Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II im Verfahren des einstweiligen Rechtschutzes; Anforderungen an den Prüfungsmaßstab
Gründe
I.
Zwischen den Beteiligten ist die Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) ab dem 01.05.2015 streitig.
Die 1975 geborene Antragstellerin, Beschwerdeführerin und Beschwerdegegnerin zu 1 (Bf zu 1) besitzt die US-amerikanische Staatsangehörigkeit.
Ihr 2000 geborener Sohn, der Antragsteller, Beschwerdeführer und Beschwerdegegner zu 2 (Bf zu 2) besitzt sowohl die US-amerikanische
Staatsangehörigkeit als auch die Staatsangehörigkeit des Vereinigten Königreichs von Großbritannien. Sie lebten bis Februar
2015 in London. Nach eigenen Angaben reisten die Bf am 23.02.2015 nach Deutschland ein und wohnten zunächst in A-Stadt bei
einem Freund. Mitte Mai 2015 wurden sie von der Landeshauptstadt A-Stadt in einer Notunterkunft untergebracht, die sie, nach
Aktenlage, Anfang Juni wieder verlassen mussten. Zwischenzeitlich lebten sie in verschiedenen Pensionen, zuletzt gab die Bf
zu 1) an, dass sie sich in einer Notunterkunft in P. befinde.
Am 27.05.2015 beantragten die Bf Leistungen nach dem SGB II beim Antragsgegner, Beschwerdeführer und Beschwerdegegner (Bg). Dieser Antrag wurde mit Bescheid vom 29.05.2015 abgelehnt,
da die Bf vom Leistungsbezug nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II ausgeschlossen seien. Mit nicht unterschriebenem Telefax vom 29.05.2015 legte die Bf zu 1) Widerspruch gegen diesen Bescheid
ein.
Ebenfalls am 29.05.2015 beantragten die Bf beim Sozialgericht München, den Bg im Wege einer einstweiligen Verfügung zu verpflichten,
ihnen umgehend Leistungen zu gewähren. Die Bf zu 1) legte ihre Aufenthaltskarte vor, nach der ihr als Familienangehörige eines
EU-Staatsangehörigen gemäß § 5 Abs. 1 Freizügigkeitsgesetz/ EU (FreizügG/EU) die Erwerbstätigkeit gestattet ist. Sie gab weiter an, dass ihr Sohn in L. die Mittelschule besuche und dass sie entweder
in der Bahnhofsmission oder in einer günstigen Pension übernachte. Sie verfüge über kein Vermögen im In- oder Ausland. Der
Bf zu 2) erhalte von seinem Vater monatlich 500 $ Kindesunterhalt. Die Bf zu 1) beziehe noch aus dem Vereinigten Königreich
Work and Child Tax Credit in Höhe von wöchentlich 153 £. Diese Leistung könne sie jedoch nicht mehr erhalten, wenn sie dauerhaft
in Deutschland bleiben würde. Außerdem erhalte sie für Internetdienstleistungen von einem Kunden monatlich ca. 200 EUR.
