Überprüfbarkeit der Entscheidung über die Übernahme der Kosten auf die Staatskasse im sozialgerichtlichen Verfahren; Umfang
der gerichtlichen Prüfung bei der Rücknahme eines rechtswidrigen nicht begünstigenden Verwaltungsaktes
Gründe
I.
In dem am Sozialgericht (SG) Augsburg unter dem Aktenzeichen S 11 VJ 1/97 anhängig gewesenen Rechtsstreit des Klägers und jetzigen Beschwerdeführers (im Folgenden: Beschwerdeführer) begehrte dieser
die Anerkennung eines Impfschadens im Wege einer Entscheidung gemäß § 44 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X). Der Beklagte hatte dies mit Hinweis auf die Bestandskraft einer früheren negativen Entscheidung zur Anerkennung als Impfschaden
abgelehnt (Bescheid vom 03.03.1997 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 26.08.1997).
Zunächst erstellte der Neurologe und Psychiater Dr. H. unter dem Datum vom 04.02.1998 ein Gutachten, in dem er zu der Einschätzung
kam, dass ein hinreichend wahrscheinlicher Zusammenhang zwischen der beim Beschwerdeführer vorliegenden Hirnschädigung und
der vom Beschwerdeführer als dafür ursächlich betrachteten Impfung nicht bestehe.
Nachdem das SG mit Schreiben vom 13.02.1998 mit Blick auf die negative Einschätzung des Sachverständigen die Klagerücknahme nahe gelegt
hatte, wurde auf Antrag des Beschwerdeführers gemäß §
109 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) der Kinderarzt Prof. Dr. S. mit einer weiteren Begutachtung beauftragt. Dieser kam in seinem Gutachten vom 25.10.1999 ebenfalls
zu der Einschätzung, dass ein Impfschaden nicht vorliege.
Mit Gerichtsbescheid vom 20.01.2000 wies das SG die Klage ab. Es stützte sich dabei auf die "überzeugenden Gutachten seiner Sachverständigen Dr. H. und Prof. Dr. S." und
bezeichnete beide Gutachten als in sich schlüssig und widerspruchsfrei. Die Urteilsgründe entsprechen weitgehend den Ausführungen
des gemäß §
109 SGG beauftragten Sachverständigen.
In dem sich anschließenden Berufungsverfahren (Aktenzeichen des Bayer Landessozialgerichts - LSG -: zunächst L 15 VJ 1/00, dann nach zwischenzeitlichem Ruhen L 15 VJ 1/10) wies der Berichterstatter des Bayer. LSG mit Schreiben vom 22.09.2014 darauf hin, dass der Beklagte mit dem streitgegenständlichen
Bescheid vom 03.03.1997 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 26.08.1997 den Überprüfungsantrag mit Hinweis auf die Bestandskraft
der früheren Entscheidung und die Tatsache, dass im Überprüfungsverfahren keine neuen Tatsachen vorgetragen worden seien,
zurückgewiesen habe, ohne erneut in die inhaltliche Prüfung der Kausalität eingestiegen zu sein. Dieser Aspekt sei in der
Folge nicht ausreichend berücksichtigt worden; hierin liege aber das Kernproblem dieses Falls. Wenn sich das SG im angefochtenen Verfahren inhaltlich mit der medizinischen Frage der Kausalität befasst habe, gehe dies über den dem Gericht
zustehenden Prüfungsrahmen hinaus. Das SG hätte diese Frage nicht prüfen dürfen. Wenn es dies trotzdem gemacht habe, erweitere dies nicht den Prüfungsumfang für das
Berufungsgericht. Dass bislang im Berufungsverfahren ebenso wie beim SG in der Sache ermittelt worden sei, sei mit Blick auf die Verfahrensdauer und möglicherweise dadurch geweckte Hoffnungen bedauerlich.
Im Erörterungstermin vom 06.11.2014 wies Berichterstatter nochmals darauf hin, dass in diesem Verfahren keinerlei Ermittlungen
zur Frage der Kausalität durch das SG erfolgen hätten dürfen. Anschließend ist vom Beschwerdeführer die Berufungsrücknahme erklärt worden.
Mit Schreiben seiner Bevollmächtigten vom 24.11.2014 hat der Beschwerdeführer beantragt, die Kosten für das Gutachten gemäß
§
109 SGG auf die Staatskasse zu übernehmen. Diese Kosten seien auch dann durch die Staatskasse zu tragen, wenn das Gutachten zwar
für den Ausgang des Rechtsstreits nicht von Bedeutung gewesen sei, die Einholung des Gutachtens aber auf einer verfahrensrechtlich
unrichtigen Sachbehandlung durch das Gericht beruht habe. Dies sei ausweislich der Hinweise des Bayer. LSG im Schreiben vom
22.09.2014 und dem Protokoll aus der Sitzung vom 06.11.2014 der Fall.
