafttreten verwirklicht haben (vgl hierzu BSG vom 16.3.2010 - B 2 U 8/09 R - zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen). Der vom Kläger wegen der im März 1991 festgestellten Tumorerkrankung geltend
gemachte Versicherungsfall wird daher von der BK 2402 idF der
BKV nicht erfasst.
Der Anspruch auf Feststellung einer BK 2402 ergibt sich auch nicht aus der §
9 Abs
1 Satz 1
SGB VII entsprechenden Vorläufervorschrift des § 551 Abs 1 Satz 2
RVO iVm §
1 der Siebten
Berufskrankheitenverordnung vom 20.6.1968 (BKVO; BGBl I 721) und der Anlage 1 hierzu. Dieser BK-Tatbestand ist durch die Verordnung zur Änderung der BKVO vom 8.12.1976 (BGBl I 3329) mit Wirkung zum 1.1.1977 in die BKVO aufgenommen worden und galt auch im März 1991. Auf die zur Zeit des geltend gemachten Versicherungsfalls gültigen Rechtsnormen
kann sich der Kläger allerdings nicht berufen, weil seine Erkrankung im Beitrittsgebiet eingetreten ist. § 551 Abs 1 Satz 2
RVO und die BKVO waren im Beitrittsgebiet erst ab 1.1.1992 anzuwenden (Anlage I Kapitel VIII Sachgebiet I Abschnitt III Nr 1 Buchst f und
Nr 4 EinigVtr).
Schließlich scheidet ein Anspruch auf die begehrte Feststellung der BK 2402 nach übergangsrechtlichen Regelungen aus. Für
die Übernahme der - wie hier - vor dem 1.1.1992 im Beitrittsgebiet eingetretenen Erkrankungen als BKen nach dem Recht der
gesetzlichen Unfallversicherung ist nach §§
212 und
215 Abs
1 Satz 1
SGB VII die Vorschrift des § 1150 Abs 2
RVO in der am 31.12.1996 geltenden Fassung des Renten-Überleitungsgesetzes vom 25.7.1991 (BGBl I 1606, 1688) weiter anzuwenden. Gemäß § 1150 Abs 2 Satz 1
RVO gelten solche Krankheiten, die nach dem im Beitrittsgebiet geltenden Recht BKen der Sozialversicherung waren, als BKen iS
des Dritten Buches der
RVO. Das gilt nach § 1150 Abs 2 Satz 2 Nr 1
RVO nicht für Krankheiten, die einem ab 1.1.1991 für das Beitrittsgebiet zuständigen Träger der Unfallversicherung erst nach
dem 31.12.1993 bekannt werden und die nach dem Dritten Buch der
RVO nicht zu entschädigen wären.
Jedoch gilt § 1150 Abs 2 Satz 2 Nr 1
RVO nicht für Versicherungsfälle aus dem Wehrdienst ehemaliger Wehrdienstpflichtiger der NVA der DDR. Dies ergibt sich aus §
215 Abs
1 Satz 2 und
3 SGB VII in der nach der angefochtenen Entscheidung des LSG rückwirkend zum 1.1.1994 in Kraft gesetzten Fassung des Gesetzes zur Modernisierung
der gesetzlichen Unfallversicherung (Unfallversicherungsmodernisierungsgesetz - UVMG) vom 30.10.2008 (BGBl I 2130; Art 1 Nr 33 Buchst a, Art 13 Abs 2 UVMG). Vielmehr gelten die Vorschriften des
SGB VII, wenn bei diesen Personen nach dem 31.12.1991 infolge des Wehrdienstes eine BK entstanden ist. Mit diesen Regelungen ist
für frühere wehrpflichtige Soldaten der NVA, die weder nach dem Soldatenversorgungsgesetz noch nach dem Bundesversorgungsgesetz anspruchsberechtigt waren, klargestellt worden, dass sie nach dem Dritten Buch der
RVO grundsätzlich unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung stehen, wenn sie vor dem 1.1.1992 infolge des Dienstes
eine Krankheit erlitten haben, die nach dem im Beitrittsgebiet geltenden Recht eine BK der Sozialversicherung war (BSG vom
17.2.2009 - B 2 U 35/07 R - SozR 4-2700 § 215 Nr 2 RdNr 12).
Damit kommt für ehemalige Wehrdienstpflichtige der NVA, die vor dem 1.1.1992 im Beitrittsgebiet erkrankt sind, nicht die Feststellung
einer BK iS der BKVO oder der
BKV, sondern nur einer BK der Sozialversicherung der DDR in Betracht. Über das Vorliegen der geltend gemachten BK 51 DDR oder
BK 92 DDR kann der Senat aber - wie bereits ausgeführt wurde - nicht befinden. Abgesehen davon erscheint fraglich, ob die
Beklagte mit dem hier angegriffenen Bescheid insoweit eine - ggf nachzuholende - Regelung getroffen hat, obwohl der Kläger
im August 2001 gegenüber der BAfU einen Antrag auf Anerkennung "einer" BK und nicht nur der BK 2402 gestellt hat.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§
183,
193 SGG.