Kein Anspruch auf Feststellung der Voraussetzungen für das Merkzeichen aG. im Schwerbehindertenrecht bei Parkinson-Erkrankung
Gründe:
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob bei dem Kläger die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "außergewöhnliche
Gehbehinderung" (aG) gegeben sind.
Bei dem 1954 geborenen Kläger war zuletzt ein Grad der Behinderung (GdB) von 80 (Funktionsbeeinträchtigungen Parkinson'sche
Krankheit und Bluthochdruck) sowie das Vorliegen der Voraussetzungen der Merkzeichen "erhebliche Gehbehinderung" (G) und "Notwendigkeit
ständiger Begleitung" (B) festgestellt (Bescheid vom 30.5.1997). Weitere Anträge auf Feststellung eines höheren GdB und insbesondere
der Voraussetzungen des Merkzeichens aG waren erfolglos. Auf den Neufeststellungsantrag des Klägers vom 25.3.2010 stellte
der Beklagte auf der Grundlage eines Pflegegutachtens des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung N. vom Juni 2009
antragsgemäß einen GdB von 100 und das Vorliegen der Voraussetzungen des Merkzeichens "Hilflosigkeit" (H) fest, lehnte aber
die Feststellung der Voraussetzungen der Merkzeichen aG und "Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht" (RF) ab (Bescheid
vom 3.5.2010; Widerspruchsbescheid vom 3.8.2010).
Das SG hat der allein noch auf Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens aG gerichteten Klage stattgegeben
und zur Begründung ua ausgeführt, nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme könne sich der Kläger in den sog off-Phasen nur mit
großer Anstrengung fortbewegen. Der gehörte Sachverständige habe nachvollziehbar ausgeführt, dass der Kläger an 70 vH des
Tages motorisch hochgradig eingeschränkt sei. Das einschränkende Merkmal einer dauerhaften Bewegungseinschränkung sei dennoch
erfüllt, weil dies nur dazu diene, vorübergehende Erkrankungen wie Frakturen und unregelmäßig auftretende Anfallsleiden wie
Epilepsie von den gesundheitlichen Voraussetzungen für aG auszuschließen (Urteil vom 20.6.2012). Auf die Berufung des Beklagten
hat das LSG die Klage abgewiesen und zur Begründung seinerseits ua ausgeführt, die beim Kläger bestehende Parkinson-Krankheit
sei in ihren funktionellen Auswirkungen auf das Gehvermögen dem ausdrücklich begünstigten Personenkreis (der Querschnittsgelähmten
ua) nicht gleichzustellen. Dahingestellt sei, ob eine Vergleichbarkeit in Zuständen der nahezu vollständigen Bewegungsunfähigkeit
bestehe. Jedenfalls sei auch unter der Voraussetzung der vom Sachverständigen angenommenen Einschränkungen in 70 vH der Zeit
in Parallelwertung zu Anfallsleiden die Voraussetzung der Dauerhaftigkeit nicht gegeben (Urteil vom 26.3.2014).
Mit seiner vom erkennenden Senat zugelassenen Revision rügt der Kläger eine Verletzung materiellen Rechts (§
69 Abs
4 SGB IX). Das LSG habe seine Erkrankung einem Anfallsleiden gleichgestellt, ohne deren Besonderheiten zu berücksichtigen. Die die
Gehstörung bedingenden "off-Phasen" mit akuter Sturzgefahr, Selbst- und Fremdgefährdung träten so häufig auf, dass sie sich
in der Summe praktisch wie eine dauernde Gehstörung auswirkten.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 26. März 2014 aufzuheben und die Berufung des Beklagten gegen
das Urteil des Sozialgerichts Braunschweig vom 20. Juni 2012 zurückzuweisen.
Der Beklagte beantragt,
die Revision des Klägers zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend und führt ergänzend an, die Revision wende sich vornehmlich gegen die Beweiswürdigung
des LSG, welche nicht revisibel sei.
II
Die Revision des Klägers ist zulässig, aber nicht begründet (§
170 Abs
1 S 1
SGG). Zu Recht hat das LSG der Berufung des Beklagten stattgegeben. Die Klage ist zwar zulässig (dazu 1.), jedoch unbegründet
(dazu 2.).
