LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 24.07.2015 - 1 KR 246/12
Missbräuchlichkeit einer Leistungsinanspruchnahme in der gesetzlichen Krankenversicherung nach einer Rückkehr ins Inland nach
einem Auslandsaufenthalt
1. Allein die Tatsache, dass Anspruch auf Krankenbehandlung auf der Grundlage einer gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V im Anschluss an einen Auslandaufenthalt entstehenden Versicherungspflicht besteht, kann nicht ausreichen, um einen Anspruchsausschluss
nach § 52a SGB V zu begründen.
2. Nach dem Wortlaut des Gesetzes ist dafür zusätzlich erforderlich, dass sich der Versicherte in den Geltungsbereich des
SGB V begeben hat, um missbräuchlich Leistungen aus der Versicherung in Anspruch zu nehmen.
3. Nach der Rechtsauffassung des Senats bezieht sich das Tatbestandsmerkmal der Missbräuchlichkeit schon sprachlich-grammatikalisch
auf die Inanspruchnahme von Leistungen.
4. Demnach kommt es nicht darauf an, ob der Versicherte sich mit Recht oder sonstigen guten Gründen in das Inland begeben
hat, sondern ob die Inanspruchnahme von Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung sachlich hinreichend gerechtfertigt
erscheint.
Fundstellen: NZS 2015, 946
Vorinstanzen: SG Berlin 24.04.2012 S 76 KR 448/11
Auf die Berufung des Klägers werden das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 24. April 2012 sowie der Bescheid der Beklagten
vom 13. September 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9. Februar 2011 aufgehoben. Es wird festgestellt, dass
kein Leistungsausschluss nach § 52a SGB V seit dem 29. Juni 2010 wegen der Erkrankungen Infektion und entzündliche Reaktion durch eine Gelenkendoprothese, Diabetes
mellitus und Gicht eingetreten ist.
Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten des Klägers zu tragen.
Die Revision wird zugelassen.
Entscheidungstext anzeigen:
Tatbestand:
Streitig ist, ob der Kläger Leistungsansprüche gegen die Beklagte hat.
Der im Dezember 1935 geborene Kläger legte bis 1990 im Inland Pflichtbeitragszeiten zur Rentenversicherung wegen abhängiger
Beschäftigung zurück. Während dieser Zeit war er bei der Beklagten gesetzlich krankenversichert. 1990 verzog er nach Thailand,
wo er keine Krankenversicherung hatte. Seit dem 1. Januar 2001 erhielt er von der damaligen Bundesversicherungsanstalt für
Angestellte Regelaltersrente nach Thailand in Höhe von zunächst 1.428,23 DM.
Im Jahr 2005 erlitt der Kläger in Thailand eine Schenkelhalsfraktur. Daraufhin wurde ihm dort eine Totalendoprothese eingesetzt.
Der Eingriff führte zu Komplikationen. Seitdem litt der Kläger wegen der Gelenkendoprothese an einer chronischen Fistel mit
Ausfluss von Eiter sowie an Infektionen und entzündlichen Reaktionen.
Am 29. Juni 2010 kehrte der Kläger nach Berlin zurück. Er hatte sich vorher mit Schreiben vom 18. Juni 2010 an das Erzbischöfliche
Ordinariat B mit der Bitte um Unterstützung gewandt und dabei angegeben, dass er wegen eines Oberschenkelhalsbruchs gehbehindert
sei. Am 30. Juni 2010 stellte er sich zur Versorgung in der Charité vor, wo er am 1. Juli 2010 aufgefordert wurde, bei der
Beklagten wegen des Bestehens einer Pflichtversicherung vorzusprechen. Seit dem 2. Juli 2010 war der Kläger in dem Pro Seniore
Krankenheim Mstraße aufgenommen und meldete sich mit dortigem Wohnsitz am 14. Juli 2010 behördlich an. Er beantragte bei der
Beigeladenen Leistungen der Sozialhilfe, die sie ihm mit Bescheid vom 24. September 2010 ab dem 2. Juli 2010 gewährte.