Mit Beschluss vom 19.12.2014 hat das SG den Antrag auf Kostenübernahme auf die Staatskasse abgelehnt und dies wie folgt begründet: Das Gutachten gemäß §
109 SGG habe die Sachaufklärung wohl auch aus Klägersicht nicht wesentlich gefördert. Ob das SG in die Sachverhaltsermittlung einsteigen hätte dürfen, könne für die Entscheidung über die Kosten nach §
109 SGG dahinstehen. Denn das SG habe den Antrag des rechtsanwaltlich vertretenen Beschwerdeführers nicht angeregt oder darauf hingewiesen. Einer der Ablehnungsgründe
nach §
109 Abs.
2 SGG liege nicht vor. Dass das SG dem nach Ansicht des Bayer. LSG nicht zielführenden Antrag des Beschwerdeführers stattgegeben habe, sei unschädlich. Denn
es sei unerheblich, ob der Antrag aus verständigen Gründen gestellt worden sei. Zwar könne die Übernahme der Gutachterkosten
angezeigt sein, wenn das Gericht im Zusammenhang mit der Beweiserhebung fehlerhaft gehandelt habe. Gründe hierfür seien jedoch
nicht ersichtlich. Abschließend hat das SG darauf hingewiesen, dass der Anspruch auf Kostenerstattung zudem nach so langer Zeit verwirkt bzw. verjährt sein könnte.
Dagegen hat der Beschwerdeführer mit Schreiben seiner Bevollmächtigten vom 10.02.2015 Beschwerde eingelegt und diese ausführlich
begründet.
II.
Die zulässige Beschwerde ist begründet.
Die Entscheidung des SG, die Kosten des Gutachtens gemäß §
109 SGG nicht auf die Staatskasse zu übernehmen, ist aufzuheben. Die Kosten für das gemäß §
109 SGG eingeholte Gutachten sind in vollem Umfang auf die Staatskasse zu übernehmen.
Nach §
109 Abs.
1 Satz 1
SGG muss auf Antrag des (potentiell) Versorgungsberechtigten ein bestimmter Arzt gutachtlich gehört werden. Die Anhörung kann
- wie dies im vorliegenden Fall auch erfolgt ist - gemäß §
109 Abs.
1 Satz 2
SGG davon abhängig gemacht werden, dass der Antragsteller die Kosten dafür vorschießt und vorbehaltlich einer anderen Entscheidung
des Gerichts auch endgültig trägt. Eine "andere Entscheidung" in diesem Sinn hat der Beschwerdeführer beim SG beantragt.
1. Kriterien für die Entscheidung über die Kostenübernahme
Die Entscheidung darüber, ob die Kosten eines gemäß §
109 SGG eingeholten Gutachtens auf die Staatskasse zu übernehmen sind, ist eine Ermessensentscheidung (vgl. Keller, in: Meyer-Ladewig/ders./Leitherer,
SGG, 11. Aufl. 2014, §
109, Rdnr. 16) des Gerichts, das das Gutachten angefordert hat (vgl. Keller, a.a.O., § 109, Rdnr. 18). Bei der Entscheidung über
die Kostenübernahme auf die Staatskasse ist zu berücksichtigen, ob das Gutachten die Sachaufklärung objektiv wesentlich gefördert
und somit Bedeutung für die gerichtliche Entscheidung oder den Ausgang des Verfahrens gewonnen hat (vgl. Keller, a.a.O., §
109, Rdnr. 16a). Entscheidend ist dabei, ob durch das Gutachten neue beweiserhebliche Gesichtspunkte zu Tage getreten sind
oder die Beurteilung auf eine wesentlich breitere und für das Gericht und die Beteiligten überzeugendere Grundlage gestellt
worden ist (ständige Rechtsprechung des Senats, vgl. z.B. Beschluss vom 07.04.2014, Az.: L 15 SB 198/13 B). Dabei genügt es nach der ständigen Rechtsprechung des Senats (vgl. z.B. Beschlüsse vom 28.09.2012, Az.: L 15 SB 293/11 B, und vom 26.04.2013, Az.: L 15 SB 168/12 B) nicht, dass ein Gutachten "die Aufklärung des Sachverhalts in objektiv sinnvoller Weise gefördert" hat oder dass durch
das Gutachten "entscheidungserhebliche Punkte des Sachverhalts weiter aufgeklärt werden", wie manchmal formuliert wird (vgl.
