Anspruch auf zusätzliche Betreuungs- und Entlastungsleistungen nach dem SGB XI
Grundsatzrüge
Genügen der Darlegungspflicht
Breitenwirkung einer Rechtsfrage
1. Grundsätzliche Bedeutung hat eine Rechtssache i.S. des §
160 Abs.
2 Nr.
1 SGG nur dann, wenn sie eine Rechtsfrage aufwirft, die - über den Einzelfall hinaus - aus Gründen der Rechtseinheit oder Fortbildung
des Rechts einer Klärung durch das Revisionsgericht bedürftig und fähig ist.
2. Der Beschwerdeführer muss anhand des anwendbaren Rechts und unter Berücksichtigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung
aufzeigen, welche Fragen sich stellen, dass diese noch nicht geklärt sind, weshalb eine Klärung dieser Rechtsfragen aus Gründen
der Rechtseinheit oder Fortbildung des Rechts erforderlich ist und dass das angestrebte Revisionsverfahren eine solche Klärung
erwarten lässt.
3. Um seiner Darlegungspflicht zu genügen, muss ein Beschwerdeführer mithin eine Rechtsfrage, ihre (abstrakte) Klärungsbedürftigkeit,
ihre (konkrete) Klärungsfähigkeit (Entscheidungserheblichkeit) sowie die über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung der von
ihm angestrebten Entscheidung (sog. Breitenwirkung) darlegen.
4. Zur Darlegung der Klärungsbedürftigkeit einer Rechtsfrage muss die Beschwerdebegründung substantiierte Ausführungen dazu
enthalten, dass die aufgeworfene Rechtsfrage nicht geklärt ist; dazu genügt es nicht darzulegen, dass über die Frage höchstrichterlich
noch nicht entschieden wurde; vielmehr sind Darlegungen dazu erforderlich, ob die Beantwortung der Rechtsfrage nicht bereits
unabhängig davon außer Zweifel steht.
5. Die abstrakte Klärungsbedürftigkeit setzt darüber hinaus voraus, dass sich die Frage nicht nur im konkret zu entscheidenden
Fall stellt, sondern ihr eine allgemeine Bedeutung über den Einzelfall hinaus zukommt.
Gründe:
I
Das Hessische LSG hat mit Beschluss vom 29.3.2017 einen Anspruch der Klägerin auf zusätzliche Betreuungs- und Entlastungsleistungen
nach dem
SGB XI verneint, welche diese am 17.2.2015 bei der Beklagten beantragt hatte. Bei der Klägerin besteht nach einem psychiatrischen
Gutachten vom 15.4.2015 der Verdacht auf eine posttraumatische Belastungsstörung (ICD-10 F43) und eine ängstlich-dependente
Persönlichkeitsstörung (ICD-10 F60.7) ohne wesentliche Beeinträchtigung der Willensbildung und moderater Beeinträchtigung
der Fähigkeit, nach gewonnener Einsicht zu handeln. Nach einem amtsärztlichen Gutachten vom 26.6.2015 ist die Klägerin befristet
erwerbsgemindert. Im Verwaltungsverfahren der Beklagten fanden zwei Begutachtungen durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung
in Hessen (MDK) statt. Dabei wurde lediglich ein punktueller und situationsabhängiger, jedoch kein regelmäßiger und auf Dauer
angelegter Beaufsichtigungs- und Betreuungsbedarf, keine Pflegebedürftigkeit und keine erhebliche Einschränkung der Alltagskompetenz
festgestellt. Das SG hat ein Gutachten der freien zertifizierten Pflegesachverständigen S E vom 2.5.2016 nach Begutachtung im häuslichen Umfeld
eingeholt. Auch danach ist die Alltagskompetenz der Klägerin nicht auf Dauer erheblich eingeschränkt, und sie benötigt keine
Hilfe bei der Grundpflege oder den hauswirtschaftlichen Tätigkeiten. Das Berufungsgericht stützt sich zur Begründung seiner
ablehnenden Entscheidung im Wesentlichen auf dieses Gutachten.
Gegen die Nichtzulassung der Revision im Beschluss des LSG hat die Klägerin Beschwerde beim BSG eingelegt. Sie beruft sich auf die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§
160 Abs
2 Nr
1 SGG).
II
Die Nichtzulassungsbeschwerde ist unzulässig, weil die Klägerin den geltend gemachten Zulassungsgrund der grundsätzlichen
Bedeutung nicht formgerecht aufgezeigt hat (§
160a Abs
2 S 3
SGG). Die Verwerfung der unzulässigen Beschwerde erfolgt gemäß §
160a Abs
4 S 1 Halbs 2 iVm §
169 S 2 und 3
SGG durch Beschluss ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter.