Mit Begrüßungsschreiben vom 4. August 2010 wies die Beklagte den Kläger darauf hin, dass er ab dem 14. Juli 2010 ihr Mitglied
sei. Mit Bescheid vom 6. August 2010 setzte sie Beiträge zur Krankenversicherung in Höhe von 126,95 EUR fest, welche sie auf
der Grundlage der tatsächlich bezogenen Rente in Höhe von 800,29 EUR und einem Auffüllbetrag bis zu dem Mindesteinkommen für
freiwillig Versicherte errechnete. Die Beiträge aus der Rente wurden vom Rentenversicherungsträger einbehalten und abgeführt,
der auf den Auffüllbetrag entfallenden Beitragsanteil jeweils von dem Beigeladenen an die Beklagte überwiesen.
Vom 30. Juli 2010 bis zum 15. Oktober 2010 wurde der Kläger wegen seines Hüftgelenks im S G Krankenhaus behandelt. Die Beklagte
sandte ihm ein Anhörungsschreiben vom 24. August 2010, mit dem sie darauf hinwies, dass nach § 52a SGB V kein Anspruch auf Leistungen bestehe, die missbräuchlich in Anspruch genommen würden. Ein Missbrauch liege insbesondere vor,
wenn Wohnsitz oder gewöhnlicher Aufenthalt in Deutschland lediglich begründet wurde, um Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung
in Anspruch zu nehmen. Durch Bescheid vom 13. September 2010 sprach die Beklagte einen Leistungsausschluss für die bei dem
Kläger zum Zeitpunkt seiner Einreise nach Deutschland bestehenden Erkrankungen aus. Das betraf die Erkrankungen Infektion
und entzündliche Reaktion durch eine Gelenkendoprothese, Diabetes Mellitus und Gicht. Der Kläger erhob Widerspruch, mit dem
er insbesondere geltend machte, dass das Anhörungsscheiben ihn wegen seines Krankenhausaufenthaltes nicht erreicht habe.
Die Beklagte wies den Widerspruch durch Widerspruchsbescheid vom 9. Februar 2011 zurück. Die Inanspruchnahme der gesetzlichen
Krankenversicherung sei missbräuchlich, wenn die Anspruchsverschaffung mit dem Wertgefüge des Sozialsystems nicht in Einklang
zu bringen sei. Zwar habe der Kläger das Recht, jederzeit von außen nach Deutschland zurückzukehren und seinen Wohnort frei
zu wählen. Dies führe jedoch nicht zwangsläufig zu Leistungsansprüchen gegen die gesetzliche Krankenversicherung: Aus dem
Pro Seniore Krankenheim sei bestätigt worden, dass Grund der Rückkehr des Klägers nach Deutschland vor allem die dauernde
Entzündung und die hierdurch hochgradige einschränkende Gehfähigkeit war. Nachdem der Kläger sich in Thailand nicht mehr habe
medizinisch versorgen können und auch offensichtlich nicht versichert gewesen sei, sei die Rückkehr nach Deutschland erfolgt,
um medizinische Leistungen in Anspruch zu nehmen. Daraus ergebe sich der Missbrauch. Die erste Behandlung sei bereits am 30.
Juni 2010 / 1. Juli 2010 erfolgt. Die Absicht der Inanspruchnahme ergebe sich bereits aus dem Umstand der Behandlungsbedürftigkeit.
Der Kläger habe die Rückkehr nach Deutschland ganz konkret an Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung geknüpft. Er
habe nach eigenen Angaben keine Kontakte (Bekannte oder Verwandte) in Deutschland gehabt. Daraus folge zwingend der Leistungsausschluss.
Ein Ermessen stehe der Beklagten bei der Anwendung der Vorschrift nicht zu.