Kühl, in: Breitkreuz/Fichte,
SGG, 2. Aufl. 2014, §
109, Rdnr. 11, mit Verweis auf den Beschluss des Bayer. LSG vom 29.04.1964, Az.: L 18/Ko 60/63). Denn diese Voraussetzungen sind
bei medizinischen Gutachten so gut wie immer gegeben. Nur eine wesentliche Förderung der Sachaufklärung kann zu einer Kostenübernahme
führen (ständige Rechtsprechung des Senats, vgl. z.B. Beschluss vom 21.10.2013, Az.: L 15 VK 13/13 B; Keller, a.a.O., § 109,
Rdnr. 16a).
Geht das Hauptsacheverfahren in die Berufung, darf bei der Bewertung, ob das in der ersten Instanz eingeholte Gutachten gemäß
§
109 SGG die Sachaufklärung objektiv wesentlich gefördert und somit Bedeutung für die gerichtliche Entscheidung oder den Ausgang des
Verfahrens gewonnen hat, nicht allein auf das erstinstanzliche Verfahren abgestellt werden. Vielmehr ist das gesamte Verfahren,
also auch das Berufungsverfahren in die Erwägungen einzubeziehen (ständige Rspr. des Senats, vgl. z.B. Beschluss vom 13.08.2013,
Az.: L 15 SB 153/13 B; Keller, a.a.O., § 109, Rdnr. 16a).
Nicht entscheidend ist, ob das Gutachten den Rechtsstreit in einem für den Antragsteller günstigen Sinn beeinflusst hat. Kein
maßgeblicher Gesichtspunkt für eine Ermessensausübung im Sinn eines Antragsstellers ist es auch, wenn dieser nach Bestätigung
der Ergebnisse, wie sie schon der von Amts wegen bestellte Sachverständige festgestellt hat, durch den gemäß §
109 SGG benannten Gutachter die Klage oder Berufung zurücknimmt. Denn mit der Kostenübernahme auf die Staatskasse bzw. der Ablehnung
der Kostenübernahme darf keine Belohnung bzw. Sanktionierung eines bestimmten prozessualen Verhaltens erfolgen (ständige Rechtsprechung
des Senats, vgl. z.B. Beschluss vom 04.02.2013, Az. L 15 SB 8/12 B).
Eine nur teilweise Kostenübernahme ist nicht grundsätzlich ausgeschlossen, aber bei einem einheitlichen Streitgegenstand regelmäßig
nicht sachgerecht (vgl. Keller, a.a.O., § 109, Rdnr. 16a). Sie wird daher überhaupt nur in seltenen Fällen in Betracht gezogen
werden können (ständige Rspr. des Senats, vgl. z.B. Beschluss vom 08.08.2013, Az.: L 15 SB 146/13 B). Denkbar ist dies bei einem teilbaren Streitgegenstand (z.B. Höhe des Grads der Behinderung einerseits und Merkzeichen
andererseits), wenn das Gutachten gemäß §
109 SGG nur für einen Teil des Streitgegenstands neue Erkenntnisse gebracht bzw. nur diesbezüglich zur Erledigung geführt hat, nicht
aber für den anderen Teil des Streitgegenstands.
Auch kann über den Umfang der Kostenübernahme auf die Staatskasse keine Sanktionierung der Qualität eines Gutachtens in dem
Sinn erfolgen, dass der Antragsteller die Kosten soweit selbst zu tragen hätte, als die Ausführungen des Sachverständigen
bei der Erledigung nicht als zutreffende Bewertung zugrunde gelegt worden sind (ständige Rspr. des Senats, vgl. z.B. Beschluss
vom 08.08.2013, Az.: L 15 SB 146/13 B). Denn entscheidend ist allein, ob das Gutachten die Sachaufklärung objektiv wesentlich gefördert hat. Entscheidend ist
daher auch nicht die alleinige Sichtweise des antragstellenden Beteiligten.
Ausnahmsweise kommt über die genannten Voraussetzungen hinaus eine Kostenübernahme auf die Staatskasse dann in Betracht, wenn
das Gutachten für das Verfahren zwar nicht entscheidungserheblich geworden ist, dem Gutachtensauftrag gemäß §
109 SGG aber eine verfahrensrechtlich unrichtige Sachbehandlung durch das Gericht vorausgegangen ist (vgl. LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss
vom 27.03.1985, Az.: L 3 Sb 65/84; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 13.07.2005, Az.: L 9 B 146/03 KR; Beschluss des Senats vom 14.11.2012, Az.: L 15 SB 33/09).