1. Die Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§
54 Abs
1 S 1
SGG; zur statthaften Klageart vgl zuletzt BSG Urteil vom 11.8.2015 - B 9 SB 2/14 R - RdNr 7 mwN, zur Veröffentlichung vorgesehen in SozR 4-3250 § 69 Nr 19) ist zulässig. Gegenstand der Klage ist der Bescheid
vom 3.5.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 3.8.2010, soweit der Beklagte im Rahmen eines weitergehenden Neufeststellungsverfahrens
die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens aG abgelehnt hat.
2. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs aG. Rechtsgrundlage
für die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen aG sind §
69 Abs
1 und 4
SGB IX idF des Gesetzes vom 23.4.2004 (BGBl I 606) und die hierzu ergangenen straßenverkehrsrechtlichen und versorgungsmedizinischen
Vorschriften (dazu a bis e), die auch Erkrankungen aus dem neurologischen Formenkreis erfassen (dazu f), wenn wegen der Schwere
des Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder großer Anstrengung eine Fortbewegung außerhalb des Kraftfahrzeugs möglich ist
(dazu g). Daran fehlt es beim Kläger (dazu h). Auf eine wesentliche Änderung der tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse
iS des § 48 SGB X gegenüber der letzten Versagung des Merkzeichens aG kommt es demgegenüber nicht an. Ein Bescheid mit versagenden Verfügungssätzen
ist insoweit kein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung iS des § 48 SGB X (vgl BSGE 60, 287 = SozR 1300 § 48 Nr 29; BSG Beschluss vom 10.5.1994 - 9 BV 140/93).
a) Nach §
69 Abs
1 und 4
SGB IX stellen die zuständigen Behörden neben einer Behinderung auch weitere gesundheitliche Merkmale fest, die Voraussetzung für
die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen für schwerbehinderte Menschen sind (siehe zur Zuständigkeit der Versorgungsverwaltung
BSG Urteil vom 6.10.1981 - 9 RVs 4/81 - Juris RdNr 22 ff). Zu diesen Merkmalen gehört die außergewöhnliche Gehbehinderung iS des §
6 Abs
1 Nr
14 Straßenverkehrsgesetz idF vom 3.2.2009 (BGBl I 150) oder entsprechender straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften, für die in den Schwerbehindertenausweis
das Merkzeichen aG einzutragen ist (§ 3 Abs 1 Nr 1 Schwerbehindertenausweisverordnung). Diese Feststellung zieht straßenverkehrsrechtlich die Gewährung von Parkerleichterungen iS von § 46 Abs 1 S 1 Nr 11 Straßenverkehrsordnung (StVO) nach sich, insbesondere die Nutzung von gesondert ausgewiesenen "Behindertenparkplätzen" (vgl näher BSG Urteil vom 11.8.2015 - B 9 SB 2/14 R - RdNr 9 mwN, zur Veröffentlichung vorgesehen in SozR 4-3250 § 69 Nr 19).
b) Nähere Einzelheiten für die Feststellung der außergewöhnlichen Gehbehinderung regelt Abschnitt II Nr 1 zu § 46 Abs 1 Nr 11 Allgemeine Verwaltungsvorschrift zur StVO (VwV-StVO) in der ab dem 1.9.2009 gültigen Fassung vom 17.7.2009 (BAnz 2009, Beilage Nr 110a vom 29.7.2009), die als allgemeine Verwaltungsvorschrift
der Bundesregierung nach Art
84 Abs
2 GG wirksam erlassen worden ist (vgl BSG Urteil vom 10.12.2002 - B 9 SB 7/01 R - BSGE 90, 180, 182 = SozR 3-3250 § 69 Nr 1 S 3). Als schwerbehinderte Menschen mit außergewöhnlicher Gehbehinderung sind nach dessen RdNr
129 solche Personen anzusehen, die sich wegen der Schwere ihres Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer
Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeugs bewegen können. Hierzu zählen nach RdNr 130 Querschnittsgelähmte, Doppeloberschenkelamputierte,
Doppelunterschenkelamputierte, Hüftexartikulierte und einseitig Oberschenkelamputierte, die dauernd außerstande sind, ein
Kunstbein zu tragen, oder nur eine Beckenkorbprothese tragen können oder zugleich unterschenkel- oder armamputiert sind (sog