Mit der am 22. Februar 2001 bei dem Sozialgericht Berlin eingegangenen Klage begehrt der Kläger die Aufhebung des Bescheides
vom 13. September 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9. Februar 2011 und die Feststellung, dass kein Leistungsausschluss
eingetreten ist.
Das Sozialgericht hat die Klage durch Urteil vom 24. April 2012 abgewiesen. Die angefochtenen Bescheide seien rechtmäßig.
Ausreichend für eine Anhörung sei, dass der Kläger im Widerspruchsverfahren ausreichend Gelegenheit zur Stellungnahme gehabt
und diese Möglichkeit auch wahrgenommen habe. Die Voraussetzungen für einen Leistungsausschluss nach § 52a SGB V lägen vor. Nach der genannten Vorschrift bestehe kein Anspruch auf Leistungen, wenn sich Personen in den Geltungsbereich
des SGB V begeben, um in einer Versicherung nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V oder aufgrund dieser Versicherung in einer Versicherung nach § 10 SGB V missbräuchlich Leistungen in Anspruch zu nehmen. Das Nähere sei durch Satzung der Krankenkasse zu regeln. Der Kläger habe
sich in den Geltungsbereich des SGB V begeben, um missbräuchlich Leistungen von der Beklagten in Anspruch zu nehmen. Er sei gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V seit dem 29. Juni 2010 pflichtversichert, weil er keinen anderweitigen Anspruch auf Absicherung im Krankheitsfall hatte und
zuletzt gesetzlich versichert war. Vor seiner Ausreise nach Thailand sei der Kläger bei der Beklagten gesetzlich versichert
gewesen. Die Versicherungspflicht sei auch nicht ausgeschlossen, weil er Empfänger laufender Leistungen nach dem SGB XII sei. Zwar seien durch Bescheid vom 21. September 2010 rückwirkend ab dem 2. Juli 2010 Leistungen nach dem 7. Kapitel SGB XII bewilligt worden. Zu diesem Zeitpunkt sei der Kläger bereits nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V gesetzlich versichert gewesen. Denn die Mitgliedschaft beginne mit dem ersten Tag ohne anderweitigen Anspruch auf Absicherung
gegen Krankheit im Inland. Der Kläger sei bereits am 29. Juni 2010 in die Bundesrepublik Deutschland eingereist und habe hier
seinen gewöhnlichen Aufenthalt begründet. Zu diesem Zeitpunkt habe er noch keinen anderweitigen Anspruch gehabt. Daran ändere
nichts, dass ihm rückwirkend ab dem 2. Juli 2010 Leistungen nach dem 7. Kapitels des SGB XII bewilligt wurden, womit grundsätzlich eine Versorgung im Krankheitsfall nach § 264 SGB V einhergehe. Soweit gesetzlich bestimmt sei, dass die Mitgliedschaft der in § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V genannten Personen mit Begründung eines anderweitigen Anspruches auf Absicherung im Krankheitsfall ende, gelte das nicht
für Mitglieder, die Empfänger von Leistungen nach dem 3., 4., 6. und 7. Kapitel des SGB XII seien.