Kommt es auf die Fragen, zu denen der gemäß §
109 SGG benannte Arzt Stellung nehmen soll, überhaupt nicht an, ist also von vornherein klar, dass ein Gutachten gemäß §
109 SGG keine entscheidungserheblichen Erkenntnisse liefern kann, hätte das Gericht die Einholung eines Gutachtens gemäß §
109 SGG ablehnen oder zumindest den Antragsteller auf seine Bedenken hinsichtlich der fehlenden Entscheidungserheblichkeit hinweisen
und damit dem Antragsteller die Gelegenheit geben müssen, sich zu überlegen, ob er wegen der ihm nunmehr bekannten Bedenken
des Gerichts seinen Antrag gemäß §
109 SGG nicht besser zurückzieht (vgl. Keller, a.a.O., §
109, Rdnr. 16a). Macht dies das Gericht nicht, ist von einer verfahrensrechtlich objektiv unrichtigen Sachbehandlung auszugehen.
Wird in einer solchen Konstellation der verfahrensrechtlich objektiv unrichtigen Sachbehandlung ein Gutachten gemäß §
109 SGG eingeholt, rechtfertigt dies regelmäßig eine Übernahme der Kosten für das Gutachten auf die Staatskasse, weil andernfalls
der Antragsteller ein Kostenrisiko zu tragen hätte, das nicht vom Inhalt des eingeholten Gutachtens abhängt (vgl. Beschluss
des Senats vom 14.11.2012, Az.: L 15 SB 33/09; Niesel, Herold-Tews, Der Sozialgerichtsprozess, 6. Aufl. 2012, Rdnr. 273).
2. Prüfungsumfang im Beschwerdeverfahren
Der Senat hat mit Beschluss vom 19.12.2012, Az.: L 15 SB 123/12 B, - mit ausführlicher Begründung, umfassenden Erwägungen zu den verfassungsrechtlichen Grundlagen und ausführlicher Auseinandersetzung
mit anderslautender Rechtsprechung - erläutert, dass der Prüfungsumfang im Beschwerdeverfahren gemäß §
109 SGG - wie auch in anderen Beschwerdeverfahren - nicht insofern beschränkt ist, als nur eine eingeschränkte Nachprüfbarkeit durch
das Beschwerdegericht dahingehend eröffnet wäre, ob die Voraussetzungen und die Grenzen des Ermessens richtig bestimmt und
eingehalten worden sind. Vielmehr geht er von einer vollen Überprüfung und einer eigenen Ermessensentscheidung des Beschwerdegerichts
aus. Im Rahmen der Beschwerdeentscheidung ist die Befugnis zur Ausübung des Ermessens in vollem Umfang auf das Beschwerdegericht
übergegangen (ständige Rspr. des Senats, vgl. z.B. Beschluss vom 21.10.2013, Az.: L 15 VK 13/13 B).
3. Entscheidung im vorliegenden Fall
Die Kosten für das Gutachten gemäß §
109 SGG sind auf die Staatskasse zu übernehmen, da dem Gutachten eine verfahrensrechtlich objektiv unrichtige Sachbehandlung durch
das SG vorausgegangen ist.
3.1. Keine Entscheidungsrelevanz der im Gutachten gemäß §
109 SGG behandelten Fragestellung
Im vorliegenden Fall ist es überhaupt nicht auf die medizinisch zu beurteilende Frage der Kausalität zwischen Impfung und
Gesundheitsschaden angekommen. Denn Streitgegenstand im Hauptsacheverfahren ist eine Überprüfungsentscheidung gemäß § 44 SGB X gewesen, bei der eine erneute Prüfung mangels Vortrags neuer Tatsachen und unter Hinweis auf die Bestandskraft einer früheren
Entscheidung vom dortigen Beklagten abgelehnt worden war.