Mit Beschluss vom 16.06.2015 verpflichtete das Sozialgericht den Bg, der Bf zu 1) ab dem 15.06.2015 bis zum 31.08.2015 eine
Regelleistung in Höhe von monatlich 285,72 EUR sowie Kosten der Unterkunft und Heizung in Höhe von monatlich 300 EUR vorläufig
zu gewähren. Der Bg wurde weiter verpflichtet, dem Bf zu 2) für die Zeit vom 15.06.2015 bis zum 31.08.2015 Kosten der Unterkunft
und Heizung in Höhe von monatlich 129,68 EUR vorläufig zu gewähren. Unter Ziffer IV des Tenors wurde der Bg dem Grunde nach
vorläufig verpflichtet, den Bf ein Kautionsdarlehen für eine angemessene Unterkunft zu gewähren. Zur Begründung führte das
Sozialgericht aus, dass die Bf hilfebedürftig seien. Das Vorliegen eines Aufenthaltsrechtes zur Arbeitsuche lasse sich nicht
positiv feststellen. Ob den Bf wegen des Schulbesuchs des Bf zu 2) ein eigenständiges Aufenthaltsrecht zustehe, könne dahin
stehen. Da es sich bei den Leistungen nach dem SGB II um Leistungen zur Existenzsicherung handele, werde der Bg im Rahmen einer Folgenabwägung vorläufig verpflichtet, Leistungen
nach dem SGB II in tenorierter Höhe zu gewähren. Wegen der Kosten der Unterkunft und Heizung ging das Sozialgericht von einem Bedarf in Höhe
von monatlich 600 EUR aus, da die Bf zu 1) angegeben habe, dass sie eine Wohnung für 550 EUR anmieten könne. Außerdem sei
die Gewährung eines Kautionsdarlehens erforderlich, um die Wohnung anmieten zu können.
Am 24.06.2015 hat der Bg gegen den Beschluss des Sozialgerichts München vom 16.06.2015 Beschwerde zum Bayerischen Landessozialgericht
eingelegt. Die Einkommens- und Vermögensverhältnisse der Bf würden nicht bestritten. Nach Auffassung des Bg sei aber ein materiell-rechtlicher
Leistungsanspruch nicht gegeben und der Beschluss des Sozialgerichts daher aufzuheben. Unabhängig von der ausländerrechtlichen
Problematik seien die Voraussetzungen für einen Leistungsanspruch nicht gegeben, da der gewöhnliche Aufenthalt in Deutschland
fehlen würde. Die Bf seien ohne festen Wohnsitz und ihr derzeitiger Aufenthalt unbekannt. Es fehle an der Hilfebedürftigkeit
der Bf. Der Unterkunftsbedarf sei nicht nachgewiesen. Das Sozialgericht habe pauschal einen Betrag in Höhe von 600 EUR als
hypothetischen Unterkunftsbedarf zu Grunde gelegt. Außerdem ist der Bg der Meinung, dass die Bf wegen des Leistungsausschlusses
nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II keinen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II hätten.
Die Bf haben am 29.06.2015 ebenfalls Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts München vom 16.06.2015 eingelegt und
beantragt, dass ihnen höhere Leistungen in Höhe von je 425 EUR für Unterkunft und Heizung gewährt werden. Sie hätten bisher
noch keine Wohnung finden können. Sie seien auf eine Unterbringung in Hotels/ Pensionen angewiesen. Beispielhaft werde eine
Aufstellung der Kosten zwischen dem 26. und 28.06.2015 übersandt. Hieraus sei ersichtlich, dass Unterbringungskosten in Höhe
von 74 EUR pro Nacht anfallen würden. Bei Berücksichtigung der Preisschwankungen sei ein Mittelwert von 60 EUR pro Nacht realistisch.
Bei einer Vorsprache beim Bg am 29.06.2015 gab die Bf zu 1) an, dass sie ein Einkommen von etwa 250 EUR aus Selbstständigkeit
habe, 500 EUR Kindesunterhalt erhalte und 184 EUR Kindergeld. Zuletzt hat die Bf zu 1) dem Senat telefonisch mitgeteilt, dass
sie in einer Notunterkunft in P. lebe.
Die Bf beantragen,
den Beschluss des Sozialgerichts München vom 16.06.2015 abzuändern und den Beschwerdeführern höhere Leistungen in Höhe von
je 425 EUR für Unterkunft und Heizung zu gewähren.
Der Bg beantragt,
den Beschluss des Sozialgerichts München vom 16.06.2015 aufzuheben und den Antrag auf Gewährung von einstweiligen Rechtsschutz
abzulehnen.
Zur Ergänzung des Sachverhalts wird auf die beigezogenen Verwaltungsakten des Bg sowie auf die Gerichtsakten beider Rechtszüge
Bezug genommen.