Die Kammer sei nach den in der mündlichen Verhandlung abgegebenen Erklärungen davon überzeugt, dass der Kläger sich in den
Geltungsbereich des SGB V begeben habe, um Leistungen missbräuchlich in Anspruch zu nehmen. Die Gesetzesbegründung stelle darauf ab, dass die Vorschrift
die Fälle erfasse, in denen Wohnsitz oder gewöhnlicher Aufenthalt in Deutschland lediglich begründet werde, um Leistungen
der gesetzlichen Krankenversicherung in Anspruch nehmen zu können (Hinweis auf BT-Drucks 16/3100, S. 108). Das missbräuchliche
Handeln bestehe gerade in dem Versuch, durch den Inlandsaufenthalt Versicherungsschutz zu erlangen und daraus Leistungen zu
beziehen. Würden weitere Motive für den Inlandsaufenthalt hinzutreten, sei problematisch, ob § 52a SGB V angewandt werden könne. Das Wort "missbräuchlich" beinhalte keine zusätzlichen Anforderungen sondern verdeutliche nur die
in dem Finalsatz enthaltene Struktur. Die Kammer sei davon überzeugt, dass die Behandlung unter Leistungsinanspruchnahme der
Beklagten das einzige Motiv des Klägers für seine Rückkehr nach Deutschland gewesen sei. Der Kläger habe selbst angegeben,
wegen seiner Verletzung zurückgekehrt zu sein. Er habe nämlich in der mündlichen Verhandlung gesagt, dass er ohne Krankheit
wahrscheinlich in Thailand geblieben wäre. Dafür spreche auch die E-Mail der Mitarbeiter des Krankenheimes Pro Seniore, wonach
sich der Kläger deswegen für die Rückkehr nach Deutschland entschieden habe, weil er wegen der andauernden Entzündung und
der dadurch verursachten hochgradigen Einschränkung seiner Gehfähigkeit nicht mehr alleine zurechtkomme. Ebenso deute die
Gesprächsnotiz mit dem Mitarbeiter der Beigeladenen vom 27. Juli 2011, wonach er angegeben habe, dringend behandlungsbedürftig
zu sein, da er ansonsten sein Bein zu verlieren drohe, eindeutig darauf hin, dass er allein zum Zwecke der Behandlung seiner
Hüfte nach Deutschland zurückgekehrt sei. Der Kläger sei aufgrund seiner finanziellen Verhältnisse nicht in der Lage gewesen,
seine Erkrankung anders als durch eine Inanspruchnahme der Beklagten behandeln zu lassen. Andere Motive, die den Kläger zur
Rückkehr nach Deutschland bewegt haben könnten, seien nicht erkennbar. Es treffe nicht zu, dass er in Thailand keine Bindungen
mehr gehabt habe. Nach seinen eigenen Angaben habe er sich in Thailand im Laufe der dort verbrachten Jahre fest verwurzelt
und sich sehr wohl gefühlt. Obwohl seine Lebensgefährtin bereits 1998 verstorben sei, habe er nach seinen Schilderungen dort
noch zwei gute Freunde gehabt. Zudem habe er sich sogar in Thai verständigen können und seien die Lebenshaltungskosten in
Thailand wesentlich geringer gewesen als in Deutschland. Ein Leben, wie er es in Thailand geführt habe, hätte er sich Deutschland
nicht leisten können. Er sei auch nur einmal nach Deutschland zurückgekehrt, nämlich im Jahr 1999, um ein neues Visum zu beantragen.
Soweit der Kläger angegeben habe, dass eine Cousine von ihm in Leipzig lebe, habe das nach Überzeugung der Kammer seinen Entschluss
zur Rückkehr nicht beeinflusst. Dagegen spreche nämlich, dass er sie bisher trotz seiner Rückkehr vor bald zwei Jahren nicht
besucht habe. Auch gegenüber dem Erzbistum B habe er per Fax unmittelbar vor seinem Abflug mitgeteilt, dass er Hilfe benötige,
weil er allein stehend sei, keine Eltern oder Verwandte oder sonstige Kontakte in Deutschland habe. Soweit der Kläger angebe,
dass er sein kulturelles Interesse hier ausleben könne und es für ihn in Deutschland bequemer sei, ändere das nichts an der
Einschätzung der Kammer, dass er mit dem Ziel einer Behandlung seiner Hüfte nach Deutschland zurückgekommen sei. Die Kammer
gehe insoweit davon aus, dass der Kläger die weiteren Vorzüge erst für sich entdeckt habe, nachdem er wieder in Deutschland
lebte. An seiner Absicht ändere schließlich nichts, dass der Kläger nicht mehr vorhabe, wieder nach Thailand zurückzukehren.