Bei der Überprüfung derartiger Entscheidungen ist Folgendes zu beachten:
Ausgangspunkt ist die gesetzliche Regelung des §
77 SGG, wonach ein Verwaltungsakt für die Beteiligten in der Sache bindend wird, wenn ein Rechtsbehelf nicht oder erfolglos eingelegt
wird. Diese Bestandskraft (Unanfechtbarkeit) ist ein wesentliches Prinzip der Rechtsordnung. Mit der Bestandskraft wird Rechtssicherheit
geschaffen, weil die Beteiligten wissen, woran sie sind, nämlich dass die Regelung des Verwaltungsakts sie bindet, und Rechtsfrieden
garantiert, weil weiterer Streit über den Verwaltungsakt ausgeschlossen ist. Für den Adressaten des Verwaltungsakts ist damit
keine unangemessene Benachteiligung verbunden, hat er doch die Möglichkeit, sich im Rahmen der zur Verfügung stehenden Rechtsmittel
gegen einen Bescheid zu wehren und dessen Rechtmäßigkeit überprüfen zu lassen. Schöpft er diese Mittel nicht aus oder akzeptiert
er den Verwaltungsakt, weil er selbst keinen überzeugenden Zweifel an der Rechtmäßigkeit hat, müssen die Beteiligten die getroffene
Regelung in der Zukunft für und gegen sich gelten lassen.
Die Regelung des § 44 SGB X ermöglicht unter bestimmten Voraussetzungen eine ausnahmsweise Abweichung von der Bindungswirkung (Bestandskraft) unanfechtbarer
und damit für die Beteiligten bindend gewordener sozialrechtlicher Verwaltungsakte, um damit materielle Rechtmäßigkeit herzustellen.
§ 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X eröffnet dazu zwei Alternativen. Entweder muss bei der bestandskräftig gewordenen Entscheidung das Recht unrichtig angewandt
worden (erste Alternative) oder die Behörde muss beim Erlass des bestandskräftig gewordenen Verwaltungsakts von einem Sachverhalt
ausgegangen sein, der sich nachträglich aufgrund des Bekanntwerdens neuer Tatsachen als unrichtig erwiesen hat (zweite Alternative).
Nicht Sinn und Zweck des § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist es, Fristenregelungen im Zusammenhang mit der Frage der Bestandskraft von Entscheidungen der Verwaltung oder auch der
Gerichte auszuhebeln und die mit der Bestandskraft bezweckte Rechtssicherheit und den Rechtsfrieden in das Belieben der Beteiligten
zu stellen. § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X kann kein Mittel sein, um durch wiederholte Anträge bei der Behörde diese immer wieder zu Sachentscheidungen (deren Ergebnis
wegen der bereits getroffenen Entscheidung absehbar ist) zu zwingen, die dann wiederum gerichtlich in der Sache überprüfbar
wären. Würde man dies zulassen, hätte eine Behörde keinerlei Möglichkeit, sich vor wiederholenden Anträgen mit dem sich daraus
ergebenden möglicherweise massiven Verwaltungsaufwand, der nicht nur Personal bindet, sondern auch Kosten verursacht, zu schützen.
Bei der oben genannten ersten Alternative handelt es sich um eine rein rechtliche Überprüfung der Rechtmäßigkeit der bestandskräftig
gewordenen Entscheidung, bei der es auf den Vortrag neuer Tatsachen nicht ankommt und die von Amts wegen zu erfolgen hat (vgl.
Bundessozialgericht - BSG -, Urteil vom 05.09.2006, Az.: B 2 U 24/05 R). Eine derartige Überprüfung bedeutet jedoch nicht, dass eine vollständige Überprüfung des Sachverhalts mittels neuer Ermittlung
des Sachverhalts und neu einzuholender Gutachten durchzuführen wäre. Vielmehr ist lediglich aus rein rechtlicher Sicht zu
würdigen, ob der der bestandskräftig gewordenen Entscheidung zu Grunde liegende Sachverhalt rechtlich zutreffend beurteilt
und rechtlich in nicht zu beanstandender Weise bewertet worden ist.
Weitergehende Sachermittlungen sind im Rahmen der ersten Alternative nicht geboten. Dies ergibt sich eindeutig aus der Systematik
der gesetzlichen Regelung in § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X. Denn mit der Differenzierung zwischen den aufgezeigten zwei Alternativen (unrichtige Rechtsanwendung einerseits und ursprünglich
unrichtig zu Grunde gelegter Sachverhalt andererseits) hat der Gesetzgeber deutlich gemacht, dass nicht in jedem Fall eine
völlige Überprüfung unter allen in Betracht kommenden Gesichtspunkten zu erfolgen hat. Dem liegt die Überlegung zu Grunde,
dass die Verwaltung nicht durch aussichtslose Überprüfungsanträge, die beliebig oft wiederholt werden können, immer wieder
zu einer neuen Sachprüfung gezwungen werden soll (vgl. BSG, Urteil vom 06.03.1991, Az.: 9b RAr 7/90). Würde hingegen bereits im Rahmen der ersten Alternative eine umfassende Sachprüfung,
d.h. mit einer umfassenden Neuermittlung des zugrunde liegenden Sachverhalts, vorausgesetzt, so stünde dies im Widerspruch
zu den gesetzlichen Anforderungen für die zweite Alternative, für die die Benennung neuer Tatsachen und Beweismittel vorausgesetzt
wird. Im Rahmen der ersten Alternative sind daher die tatsächlichen Feststellungen, wie sie dem bestandskräftigen Bescheid
zu Grunde gelegen haben, auch im Überprüfungsverfahren zu beachten und lediglich zu prüfen, ob auf diesen Tatsachen aufbauend,
unabhängig von ihrer Richtigkeit, die rechtlichen Schlussfolgerungen zutreffend sind. In dem Verfahren erfolgt eine rein rechtliche
Überprüfung der Rechtmäßigkeit, zu der von Seiten des Antragstellers zwar Gesichtspunkte beigesteuert werden können, die aber
letztlich umfassend von Amts wegen erfolgen muss.