Regelbeispiele), sowie andere Schwerbehinderte, die nach versorgungsärztlicher Feststellung, auch aufgrund von Erkrankungen,
dem vorstehenden Personenkreis gleichzustellen sind (sog Gleichstellungsfälle; vgl dazu BSG Urteil vom 5.7.2007 - B 9/9a SB 5/06 R - Juris RdNr 13 mwN). Der Kläger erfüllt nicht die Voraussetzungen eines Regelbeispiels,
bei deren Vorliegen vermutet wird, dass sich die dort aufgeführten schwerbehinderten Menschen wegen der Schwere ihres Leidens
dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeugs bewegen können (vgl BSG Urteil vom 11.8.2015 - B 9 SB 2/14 R - RdNr 15 mwN, zur Veröffentlichung vorgesehen in SozR 4-3250 § 69 Nr 19). Der Kläger ist nach den verbindlichen Feststellungen
des LSG auch kein Gleichstellungsfall, weil die Parkinson-Krankheit zwar eine geeignete Erkrankung darstellt, diese nach den
nicht mit zulässigen Verfahrensrügen angegriffenen Feststellungen des LSG hier aber nicht dauernd mit der gebotenen Einschränkung
der Gehfähigkeit einhergeht (dazu sogleich unter f bis h).
c) Die weitere Präzisierung des vorgenannten Personenkreises schwerbehinderter Menschen ergibt sich aus dem in §
69 Abs
1 S 5
SGB IX idF bis zum 14.1.2015 (aF) Bezug genommenen versorgungsrechtlichen Bewertungssystem, dessen Kern ursprünglich die aus den
Erfahrungen der Versorgungsverwaltung und den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft gewonnenen "Anhaltspunkte für die
ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht" waren. Diese sind seit 1.1.2009
abgelöst durch die auf der Grundlage des § 30 Abs 17 (bzw Abs 16) Bundesversorgungsgesetz erlassenen Versorgungsmedizin-Verordnung vom 10.12.2008 (VersMedV, BGBl I 2412). Zwischenzeitlichen Bedenken an der Ermächtigung des Verordnungsgebers insbesondere zum Erlass von Vorgaben
für die Beurteilung von Nachteilsausgleichen (vgl Dau, jurisPR-SozR 24/2009, Anm 4) hat der Gesetzgeber mit dem Gesetz vom
7.1.2015 (BGBl II 15) durch Schaffung einer nunmehr eigenständig in §
70 Abs
2 SGB IX angesiedelten Ermächtigungsgrundlage Rechnung getragen. Für eine Übergangszeit bis zum Erlass einer neuen Rechtsverordnung
verbleibt es indes bei der bisherigen Rechtslage (vgl §
159 Abs
7 SGB IX; hierzu BT-Drucks 18/2953 und 18/3190 S 5).
d) Die Grundsätze für die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs aG werden danach in den
"Versorgungsmedizinischen Grundsätzen" der Anlage zu § 2 VersMedV (AnlVersMedV) verbindlich wie folgt ergänzt: Die Annahme einer außergewöhnlichen Gehbehinderung darf nur auf eine Einschränkung
der Gehfähigkeit und nicht auf Bewegungsbehinderungen anderer Art bezogen werden. Bei der Frage der Gleichstellung von behinderten
Menschen mit Schäden an den unteren Gliedmaßen ist zu beachten, dass das Gehvermögen auf das schwerste eingeschränkt sein
muss und deshalb als Vergleichsmaßstab am ehesten das Gehvermögen eines Doppeloberschenkelamputierten heranzuziehen ist. Dies
gilt auch, wenn Gehbehinderte einen Rollstuhl benutzen: Es genügt nicht, dass ein solcher verordnet wurde; die Betroffenen
müssen vielmehr ständig auf den Rollstuhl angewiesen sein, weil sie sich sonst nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung
fortbewegen können. Als Erkrankungen der inneren Organe, die eine solche Gleichstellung rechtfertigen, sind beispielsweise
Herzschäden mit schweren Dekompensationserscheinungen oder Ruheinsuffizienz sowie Krankheiten der Atmungsorgane mit Einschränkung
der Lungenfunktion schweren Grades anzusehen (Teil D Nr 3 Buchst c AnlVersMedV; zur Verbindlichkeit der AnlVersMedV vgl BSG Urteil vom 11.8.2015 - B 9 SB 2/14 R - RdNr 12 mwN, zur Veröffentlichung vorgesehen in SozR 4-3250 § 69 Nr 19).