Denn die völlige Aufgabe des ausländischen Wohn- oder Aufenthaltsortes stehe der Missbrauchsabsicht nicht entgegen.
Gegen das ihm am 23. Mai 2012 zugestellte Urteil richtet sich die am 19. Juni 2012 bei dem Landessozialgericht Berlin-Brandenburg
eingegangene Berufung des Klägers. Das Sozialgericht habe lediglich festgestellt, dass er - der Kläger - sich auch in den
Geltungsbereich des SGB V begeben habe, um Leistungen missbräuchlich in Anspruch zu nehmen. Das widerlege, dass die Inanspruchnahme von Versicherungsleistungen
der ausschließliche Grund für die Rückkehr gewesen sei. Missachtet habe das Sozialgericht auch, dass bei Heimkehr von deutschen
Staatsangehörigen kein Missbrauch angenommen werden könne, weil diese über ein verfassungsrechtlich verbürgtes Recht auf Rückkehr
verfügten. Zudem habe das Sozialgericht versäumt, die Akten des Betreuungsverfahrens des Amtsgerichts C heranzuziehen und
die dortigen Angaben über ihn - den Kläger - unter Berücksichtigung eines fachärztlichen Gutachtens zu bewerten, das von Frau
Elena Stein am 13. November 2010 erstellt und in dem das Vorliegen eines leichten hirnorganischen Psychosyndroms auf dem Boden
einer kombinierten Persönlichkeitsakzentuierung diagnostiziert worden sei. Er - der Kläger - sei nicht geschäftsfähig. Die
dauerhafte Entzündung sei in Thailand nicht heilbar gewesen, weswegen die Rückkehr in die Heimat durch eine Hilfsorganisation
ermöglicht worden sei. Zudem sei nicht geprüft worden, ob er - der Kläger - überhaupt in Thailand hätte bleiben können. Er
sei nur im Besitz eines Touristenvisums gewesen, habe also keinen gesicherten rechtlichen Aufenthaltsstatus auf unbestimmte
Zeit gehabt. Er sei im Jahr 2010 nach Deutschland zurückgekehrt, weil er großes Heimweh bekommen habe. Er habe einen Freund
und eine Cousine in Leipzig, zu denen er bis heute regelmäßig die Kontakte pflegen würde. Ihm sei es ein großes Bedürfnis
gewesen, wieder in seiner Muttersprache zu kommunizieren. Er habe gewusst, dass er nicht ganz gesund war und es ihm psychisch
nicht gut ginge und sei sich sicher gewesen, dass es ihm zuhause besser gehen werde, weil seine Wurzeln doch in Deutschland
lägen. Diese Umstände hätten dann schließlich überwogen und auch zu der Entscheidung geführt, seine sozialen Kontakte in Thailand
hinter sich zu lassen. Über mögliche Behandlungen und den Lebensunterhalt habe er - der Kläger - in dieser emotionalen Situation
nicht nachgedacht. Er habe schlicht nach Hause gewollt.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 24. April 2012 sowie den Bescheid der Beklagten vom 13. September 2010 in der Gestalt
des Widerspruchsbescheides vom 9. Februar 2011 aufzuheben und festzustellen, dass ein Leistungsausschluss nach § 52a SGB V seit dem 29. Juni 2010 wegen der Erkrankungen Infektion und entzündliche Reaktion durch eine Gelenkendoprothese, Diabetes
mellitus und Gicht nicht besteht.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält die Entscheidung des Sozialgerichts für zutreffend.
Für die weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und die im Verwaltungsvorgang betreffende
Akte der Beklagten verwiesen, wie vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung hat Erfolg. Zu Unrecht hat das Sozialgericht die Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 13. September
2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9. Februar 2011 abgewiesen. Die Beklagte war nicht berechtigt, den Ausschluss
des Klägers von einer Behandlung wegen der Diagnosen Infektion und entzündliche Reaktion durch eine Gelenkendoprothese, Diabetes
Mellitus und Gicht auszusprechen.