Für die zweite Alternative kommt es auf die Benennung neuer Tatsachen und Beweismittel im Rahmen eines abgestuften Verfahrens
an (vgl. BSG, Urteil vom 03.02.1988, Az.: 9/9a RV 18/86, das auch im Urteil des BSG vom 05.09.2006, Az.: B 2 U 24/05 R nicht infrage gestellt worden ist). Die Prüfung bei dieser zweiten Alternative hat sich an den rechtlichen Vorgaben zu orientieren,
wie sie auch im Rahmen eines gerichtlichen Wiederaufnahmeverfahrens zu beachten sind. Es liegt daher der zweiten Alternative
ein Verfahren zugrunde, bei der es auf die Benennung neuer Tatsachen und Beweismittel ankommt (vgl. BSG, Urteil vom 05.09.2006, Az.: B 2 U 24/05 R).
Ergibt sich bei diesem Verfahren nichts Neues, was für die Unrichtigkeit der Vorentscheidung sprechen könnte, darf sich die
Verwaltung ohne jede weitere Sachprüfung auf die Bindungswirkung der bestandskräftigen Entscheidung berufen. Werden zwar neue
Tatsachen oder Erkenntnisse vorgetragen und neue Beweismittel benannt, ergibt aber die Prüfung, dass die vorgebrachten Gesichtspunkte
nicht tatsächlich vorliegen oder für die frühere Entscheidung nicht erheblich waren, darf sich die Behörde ebenfalls auf die
Bindungswirkung stützen.
Eine Behörde ist daher nur dann, wenn die Prüfung zu dem Ergebnis führt, dass ursprünglich nicht bekannte Tatsachen oder Erkenntnisse
vorliegen, die für die Entscheidung wesentlich sind, oder wenn sich herausstellt, dass das Recht unrichtig angewandt worden
ist, dazu verpflichtet, ohne Rücksicht auf die Bindungswirkung erneut zu entscheiden (vgl. BSG, Urteil vom 03.02.1988, Az.: 9/9a RV 18/86).
Hat eine Behörde unter zutreffender Anwendung des § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X eine erneute Sachprüfung und Sachentscheidung abgelehnt, kann sich das Gericht über diese Entscheidung nicht hinwegsetzen
und den gesamten Sachverhalt einer wiederholten Sachprüfung unterziehen. Denn § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X gibt nur der Verwaltung selbst, nicht aber dem Gericht die Möglichkeit, sich über eine frühere negative Entscheidung zu Gunsten
des Antragstellers hinwegzusetzen (vgl. BSG, Beschluss vom 09.08.1995, Az.: 9 BVg 5/95; Schleswig-Holsteinisches LSG, Urteil vom 11.04.2004, Az.: L 8 U 115/02; ständige Rspr. des Senats, vgl. z.B. Urteil vom 18.02.2014, Az.: L 15 VK 3/12).
Diesen Prüfungsmaßstab, den der Senat beispielsweise im Urteil vom 18.03.2013, Az.: L 15 VK 11/11, ausführlich dargestellt
hat, hat das BSG, dessen Rechtsprechung zu § 44 SGB X nicht immer einheitlich ist (vgl. vorgenanntes Urteil des Senats vom 18.03.2013, dort Ziff. 3.3.1. der Gründe), ausdrücklich
bestätigt, wenn es im Anschluss an das vorgenannte Urteil des Senats mit Beschluss vom 31.07.2013, Az.: B 9 V 31/13 B, Folgendes ausgeführt hat:
" ... Zulassung nach §
160 Abs.
2 Nr
2 SGG scheidet ebenfalls aus ... Abweichung (Divergenz) ist gegeben, wenn das angefochtene Urteil auf einer bestimmten Rechtsauffassung
beruht, die zu der in einer Entscheidung des BSG ... zugrunde gelegten Rechtsansicht in Widerspruch steht. Davon kann hier nicht ausgegangen werden. Die Vorinstanz hat sich
an der Rechtsprechung des BSG orientiert."