Grundsätzliche Bedeutung hat eine Rechtssache iS des §
160 Abs
2 Nr
1 SGG nur dann, wenn sie eine Rechtsfrage aufwirft, die - über den Einzelfall hinaus - aus Gründen der Rechtseinheit oder Fortbildung
des Rechts einer Klärung durch das Revisionsgericht bedürftig und fähig ist. Der Beschwerdeführer muss anhand des anwendbaren
Rechts und unter Berücksichtigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung aufzeigen, welche Fragen sich stellen, dass diese
noch nicht geklärt sind, weshalb eine Klärung dieser Rechtsfragen aus Gründen der Rechtseinheit oder Fortbildung des Rechts
erforderlich ist und dass das angestrebte Revisionsverfahren eine solche Klärung erwarten lässt (vgl BSG SozR 1500 § 160 Nr 17 und § 160a Nr 7, 11, 13, 31, 39, 59, 65).
Um seiner Darlegungspflicht zu genügen, muss ein Beschwerdeführer mithin eine Rechtsfrage, ihre (abstrakte) Klärungsbedürftigkeit,
ihre (konkrete) Klärungsfähigkeit (Entscheidungserheblichkeit) sowie die über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung der von
ihm angestrebten Entscheidung (sog Breitenwirkung) darlegen (vgl BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 34 S 70 mwN).
Die Klägerin hält für grundsätzlich bedeutsam:
"inwiefern eine Pflegefachkraft eine erhebliche Einschränkung der Alltagskompetenz i.S.d. §
45a Abs.
2 Satz 1 Nr.
1 bis Nr.
13 SGB XI bei psychisch kranken und traumatisierten Menschen beurteilen und feststellen kann."
und
"ob bezüglich des Betreuungsbedarf nicht die Begutachtung durch einen Psychiater zu erfolgen hat, der aufgrund seiner Qualifikation
hinter die Fassade eines Patienten schauen kann, welcher sich aufgrund seiner Traumatisierung einen Hilfe- und Betreuungsbedarf
von sich aus nicht zugeben will und dieser Bedarf von nicht hinreichend qualifizierten Pflegegutachtern auch nicht erkannt
werden kann."
Zur Darlegung der Klärungsbedürftigkeit einer Rechtsfrage muss die Beschwerdebegründung substantiierte Ausführungen dazu enthalten,
dass die aufgeworfene Rechtsfrage nicht geklärt ist. Dazu genügt es nicht darzulegen, dass über die Frage höchstrichterlich
noch nicht entschieden wurde; vielmehr sind Darlegungen dazu erforderlich, ob die Beantwortung der Rechtsfrage nicht bereits
unabhängig davon außer Zweifel steht (vgl Leitherer in Meyer/Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt,
SGG, 12. Aufl 2017, §
160a RdNr 14c; §
160 RdNr 8a mwN). Die abstrakte Klärungsbedürftigkeit setzt darüber hinaus voraus, dass sich die Frage nicht nur im konkret zu
entscheidenden Fall stellt, sondern ihr eine allgemeine Bedeutung über den Einzelfall hinaus zukommt (vgl Leitherer in Meyer/Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt,
aaO, § 160 RdNr 7a mwN).
Die Klägerin legt mit ausführlicher Begründung dar, warum sie der Auffassung ist, dass Pflegefachkräfte nach ihrem Berufsbild
und ihrer Ausbildung nicht hinreichend qualifiziert seien, psychische Erkrankungen zu beurteilen und bei psychisch kranken
und traumatisierten Menschen Einschränkungen der Alltagskompetenz und das Erfüllen der Voraussetzungen der Pflegestufe 0 festzustellen.
Die einzelnen, für die Feststellung der Einschränkung der Alltagskompetenz aufgestellten Kriterien könnten vielmehr nur von
ausgebildeten psychologischen und psychotherapeutischen Fachkräften analysiert und richtig eingeordnet werden. Gleiches gelte
für die Frage, ob eine Auffälligkeit ursächlich für eine psychische Erkrankung sei.