Die angefochtenen Bescheide finden keine Rechtsgrundlage in § 52a SGB V. Nach dieser Vorschrift besteht nur dann kein Anspruch auf Leistungen, wenn sich Personen in den Geltungsbereich des SGB V begeben, um in einer Versicherung nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V oder in einer von einer solchen Versicherung abgeleiteten Familienversicherung missbräuchlich Leistungen in Anspruch zu nehmen.
Die Satzung der Beklagten enthält zu dieser Bestimmung keine näheren Vorgaben.
Die gesetzlichen Voraussetzungen eines Anspruchsausschluss sind nicht gegeben. Der Kläger war zwar nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V bei der Beklagten versichert. Denn er hatte keinen anderweitigen Anspruch auf Krankenversicherung und war zuletzt während
seines Aufenthaltes in Deutschland gesetzlich krankenversichert. Der Aufenthalt in Thailand zählt insoweit schon deswegen
nicht als erheblicher Wechsel des Versicherungsstatus, weil der Kläger dort nicht krankenversichert war. Auf die zwischen
dem vorherigen Versicherung und dem Wiedereintritt verstrichene Zeit kommt es nicht an (Just in Becker/Kingreen, SGB V, 4. Aufl., § 5 Rn 66). Die Mitgliedschaft des Klägers bei der Beklagten begann nach § 186 Abs. 11 SGB V mit der Einreise des Klägers in das Inland am 29. Juni 2000. Die nachfolgende Bewilligung von Sozialhilfe durch Bescheid
vom 21. September 2010 rückwirkend ab dem 2. Juli 2000 setzte nach dem Beginn der Versicherungspflicht ein und führte deswegen
nicht nach § 190 Abs. 13 SGB V zu einer Beendigung der Mitgliedschaft bei der Beklagten.
Die Voraussetzungen des § 52a SGB V sind weiter insoweit erfüllt, als die Versicherung nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V dadurch entstanden ist, dass der Kläger sich aus dem Ausland kommend in den Geltungsbereich des SGB V begeben hat. Allein die Tatsache, dass Anspruch auf Krankenbehandlung auf der Grundlage einer gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V im Anschluss an einen Auslandaufenthalt entstehenden Versicherungspflicht besteht, kann aber nicht ausreichen, um einen Anspruchsausschluss
nach § 52a SGB V zu begründen. Nach dem Wortlaut des Gesetzes ist dafür zusätzlich erforderlich, dass sich der Versicherte in den Geltungsbereich
des SGB V begeben hat, um missbräuchlich Leistungen aus der Versicherung in Anspruch zu nehmen.
Nach der Vorstellung des historischen Gesetzgebers (BT-Drucks 16/3100 S. 108) soll durch § 52a SGB V die Solidargemeinschaft der Versicherten vor einer missbräuchlichen Inanspruchnahme von Leistungen durch Personen im Rahmen
der neu eingeführten Versicherungspflicht nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V geschützt werden. Erfasst werden sollen Fälle, in denen der Wohnsitz oder der gewöhnliche Aufenthalt in Deutschland lediglich
begründet wird, um Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung in Anspruch nehmen zu können. In diesen Fällen sei es nicht
gerechtfertigt, z.B. aufwändige hochtechnisierte Operationen wie Organtransplantation zu Lasten der Versichertengemeinschaft
zu erbringen. Nicht von dem Leistungsausschluss betroffen sollen dagegen die zur Behandlung akuter Erkrankungen und Schmerzzustände
erforderlichen ärztlichen und zahnärztlichen Behandlungsleistungen sein. Die Kommentar-Literatur versteht die Vorschrift verbreitet
dahin gehend, dass eine missbräuchliche Absicht stets vorliege, wenn alleiniger Zweck der Wohnsitznahme in Deutschland die
Inanspruchnahme von Leistungen der Krankenversicherung gewesen sei (KassKomm-Höfler, § 52a SGB V Rn 6; Krauskopf, § 52a SGb V Rn 8/9; Reyels in jurisPK SGB V, 2. Aufl., § 52a Rn 10). Weitere Bedeutung soll dem Tatbestandsmerkmal der Missbräuchlichkeit dabei nicht zukommen (Sonnhoff in Hauck/Noftz,
SGB V § 52a Rn 9). Nach anderen Stimmen soll die Vorschrift ohne praktischen Anwendungsbereich sein (Lang in Becker/Kingreen, SGB V, 4. Aufl., § 52a Rn 4; Padé in Eichenhofer/Wenner, SGB V § 52 Rn 33). Darüber hinaus wird vertreten, dass bei einer Rückkehr von deutschen Staatsangehörigen aus dem Ausland das Vorliegen
von Missbrauch stets zu verneinen sei, weil deutsche Staatsangehörige von Verfassung wegen das Recht zur Rückkehr in ihr Heimatland
hätten (Linke, NZS 2008, S. 346 mit Fußnote 28).