II.
Die form- und fristgerecht eingelegten Beschwerden (§§
172,
173 Sozialgerichtsgesetz -
SGG-) sind zulässig. Die Beschwerde der Bf ist unbegründet. Die Beschwerde des Bg ist teilweise begründet.
Eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis (sog. Regelungsanordnung)
ist nach §
86b Abs.
2 Satz 2
SGG zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Die Notwendigkeit zur Abwendung
wesentlicher Nachteile umschreibt den sogenannten Anordnungsgrund (§
86b Abs.
2 Satz 4
SGG i. V. m. §
920 Abs.
1 Zivilprozessordnung -
ZPO). Voraussetzung für den Erlass einer einstweiligen Anordnung ist, dass sowohl das zu sichernde Recht, der sogenannte Anordnungsanspruch,
als auch der Anordnungsgrund glaubhaft gemacht sind (86b Abs. 2 Satz 4
SGG in Verbindung mit §
920 Abs.
2 Zivilprozessordnung -
ZPO) oder nach Durchführung der von Amts wegen auch im Eilverfahren gegebenenfalls gebotenen Ermittlungen glaubhaft erscheinen.
Die Entscheidungen dürfen sowohl auf eine Folgenabwägung wie auch auf eine summarische Prüfung der Erfolgsaussichten in der
Hauptsache gestützt werden; hierbei ist dem Gewicht der in Frage stehenden und gegebenenfalls miteinander abzuwägenden Grundrechte
Rechnung zu tragen, um eine etwaige Verletzung von Grundrechten zu verhindern (so BVerfG, Beschluss vom 06.08.2014, 1 BvR 1453/12, Rn. 9, [...]). Je gewichtiger die drohende Grundrechtsverletzung und je höher ihre Eintrittswahrscheinlichkeit ist, desto
intensiver hat die tatsächliche und rechtliche Durchdringung der Sache bereits im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes
zu erfolgen. Ist eine der drohenden Grundrechtsverletzung entsprechende Klärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht
möglich, etwa weil es dafür weiterer, in der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit nicht zu verwirklichender tatsächlicher
Aufklärungsmaßnahmen bedürfte, ist es von Verfassung wegen nicht zu beanstanden, wenn die Entscheidung über die Gewährung
vorläufigen Rechtsschutzes auf der Grundlage einer Folgenabwägung erfolgt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 06.02.2013, 1 BvR 2366/12, Rn. 3, [...]). Übernimmt das Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes allerdings vollständig die Bedeutung des Hauptsacheverfahrens
und droht eine endgültige Verhinderung der Grundrechtsverwirklichung der Beteiligten, sind die Anforderungen an die Glaubhaftmachung
am Rechtsschutzziel zu orientieren, das mit dem jeweiligen Rechtsschutzbegehren verfolgt wird (vgl. BVerfG, Beschluss vom
06.08.2014, 1 BvR 1453/12, Rn. 10, [...]).
Ein Anordnungsgrund ist hier glaubhaft gemacht. Der Senat entscheidet aufgrund einer Folgenabwägung, da eine summarische Prüfung
der Erfolgsaussichten in der Hauptsache wegen des weiteren Ermittlungsbedarfs nicht möglich ist. Im Rahmen der Folgenabwägung
ist die Bedeutung der beantragten Leistungen für die Bf gegen das fiskalische Interesse des Bg abzuwägen, die vorläufig erbrachten
Leistungen im Fall eines Obsiegens in der Hauptsache möglicherweise nicht zurückzuerhalten. Bei ungeklärten Erfolgsaussichten
in der Hauptsache muss hier die Folgenabwägung zugunsten der Bf ausgehen, da existenzsichernde Leistungen streitig sind und
das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum gemäß Art.
1 Abs.
1 i.V.m. Art.