Bei Berücksichtigung dieser Vorgaben hätte das SG keinerlei Ermittlungen hinsichtlich der Kausalität zwischen der Impfung und dem als Impfschaden geltend gemachten Gesundheitsschaden
anstellen dürfen. Denn der Beklagte hatte eine erneute Sachprüfung mit Hinweis darauf, dass keine neuen Tatsachen vorgetragen
worden seien, abgelehnt und sich auf die Bestandskraft seiner früheren, rechtskräftigen und ablehnenden Entscheidung berufen.
Das SG hätte daher die Klage bereits nach Feststellung der Tatsache, dass der Beschwerdeführer zum Überprüfungsantrag keinerlei
neuen Tatsachen vorgetragen hatte und dass die bestandskräftig gewordene Entscheidung, die bis hin zum BSG Bestand gehabt hatte, zutreffend war, abweisen müssen.
3.2. Verfahrensrechtlich objektiv unrichtige Sachbehandlung durch das SG
Das SG hat die Einholung des Gutachtens gemäß §
109 SGG weder abgelehnt noch zumindest den Beschwerdeführer vor Auftragserteilung darauf hingewiesen, dass dieses Gutachten nicht
von Entscheidungsrelevanz werden könne. Dazu wäre es aber verfahrensrechtlich gehalten gewesen.
Das SG hätte die Einholung des Gutachtens gemäß §
109 SGG bei rechtlich zuzutreffender Würdigung des Sach- und Rechtsstands ablehnen können.
Der Senat kann dem SG nicht folgen, wenn dieses davon ausgeht, dass ein Ablehnungsgrund nach §
109 Abs.
2 SGG nicht gegeben gewesen wäre, und damit zum Ausdruck bringen will, dass es für das SG keine Möglichkeit gegeben hätte, dem Antrag gemäß §
109 SGG nicht zu folgen. Denn nach ständiger Rechtsprechung kann ein Antrag gemäß §
109 SGG auch dann abgelehnt werden, wenn es auf die Frage, zu der der gemäß §
109 SGG benannte Arzt Stellung nehmen soll, überhaupt nicht ankommt (vgl. BSG, Urteile vom 14.03.1956, Az.: 9 RV 226/54, und vom 20.04.2010, Az.: B 1/3 KR 22/08; Keller, a.a.O., § 109, Rdnr. 10a.).
Das SG hat den Beschwerdeführer vor Erteilung des Gutachtensauftrags gemäß §
109 SGG nicht darauf hingewiesen, dass das Gutachten gemäß §
109 SGG nicht von rechtlicher Bedeutung für die zu treffende Entscheidung des Gerichts im Rahmen des Klageverfahrens sein könne,
obwohl dies für das Gericht objektiv erkennbar gewesen wäre.
Sofern das SG im angefochtenen Beschluss darauf hingewiesen hat, dass das SG im Klageverfahren den Antrag des anwaltlich vertretenen Beschwerdeführers gemäß §
109 SGG nicht angeregt oder auf diese Möglichkeit nicht aufmerksam gemacht habe, kann damit die Ablehnung einer Kostenübernahme nicht
begründet werden. Der Senat sieht grundsätzlich keinen Anlass, eine Kostenübernahme wegen objektiv unrichtiger Sachbehandlung
von einem expliziten und unrichtigen Hinweis des Gerichts auf §
109 SGG abhängig zu machen. Dies gilt umso mehr, wenn - wie hier - das SG durch die zuvor erfolgte Einholung eines Gutachtens von Amts wegen dem Beschwerdeführer den falschen Eindruck vermittelt
hat, dass die vom Sachverständigen zu beantwortenden Fragen im Klageverfahren entscheidungserheblich wären, und den Beschwerdeführer
dadurch dazu veranlasst hat, zur Wahrung seiner prozessualen Rechte und Möglichkeiten einen Antrag gemäß §
109 SGG zu stellen. Insofern liegt schon in der Einholung eines Gutachtens gemäß §
106 SGG eine objektiv unrichtige Sachbehandlung des Gerichts, die Anlass zu einem Antrag gemäß §
109 SGG gegeben hat.
3.3. Keine Verjährung oder Verwirkung
Daran, dass der Antrag auf Kostenübernahme gemäß §
109 SGG nicht verjährt oder verwirkt ist, bestehen nicht die geringsten Zweifel.
Eine Ausschlussfrist für diesen Antrag und damit faktisch eine Verjährung eines Kostenübernahmeanspruchs sehen die gesetzlichen
Regelungen nicht vor (vgl. Keller, a.a.O., § 109, Rdnr. 16).