e) Das BSG hat die Regelung über die Anerkennung der Voraussetzungen für das Merkzeichen aG ihrem Zweck entsprechend eng ausgelegt und
dies zuletzt in seiner Entscheidung vom 11.8.2015 (B 9 SB 2/14 R - RdNr 13 ff, zur Veröffentlichung vorgesehen in SozR 4-3250 § 69 Nr 19) erneut bestätigt. Daran hält der erkennende Senat
weiterhin fest. Das Merkzeichen aG soll lediglich eine stark eingeschränkte Gehfähigkeit durch Verkürzung der Wege mithilfe
der gewährten Parkerleichterungen ausgleichen (BSG SozR 3870 § 3 Nr 18 S 58). Wegen der begrenzten städtebaulichen Möglichkeiten, Raum für Parkerleichterungen zu schaffen, sind hohe Anforderungen
zu stellen, um den Kreis der Begünstigten klein zu halten (BSG Urteil vom 29.3.2007 - B 9a SB 1/06 R - Juris RdNr 17; BSGE 82, 37, 39 = SozR 3-3870 § 4 Nr 23 S 91). Dies gilt erst recht, weil nach Abschnitt I Nr 1 zu § 46 Abs 1 Nr 11 VwV-StVO noch weitere umfangreiche Parkerleichterungen, wie zB die Ausnahme vom eingeschränkten Haltverbot, gewährt werden und sich
der Kreis der berechtigten Personengruppen über das Merkzeichen aG hinaus zunehmend auf andere Personengruppen erweitert.
Zum berechtigten Personenkreis zählen danach etwa ua schwerbehinderte Menschen mit den Merkzeichen G und B und einem GdB von
wenigstens 80 allein für Funktionsstörungen an den unteren Gliedmaßen (und der Lendenwirbelsäule, soweit sich diese auf das
Gehvermögen auswirken) oder schwerbehinderte Menschen mit den Merkzeichen G und B und einem GdB von wenigstens 70 allein für
Funktionsstörungen an den unteren Gliedmaßen (und der Lendenwirbelsäule, soweit sich diese auf das Gehvermögen auswirken)
und gleichzeitig einem GdB von wenigstens 50 für Funktionsstörungen des Herzens oder der Atmungsorgane (siehe unter Abschnitt
II Nr 2 und 3 Buchst a bis f VwV-StVO; zB BR-Drucks vom 29.8.2008, 636/08 zu A und B).
f) Die hier allein in Betracht zu ziehenden Gleichstellungsfälle "auch aufgrund von Erkrankungen" erfassen danach die Parkinson'sche
Krankheit, auch wenn die AnlVersMedV ausdrücklich nur Herzerkrankungen und Krankheiten der Atmungsorgane nennt und die Ergänzung
des gleichzustellenden Personenkreises aufgrund von Erkrankungen klarstellen soll, dass schwerbehinderte Menschen mit "inneren
Leiden" in den Genuss des Merkzeichens aG kommen können (BR-Drucks 400/76 S 4; BR-Drucks 400/1/76 S 5). Damit ist indes keine
Festlegung auf Erkrankungen aus dem internistischen Formenkreis unter Ausschluss neurologischer Erkrankungen verbunden, sondern
lediglich eine Zusammenfassung der Gesundheitsstörungen beabsichtigt, die nicht in erster Linie dem orthopädischen Fachgebiet
zuzuordnen sind. Verdeutlicht werden soll, dass bei der Gleichstellung nicht auf die Art, sondern auf die Auswirkungen der
bestehenden Behinderungen abzustellen ist (BR-Drucks 400/76 S 4; BR-Drucks 400/1/76 S 4). Auch neurologische Erkrankungen
können die gesundheitlichen Voraussetzungen für Merkzeichen aG begründen. Hiervon ist das BSG bisher stets ausgegangen (BSG Urteil vom 29.1.1992 - 9a RVs 4/90; BSG Urteil vom 13.12.1994 - 9 RVs 3/94 - SozR 3-3870 §
4 Nr
11). Der umfassende Behindertenbegriff iS des §
2 Abs
1 S 1
SGB IX gebietet im Lichte des verfassungsrechtlichen als auch des unmittelbar anwendbaren UN-konventionsrechtlichen Diskriminierungsverbots
(Art
3 Abs
3 S 2
GG; Art
5 Abs
2 UN-Behindertenrechtskonvention, hierzu BSGE 110, 194 = SozR 4-1100 Art 3 Nr 69 RdNr 31) die Einbeziehung aller körperlichen, geistigen und seelischen Beeinträchtigungen. Hiervon
an dieser Stelle zukünftig abzusehen, besteht keine Veranlassung.