Diese Ausführungen werden den gesetzlichen Anforderungen an eine Nichtzulassungsbeschwerde nach §
160a Abs
2 S 1 und 3
SGG nicht gerecht, da die abstrakte Klärungsbedürftigkeit der Fragen nicht hinreichend dargelegt wird. Denn die Ausführungen
lassen insbesondere eine Auseinandersetzung mit den einschlägigen Rechtsnormen sowie ggf mit der dazu bisher ergangenen Rechtsprechung
vermissen. So fehlt beispielsweise jegliche Auseinandersetzung mit §
18 Abs
1 S 1 iVm §
18 Abs
7 SGB XI. Danach beauftragen die Pflegekassen den MDK oder andere unabhängige Gutachter mit der Prüfung, ob die Voraussetzungen der
Pflegebedürftigkeit erfüllt sind und welche Stufe der Pflegebedürftigkeit (in der bis zum 31.12.2016 geltenden Fassung) bzw
welcher Pflegegrad (in der ab 1.1.2017 geltenden Fassung der Vorschrift) vorliegt. Nach §
18 Abs
7 SGB XI werden die Aufgaben des MDK durch Ärzte in enger Zusammenarbeit mit Pflegefachkräften und anderen geeigneten Fachkräften
wahrgenommen. Die Formulierung "andere geeignete Fachkräfte" legt nahe, dass der Gesetzgeber - jedenfalls für das Verwaltungsverfahren
- Pflegefachkräfte grundsätzlich als geeignete Gutachter ansieht. Für das gerichtliche Verfahren verweist §
118 Abs
1 S 1
SGG zur Durchführung der Beweisaufnahme ua auf die Vorschriften des Beweises durch Sachverständige nach §§
402 ff
ZPO. Nach §
404 Abs
1 S 1
ZPO erfolgt die Auswahl der zuzuziehenden Sachverständigen durch das Prozessgericht. Danach ist es naheliegend, dass die Frage
nach der fachlichen Eignung der zugezogenen Sachverständigen grundsätzlich im Ermessen des Gerichts steht.
Vor diesem Hintergrund bedarf es einer Auseinandersetzung mit der Frage, ob und ggf inwieweit die aufgeworfenen Fragen schon
durch das Gesetz selbst geregelt sind. Es fehlt auch eine Auseinandersetzung mit der Frage, ob und ggf inwieweit der Frage
der fachlichen Eignung eines gerichtlich bestellten Gutachters überhaupt eine über den Einzelfall hinausgehende grundsätzliche
Bedeutung zukommen kann oder ob dies allein nach den konkreten Gegebenheiten des Einzelfalls durch die Ausübung von Ermessen
seitens des Gerichts zu beurteilen ist. Die Darlegung einer grundsätzlichen Bedeutung erfordert daher zumindest eine Auseinandersetzung
mit diesen gesetzlichen Regelungen.
Hinzu kommt, dass es der Klägerin im gerichtlichen Verfahren freigestanden hätte, einen Beweisantrag mit dem Inhalt der Einholung
eines Sachverständigengutachtens durch eine ausgebildete psychologische oder psychotherapeutische Fachkraft zu stellen. Sie
legt allerdings nicht dar, einen solchen Beweisantrag oder einen Beweisantrag nach §
109 SGG gestellt zu haben. §
109 Abs
1 S 1
SGG bestimmt, dass auf Antrag des Versicherten, des behinderten Menschen, des Versorgungsberechtigten oder Hinterbliebenen ein
bestimmter Arzt gutachtlich gehört werden muss. Die Klägerin macht auch keine Verfahrensfehler geltend.
Schließlich mangelt es auch an der hinreichenden Darlegung der Entscheidungserheblichkeit. Denn die beiden vom MDK erstellten
Gutachten sind zu dem gleichen Ergebnis gekommen wie die gerichtlich bestellte Gutachterin. Der MDK nimmt seine Aufgaben nach
§
18 Abs
7 S 1
SGB XI durch Ärzte in enger Zusammenarbeit mit Pflegefachkräften wahr. Da sich die berufungsgerichtliche Entscheidung auch mit den
MDK-Gutachten begründen lässt, bleibt die Entscheidungserheblichkeit der aufgeworfenen Rechtsfragen unklar. Es hätte zumindest
Ausführungen dazu bedurft, welche Feststellungen in den bisher vorliegenden Gutachten nicht überzeugen oder nicht nachvollziehbar
sind und welche Aussagen im Gegensatz dazu bei einer Begutachtung durch eine psychologische oder psychotherapeutische Fachkraft
zu erwarten gewesen wären.
Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (§
160a Abs
4 S 2
SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung von §
193 SGG.