Wenn das SG auf den Gesichtspunkt der Verwirkung hinweist und damit zu erkennen gibt, dass ein Antragsrecht auf Kostenübernahme nach
dem allgemeinen Grundsatz von Treu und Glauben (entsprechend §
242 Bürgerliches Gesetzbuch) im extremen Ausnahmefall rechtsmissbräuchlich und damit verwirkt sein könnte, kann davon jedenfalls in der vorliegenden
Konstellation keinesfalls ausgegangen werden. Es ist zwar richtig, dass die Einholung des Gutachtens gemäß §
109 SGG, für das jetzt die Kostenübernahme auf die Staatskasse begehrt wird, mehr als eineinhalb Jahrzehnte zurückliegt. Damit beginnt
aber noch keine Verwirkungsfrist für den Kostenübernahmeantrag zu laufen. Denn zu berücksichtigen ist, dass bei der Entscheidung
über die Kostenübernahme auch die Erkenntnisse einzufließen haben, die sich erst im anschließenden Berufungsverfahren ergeben
haben (vgl. oben Ziff. 1.). Da das Verfahren in der Berufungsinstanz erst Ende letzten Jahres beendet worden ist und ein fundiert
begründeter Kostenübernahmeantrag daher frühestens im November 2014 möglich war, liegt eine Verwirkung fern.
Es bestehen daher keine Zweifel daran, dass die Kosten des Gutachtens des Prof. Dr. S. auf die Staatskasse zu übernehmen sind.
Lediglich der Vollständigkeit halber, ohne dass dies für die Entscheidung noch von Bedeutung wäre, weist der Senat darauf
hin, dass - jedenfalls aus Sicht des SG bei Erlass des Gerichtsbescheids vom 20.01.2000 - davon auszugehen wäre, dass das Gutachten gemäß §
109 SGG die Sachaufklärung objektiv wesentlich gefördert hat. Nicht von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang, dass - worauf das SG im angefochtenen Beschluss hinweist - aus Sicht des Beschwerdeführers von einer wesentlichen Sachaufklärung nicht ausgegangen
worden sein dürfte, was das SG ersichtlich darauf stützt, dass der Beschwerdeführer selbst versucht hat, eine gerichtliche Verwertung dieses für ihn negativen
Gutachtens zu verhindern. Denn auf eine rein klägerische Sicht darf nicht abgestellt werden. Vielmehr ist, jedenfalls im Fall
einer gerichtlichen Entscheidung, bei der Beurteilung der Wesentlichkeit der Sachaufklärung darauf abzustellen, ob das Gericht
selbst durch das Gutachten gemäß §
109 SGG wesentliche neue Erkenntnisse gewonnen hat. Davon wäre im vorliegenden Fall auszugehen. Das SG hat sich in den kurzen allgemeinen Ausführungen in den Entscheidungsgründen seines Gerichtsbescheids vom 20.01.2000 gleichermaßen
auf das Gutachten gemäß §
106 SGG als auch auf das gemäß §
109 SGG gestützt, was noch keinen Hinweis auf wesentlich neue Erkenntnisse des Gutachtens gemäß §
109 SGG liefert. Sofern aber daran anschließend in den Gründen des Gerichtsbescheids detaillierte Erläuterungen gegeben werden, sind
diese Begründungen wortwörtlich dem Gutachten gemäß §
109 SGG entnommen und so oder in ähnlicher Weise im Gutachten gemäß §
106 SGG nicht enthalten. So finden sich die Formulierungen von Seite 9 des Gutachtens (dort ab Zeile drei bis zur viertletzten Zeile)
exakt wieder auf Seite 6 des Gerichtsbescheids (dort erste bis letzte Zeile). Ganz offensichtlich war also das Gutachten gemäß
§
109 SGG für das SG die wesentliche Entscheidungsgrundlage, nicht aber das Gutachten gemäß §
106 SGG.
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf der entsprechenden Anwendung von §
193 Abs.
1 SGG (vgl. Beschlüsse des Senats vom 09.02.2009, Az.: L 15 SB 12/09 B, und vom 12.03.2012, Az.: L 15 SB 22/12 B).
Diese Entscheidung ist gemäß §
177 SGG endgültig.