Eine besondere rechtliche Betrachtungsweise ist auch bei Parkinson nicht durch entsprechende sozialmedizinische Erkenntnisse
veranlasst. Der Arbeitsentwurf des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales eines Bundesteilhabegesetzes vom 18.12.2015
listet deshalb in der vorgesehenen Neufassung des §
146 Abs
3 SGB IX nunmehr als Voraussetzung für das Merkzeichen aG die verschiedenartigsten Gesundheitsstörungen (insbesondere Störungen bewegungsbezogener,
neuromuskulärer oder mentaler Funktionen, Störungen des kardiovaskulären oder Atmungssystems) ausdrücklich auf (S 81). Die
angestrebte Gesamtüberarbeitung der VersMedV soll zudem mit einer weiteren Konkretisierung insbesondere für zentralnervöse, peripher-neurologische oder neuromuskulär
bedingte Einschränkungen des Gehvermögens (wie bei Multiple Sklerose, Amyotrophe Lateralsklerose [ALS], M. Parkinson) einhergehen.
Die gesundheitlichen Voraussetzungen für Merkzeichen aG können danach beispielsweise erfüllt sein bei zentralnervösen, peripher-neurologischen
oder neuromuskulär bedingten Gangstörungen mit der Unfähigkeit, ohne Unterstützung zu gehen oder wenn eine dauerhafte Rollstuhlbenutzung
erforderlich ist (insbesondere bei Querschnittslähmung, Multipler Sklerose, ALS, Parkinson-Erkrankung, Para- oder Tetraspastik
in schwerer Ausprägung). In der Begründung zum Arbeitsentwurf heißt es hierzu, zwar lasse es der Wortlaut der Regelung bereits
heute zu, auch solche Gesundheitsstörungen in die Begutachtung einzubeziehen. Der derzeitige Text der VwV zur StVO lege die Einbindung aller gesundheitlichen Störungen für die begutachtenden Ärztinnen und Ärzte aber nicht nahe, weil für
die Beeinträchtigung des Gehvermögens zahlreiche Beispiele aus dem orthopädischen Fachgebiet genannt sind, während für Gesundheitsstörungen
aus anderen medizinischen Fachgebieten Beispiele vollständig fehlen (S 74 ff der Begründung). Sozialmedizinische Erkenntnisse,
die eine Ausblendung oder differenzierte Betrachtung einzelner neurologischer Erkrankungen und insbesondere der Parkinson-Krankheit
bei den gesundheitlichen Voraussetzungen für Merkzeichen aG erfordern könnten, sind danach im Zuge des Reformvorhabens bisher
nicht zu Tage getreten. Die aufgezeigte Reform bestätigt insoweit die bisherige Rechtsprechung trotz der angestrebten Neuerungen
im Zuge des biopsychosozialen Behindertenbegriffs und des Wegfalls der bisherigen Regelbeispiele (siehe dazu unter II.2.b).