Nach der Rechtsauffassung des Senats bezieht sich das Tatbestandsmerkmal der Missbräuchlichkeit schon sprachlich-grammatikalisch
auf die Inanspruchnahme von Leistungen. Demnach kommt es nicht darauf an, ob der Versicherte sich mit Recht oder sonstigen
guten Gründen in das Inland begeben hat, sondern ob die Inanspruchnahme von Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung
sachlich hinreichend gerechtfertigt erscheint. Der Gesetzesbegründung (aaO.) ist zu entnehmen, dass Maßstab für das Vorliegen
eines Missbrauches die Abwehr von Belastungen der Solidargemeinschaft der Versicherten ist. Allerdings kann nicht jede Leistungspflicht
als abzuwehrende Belastung angesehen werden, da es im Gegenteil gerade Aufgabe der Solidargemeinschaft gesetzliche Krankenversicherung
ist, ihre Angehörigen bei Eintritt des Versicherungsfalles durch die Gewährung von Leistungen zu unterstützen. Auch nach der
Gesetzesbegründung wird durch § 52a SGB V nicht jegliche Leistung der Krankenversicherung ausgeschlossen. Die Einstandspflicht für akute Erkrankungen und Schmerzustände
wird vielmehr ausdrücklich bestätigt. Die dahinterstehende Erwägung ist offensichtlich, dass akute Erkrankungen und Schmerzzustände
immer auftreten können, so dass für das Einstehenmüssen der Solidargemeinschaft in diesen Fällen ausreicht, dass sich ein
Erkrankter zufällig gerade in dem räumlichen Geltungsbereich des SGB V befindet. Werden aber über eine Akutbehandlung hinausgehende Leistungen in Anspruch genommen, erscheint die Inanspruchnahme
der gesetzlichen Krankenversicherung sachlich nur angemessen, wenn bereits über den zufälligen Aufenthalt im Inland hinausgehende
Beziehungen zu der Versichertengemeinschaft aufgebaut worden sind oder zumindest in Zukunft noch aufgebaut werden. Die Inanspruchnahme
von über eine Akutbehandlung hinausgehenden Versicherungsleistungen erscheint so nur dann missbräuchlich, wenn dafür nicht
als Gegenleistung auch entsprechende Versicherungsbeiträge über einen längeren Zeitraum entrichtet werden. Eine solche Konstellation
wäre etwa gegeben, wenn ein Patient sich erstmals anlässlich einer aufwändigen Krankenbehandlung im Inland aufhält und dieses
nach Abschluss der Behandlung wieder verlässt. Solche Fälle haben dem Gesetzgeber ausweislich der Gesetzesbegründung bei Einführung
der Vorschrift auch vor Augen gestanden.
Vorliegend nimmt der Kläger aber nicht nur die Leistungen der Solidargemeinschaft gesetzliche Krankenversicherung in Anspruch.