20 Abs.
1 Grundgesetz (
GG) betroffen ist, das unverfügbar ist (vgl. BVerfG, Urteil vom 18.07.2012, 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11).
Die Bf zu 1) ist auf existenzsichernde Leistungen angewiesen. Ihr Lebensunterhalt ist derzeit nicht gesichert. Ob die Bf einen
Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II haben, kann der erkennende Senat im Rahmen des Verfahrens des einstweiligen Rechtsschutzes nicht abschließend klären, da
insbesondere der Aufenthaltsstatus der Bf zu 1) unklar ist. Eine weitere Sachverhaltsaufklärung ist in der im Verfahren des
einstweiligen Rechtsschutzes zur Verfügung stehenden Zeit nicht möglich. Damit kann nicht abschließend beurteilt werden, ob
§ 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II, wonach Ausländerinnen und Ausländer und ihre Familienangehörigen, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche
ergibt, vom Leistungsausspruch ausgenommen sind, einem Leistungsanspruch der Bf entgegensteht. Für den Senat steht allerdings
entgegen der Annahme des Bg fest, dass die Bf ihren gewöhnlichen Aufenthalt gemäß § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 SGB II in der Bundesrepublik Deutschland haben. Zuletzt hat die Bf zu 1) mitgeteilt, dass sie sich in einer Notunterkunft in P.
aufhalten würden. Dies ist zur Glaubhaftmachung des gewöhnlichen Aufenthaltes im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes
ausreichend, zumal der Bf zu 2) eine Mittelschule in A-Stadt besucht.
Im Beschwerdeverfahren konnten die Bf allerdings nicht mehr ausreichend einen Bedarf für Kosten für Unterkunft und Heizung
glaubhaft machen. Auch wenn sie für den Monat Juni und Juli noch Nachweise zu Übernachtungen in Pensionen und Hotels vorgelegt
haben, steht nunmehr fest, dass sie sich derzeit in einer Notunterkunft befinden. Welche Kosten den Bf hierfür entstehen,
ist dem Senat nicht bekannt. Da die Bf zu 1) nicht bereit war, die Adresse dieser Notunterkunft bekannt zu geben, waren weitere
Ermittlungen hinsichtlich dieser Kosten nicht möglich. Daher geht der Senat davon aus, dass die Bf einen Bedarf in Höhe des
Regelbedarfs, der für die Bf zu 1) 399 EUR und für den Bf zu 2) 302 EUR beträgt, ergänzt um den Mehrbedarf für Alleinerziehende
nach § 21 Abs. 3 Nr. 2 SGB II in Höhe von 47,88 EUR haben. Da der Bf zu 2) Unterhaltsleistungen seines Vaters erhält, die seinen Bedarf vollständig decken,
ist Ziffer III des Beschlusses des Sozialgerichts für die Zeit ab August 2015 aufzuheben. Die Bf zu 1) hat einen ungedeckten
Bedarf in Höhe von 142,88 EUR. Dieser Bedarf ergibt sich nach Anrechnung des Kindergeldes und des um die Freibeträge nach
§ 11a Abs. 2 und Abs. 3 Nr. 1 SGB II bereinigten Einkommens aus selbstständiger Tätigkeit. Daher ist Ziffer II des Beschlusses ab August 2015 aufzuheben und Ziffer
I des Beschlusses dahingehend abzuändern, dass der Bf zu 1) eine Regelleistung in Höhe von 142,88 EUR vorläufig gewährt wird.
Ziffer IV des Beschlusses ist aufzuheben, da eine Zusicherung nach § 22 Abs. 6 SGB II als Voraussetzung für ein Kautionsdarlehen nur im Hinblick auf konkret vorliegende Wohnungsangebote erfolgen kann (Bayerisches
Landessozialgericht, Beschluss vom 12.05.2011, L 11 AS 250/11 B ER, [...]).
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG in entsprechender Anwendung.
Dieser Beschluss ist gemäß §
177 SGG unanfechtbar.