g) Eine Gleichstellung aufgrund von Parkinson ist demnach vorzunehmen, wenn sich der schwerbehinderte Mensch wegen der Schwere
seines Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb seines Kraftfahrzeugs bewegen kann
(Abschnitt II Nr 1 zu § 46 Abs 1 Nr 11 VwV-StVO RdNr 129). Eine Prüfung dieser allgemeinen Voraussetzungen der VwV zur StVO ist nur bei den Regelbeispielen entbehrlich, weil dort die außergewöhnliche Gehbehinderung unter den dort genannten einschränkenden
Vorgaben vermutet wird. Für Gleichstellungsfälle hat der erkennende Senat hingegen zuletzt in seiner Entscheidung vom 11.8.2015
(aaO) erneut deutlich gemacht, dass diese sich strikt an den vorgenannten allgemeinen Vorgaben messen lassen müssen, weil
die Regelbeispiele wegen ihrer Inhomogenität als Vergleichsmaßstab Schwierigkeiten bereiten (zur Aufgabe der Regelbeispiele
in der beabsichtigten Neuregelung des §
146 Abs
3 SGB IX vgl Arbeitsentwurf, aaO, S 81, Begründung S 76). Nicht zuletzt deshalb kann die nahezu fortdauernde Fortbewegungsunfähigkeit
eines Querschnittsgelähmten und Gliedmaßenamputierten ohne prothetische Versorgung nicht uneingeschränkt als Vergleichsmaßstab
der Gleichstellung gefordert werden, mithin nicht erst ein vollständiger Verlust der Gehfähigkeit den Zugang zu den gesundheitlichen
Voraussetzungen für Merkzeichen aG eröffnen. Die Gehfähigkeit muss nur so stark eingeschränkt sein, dass es dem Betroffenen
unzumutbar ist, längere Wege zu Fuß zurückzulegen (BSG Urteil vom 10.12.2002 - B 9 SB 7/01 R - BSGE 90, 180 = SozR 3-3250 § 69 Nr 1).
Wie der erkennende Senat wiederholt ausgeführt hat, lässt sich ein anspruchsausschließendes individuelles Restgehvermögen
darüber hinaus griffig, dh durch einfache, konkrete Messgrößen, weder quantifizieren noch qualifizieren. Die maßgebenden straßenverkehrsrechtlichen
Vorschriften stellen nicht darauf ab, über welche Wegstrecke ein schwerbehinderter Mensch sich außerhalb seines Kraftfahrzeugs
zumutbar noch bewegen kann, sondern darauf, unter welchen Bedingungen ihm dies nur noch möglich ist: nämlich nur mit fremder
Hilfe oder nur mit großer Anstrengung. Wer diese Voraussetzung - praktisch von den ersten Schritten außerhalb seines Kraftfahrzeugs
an - erfüllt, qualifiziert sich für den entsprechenden Nachteilsausgleich (insbesondere Parkerleichterungen) auch dann, wenn
er gezwungenermaßen auf diese Weise längere Wegstrecken zurücklegt. Dabei kann ua Art und Umfang schmerz- oder erschöpfungsbedingter
Pausen von Bedeutung sein. Denn schwerbehinderte Menschen, die in ihrer Gehfähigkeit in ungewöhnlich hohem Maße eingeschränkt
sind, müssen sich beim Gehen regelmäßig körperlich besonders anstrengen. Die für "aG" geforderte große körperliche Anstrengung
kann zB erst dann angenommen werden, wenn selbst bei einer Wegstreckenlimitierung von 30 Metern diese darauf beruht, dass
der Betroffene bereits nach dieser kurzen Strecke erschöpft ist und er neue Kräfte sammeln muss, bevor er weiter gehen kann
(BSG Urteil vom 10.12.2002 - B 9 SB 7/01 R - BSGE 90, 180 = SozR 3-3250 § 69 Nr 1; BSG Urteil vom 11.8.2015 - B 9 SB 2/14 R - RdNr 21, zur Veröffentlichung vorgesehen in SozR 4-3250 § 69 Nr 19).