Er hat bereits in der Vergangenheit, bevor er nach Thailand ausgereist ist, langjährig Beiträge zur deutschen Sozialversicherung
entrichtet und tut dies nach seiner Rückkehr nach Deutschland weiter. Gemäß §§ 227, 240 Abs. 3 SGB V muss er wie ein freiwillig Versicherter Beiträge aus seiner Rente entrichten. Es ist nicht absehbar, dass diese Beitragspflicht
jemals wieder infolge einer Ausreise des Klägers aus Deutschland zum Erliegen kommen wird. Der Kläger ist damit (wieder) langfristig
Teil der Versichertengemeinschaft geworden. Nach Auffassung des Senats liegt aus diesem Grund schon objektiv keine missbräuchliche
Inanspruchnahme der Beklagten vor. Auf die Frage, welche subjektiven Anforderungen an das Vorliegen einer solchen Absicht
zu stellen wären, kommt es dann nicht an. Ohne das Vorliegen eines objektiven Missbrauchstatbestands kann es keine missbräuchliche
Inanspruchnahme geben. Allein die unzutreffende Vorstellung eines Versicherten, die Solidargemeinschaft der Versicherten über
Gebühr auszunutzen, berechtigt eine Krankenkasse auch nach der Rückkehr des Versicherten aus dem Ausland nicht dazu, ihm Leistungen
zu versagen.
Im Übrigen weist der Senat darauf hin, dass ein auf die Inanspruchnahme von Leistungen auf der Grundlage einer Versicherung
nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V gerichteter Vorsatz dem Kläger schon deswegen nicht nachgewiesen werden kann, weil dieser Vorsatz auch das Wissen umfassen
müsste, nach § 5 Abs.1 Nr. 13 SGB V (wieder) Mitglied der gesetzlichen Krankenversicherung zu sein (Padé in Eichenhofer/Wenner, SGB V § 52 Rn 13). Selbst unter dem Gesichtspunkt einer Parallelwertung in der Laiensphäre kann dem Kläger ein solches Wissen nicht
unterstellt werden. Der Kläger hatte sich vor seiner Rückkehr nach Deutschland nicht an die Beklagte, sondern an die Kirche
gewandt. Nach Aktenlage wurde er erst in der C darauf aufmerksam gemacht, dass seine Mitgliedschaft bei der Beklagten bestehen
kann. Er selbst hatte also keine Kenntnis davon, dass er nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V versicherungspflichtig wurde. Dadurch wird widerlegt, dass er nach Deutschland zurückkehrte, um auf der Grundlage dieses
Versicherungspflichttatbestandes Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung in Anspruch zu nehmen. Gegen die Annahme,
dass er allein deswegen nach Deutschland zurückgekehrt ist, um Behandlungsleistungen in Anspruch zu nehmen, spricht weiter,
dass der Kläger schon in Thailand behandelt worden ist. Bereits vor dem Sozialgericht hat er angegeben, dass er nicht wegen
der besseren medizinischen Versorgung nach Deutschland zurückgekommen ist, sondern weil er davon ausging, dass seine Wunde
im deutschen Klima besser heilen würde.
Angesichts der langjährigen Verbundenheit mit den deutschen Lebensverhältnisses kann zudem nicht ausgeschlossen werden, dass
der Kläger in Kenntnis der bei ihm bestehenden gesundheitlichen und altersbedingten Einschränkungen zurückkehrte, weil ihm
für seinen Lebensabend eine Anpassung an die ihm von Kindheit an bekannten deutschen Verhältnisse schlicht weniger aufwendig
erschien.
Nach alledem waren auf die Berufung des Klägers hin das Urteil des Sozialgerichts sowie die angefochtenen Bescheide der Beklagten
aufzuheben.
Die Kostenentscheidung ergeht entsprechend § 193 SGG.
Der Senat hat die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG).
|