Die Notwendigkeit der umfassenden Beurteilung des individuellen Restgehvermögens legt es nicht nahe, die zeitliche Dimension
der "Dauerhaftigkeit" in Gleichstellungsfällen ebenso starr zu handhaben wie bei einem einseitig Oberschenkelamputierten,
dem Nachteilsausgleich aG zuerkannt wird, wenn er dauernd im Sinne von ständig bzw immer außerstande ist, ein Kunstbein zu
tragen. Insoweit liegen die Dinge bei der Prüfung des individuellen Restgehvermögens nicht nur mit Blick auf den andersgearteten
Prüfmaßstab, sondern gerade auch wegen der fehlenden gesetzestechnischen Einbettung in eine Vermutungsregelung etwas anders
als bei dem Regelbeispiel des einseitig Oberschenkelamputierten, bei dem die Voraussetzungen für das Merkzeichen aG vermutet
werden, wenn er ausnahmslos außerstande ist, ein Kunstbein zu tragen (vgl BSG Urteil vom 11.8.2015 - B 9 SB 2/14 R - RdNr 16, 17 mwN, zur Veröffentlichung vorgesehen in SozR 4-3250 § 69 Nr 19; hierzu kritisch Loytved, jurisPR-SozR 1/2016,
Anm 5). Die Fortbewegung außerhalb des Kraftfahrzeugs "dauernd" nur mit großer Anstrengung setzt deshalb nicht ständig bzw
immer die geforderte Mühe voraus. Im Interesse der Gleichbehandlung (Art
3 Abs
1 GG) kann auch ein vom Wortsinn ebenfalls umfasstes immer wiederkehrendes und nicht nur vorübergehendes Auftreten der geforderten
Mühe ausreichen (vgl hierzu Loytved, jurisPR-SozR 1/2016, Anm 5 mwN), wenn sich dies im Rahmen der vorzunehmenden Gesamtwürdigung
praktisch wie eine ständig große Anstrengung der Fortbewegung außerhalb des Kraftfahrzeugs auswirkt.
Für neurologische Erkrankungen wie Anfallsleiden hat das BSG in der Vergangenheit allerdings darauf hingewiesen, dass die dauernde Gefahr des Eintretens einer außergewöhnlichen Gehunfähigkeit
infolge von Anfällen nicht dem dauernden Fortbestand der außergewöhnlichen Gehunfähigkeit gleichzusetzen ist und eine einer
hochgradigen Einschränkung der Herzleistung oder Lungenfunktion vergleichbare Beeinträchtigung erst bei einer gleichbleibenden
Häufigkeit von Anfällen erreicht wird, die "ständig" einen Rollstuhl erforderlich macht (BSG Urteil vom 29.1.1992 - 9a RVs 4/90 - Juris RdNr 13; BSG Urteil vom 13.12.1994 - 9 RVs 3/94 - SozR 3-3870 § 4 Nr 11; vgl zum "ständigen" Erfordernis eines Rollstuhls auch Teil D Nr 1 Buchst c S 3 AnlVersMedV). Hieran hält der erkennende
Senat nicht zuletzt angesichts des zwischenzeitlichen Arbeitsentwurfs vom 18.12.2015 und der beabsichtigten Neufassung des
§
146 Abs
3 S 2
SGB IX fest, die insoweit ua das Erfordernis eines Rollstuhls "dauerhaft auch für sehr kurze Entfernungen" bei zentralnervösen,
peripher-neurologischen oder neuromuskulär bedingten Gangstörungen in den Vordergrund rückt (aaO S 81; Begründung S 75). Mit
Blick darauf, dass im Arbeitsentwurf (aaO) abweichende neue Standards nicht erkennbar werden, ist derzeit für Parkinson-Erkrankungen
einschließlich der damit einhergehenden Dyskinesien in der Anflutungsphase des Dopamins sowie der Phasen der Minderbeweglichkeit
in der Mangelwirksamkeitsphase des Dopamins ein grundlegend anderer rechtlicher Ansatz als bei Anfallsleiden nicht geboten.
h) Nach den genannten Vorgaben ist der Kläger nicht dauernd nur mit großer Anstrengung zur Fortbewegung außerhalb seines Kraftfahrzeugs
imstande. Ob die erforderlichen großen körperlichen Anstrengungen bei der Fortbewegung außerhalb des Kraftfahrzeugs dauernd
vorliegen, ist Gegenstand tatrichterlicher Gesamtwürdigung aufgrund versorgungsärztlicher Feststellung, die sich auf alle
verfügbaren Beweismittel, wie Befundberichte der behandelnden Ärzte, Sachverständigengutachten oder einen dem Gericht persönlich
vermittelten Eindruck, stützen kann (BSG Urteil vom 10.12.2002 - B 9 SB 7/01 R - BSGE 90, 180 = SozR 3-3250 § 69 Nr 1; hieran anschließend BSG Urteil vom 29.3.2007 - B 9a SB 5/05 R - RdNr 15 ff). Hiervon ist das LSG ausgegangen und hat deshalb zu Recht den Ansatz
des SG verworfen, es gehe an dieser Stelle lediglich um den Ausschluss vorübergehender Erkrankungen (Frakturen oder unregelmäßig
auftretende Anfallsleiden wie Epilepsie). Im Ergebnis beanstandungsfrei ist das LSG stattdessen im Rahmen der gebotenen Gesamtwürdigung
zu der Überzeugung gelangt, dass sich der Kläger nicht dauernd nur mit großer Anstrengung außerhalb seines Kraftfahrzeugs
bewegen kann, selbst wenn zu seinen Gunsten die Feststellungen des Sachverständigen als zutreffend unterstellt würden, dass
er in insgesamt 70 vH der Zeit seiner Erkrankung hochgradig motorisch eingeschränkt ist.
Mit noch hinreichender Deutlichkeit hat das LSG Bezug genommen auf die Feststellungen des Sachverständigen, dass es beim Kläger
etwa alle 2 bis 2,5 Stunden zum Erstarren der Bewegungen komme mit einer durchschnittlich einmal täglichen Fallneigung, er
tageweise mäßige Schwierigkeiten beim Gehen habe und tageweise schwere Gehstörungen auftreten mit dann nötiger Hilfe und Begleitung.
Durchgreifende Verfahrensrügen hat der Kläger hiergegen nicht erhoben (§
163 SGG). Insbesondere hat er keine Tatsachen bezeichnet, die den Mangel einer unterlassenen Aufklärung ergeben (§
103 SGG; vgl BSGE 111, 168 = SozR 4-2500 §
31 Nr 22, RdNr 28). Auch fehlt Vortrag, der eine Überschreitung der Grenzen der - im Revisionsverfahren entgegen der Rechtsauffassung
des Beklagten angreifbaren (vgl BSG Urteil vom 14.12.2011 - B 5 R 2/11 R - Juris RdNr
20) - Beweiswürdigung (§
128 Abs
1 S 1
SGG) aufzeigen könnte (§
164 Abs
2 S 3
SGG). Das LSG musste nicht die rechtlichen Schlussfolgerungen des medizinischen Sachverständigen übernehmen, die Voraussetzungen
für Merkzeichen aG seien gegeben. Das Sachverständigengutachten hat die Aufgabe, Tatsachen zu klären, nicht Rechtsfragen zu
entscheiden (vgl BSG SozR 4-3250 § 69 Nr 16 RdNr 28; BSG Beschluss vom 27.5.2015 - B 9 SB 66/14 B - Juris RdNr 9; Aussprung in Roos/Wahrendorf,
SGG, 2014, §
128 RdNr 65 mwN). Richtig ist allerdings, dass in der Regel einzelne Kriterien - etwa starre prozentuale Zeitwerte - keine sachgerechte
Prüfung des individuellen Restgehvermögens verbürgen (vgl BSG Urteil vom 11.8.2015 - B 9 SB 2/14 R - RdNr 21, 22 mwN, zur Veröffentlichung vorgesehen in SozR 4-3250 § 69 Nr 19). Hierauf hat sich das LSG indessen auch nicht
allein beschränkt, sondern vornehmlich eine Parallele zu Anfallsleiden gezogen bei fehlenden Anhaltspunkten für das Erfordernis
einer Rollstuhlbenutzung. Soweit der Kläger beanstandet, das LSG habe weder die Besonderheiten der Parkinson-Erkrankung mit
ihren nicht nur wochen- oder monatsweise, sondern täglich auftretenden Gehstörungen gewürdigt noch die Begünstigung von "off-Phasen"
durch Stress beim Verlassen der häuslichen Umgebung berücksichtigt, zeigt er nicht auf, inwiefern sich durch diesen Vortrag
die zu seinen Gunsten unterstellte Annahme einer hochgradigen Bewegungseinschränkung in 70 vH der Zeit und die Parallele zu
den Anfallsleiden zu seinen Ungunsten als Verstoß gegen das Verfahrensrecht erweist, der revisionsrechtlich berücksichtigungsfähig
wäre. Fest steht deshalb, dass der Kläger nach den verbindlichen Feststellungen (§
163 SGG) und der Beweiswürdigung durch das LSG trotz der angeführten einmal täglichen Stürze zu einem noch nennenswerten Teil des
Tages nicht unter hochgradigen motorischen Einschränkungen leidet oder auf den Rollstuhl angewiesen wäre.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG.