Pflegeversicherung
Anspruch auf zusätzliche Betreuungs- und Entlastungsleistungen
Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege und der hauswirtschaftlichen Versorgung
Auswirkungen auf die Aktivitäten des täglichen Lebens
Dauerhafte Einschränkung der Alltagskompetenz
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist der Anspruch der Klägerin auf zusätzliche Betreuungs- und Entlastungsleistungen nach dem Sozialgesetzbuch
Elftes Buch (
SGB XI) streitig.
Die Klägerin, geboren im Jahr 1979, ist bei der Beklagten seit dem 1. November 2013 pflegeversichert.
Mit Schreiben ihres Prozessbevollmächtigten vom 17. Februar 2015 beantragte die Klägerin zunächst bei der IKK classic Leistungen
nach der Pflegestufe 0 wegen Verlust der Alltagskompetenz. Aufgrund nicht behandelter Vergewaltigungen und einer schweren
Kindheit sei die Klägerin traumatisiert. Zudem werde sie von ihrem Ex-Freund verfolgt. Die Polizei habe keine Handlungsmöglichkeiten
gesehen. Die Klägerin leide an Ängsten. Ihr neuer Freund kaufe für sie ein und erledige mit ihr Wege. Ohne fremde Hilfe könne
die Klägerin nichts mehr erledigen und sich nicht selbst versorgen.
Die IKK classic veranlasste eine Begutachtung der Klägerin durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung in Hessen
(im Weiteren: MDK), die am 18. März 2015 im häuslichen Bereich erfolgte. Der MDK führte in seinem Gutachten vom 23. März 2015
aus, die Klägerin lebe nach eigenen Angaben seit ca. 1 ½ Jahren mit ihrem jetzigen Lebenspartner zusammen. Sie habe anlässlich
der Untersuchung über soziale Kontaktschwierigkeiten und Überforderung bei behördlichen Angelegenheiten berichtet. Während
früherer Beziehungen sei es zu häuslicher Gewalt sowie Vergewaltigungen gekommen. Eine psychotherapeutische Behandlung habe
bislang nicht stattgefunden. Die Klägerin verlasse die Wohnung nur ungern und wenn, nur in Begleitung. Pflegerelevante kognitive
Einschränkungen seien nicht erkennbar. Die Klägerin sei zu allen Qualitäten voll orientiert. Sie habe bei dem Hausbesuch alle
Fragen in aller Ausführlichkeit richtig beantwortet. Die Grundpflege erfolge uneingeschränkt selbständig. Die Klägerin leide
unter Angstzuständen, schildere Wahnideen mit Verfolgungswahn. Der Kontakt sei auf die Bezugsperson beschränkt. In dem Gutachten
wird als pflegebegründete Diagnose nach ICD-10 F54 [psychologische Faktoren oder Verhaltensfaktoren bei anderorts klassifizierten
Krankheiten] genannt. Bei der Klägerin bestehe eine Auffälligkeit in den Bereichen "Stimmung", "Wahrnehmung und Denken" und
"Soziale Bereiche des Lebens wahrnehmen". Aus diesen Auffälligkeiten resultiere kein regelmäßiger und auf Dauer angelegter
Beaufsichtigungs- und Betreuungsbedarf. Ein solcher bestehe nur punktuell und situationsabhängig. Es bestehe weder eine Pflegebedürftigkeit
noch sei die Alltagskompetenz der Klägerin erheblich eingeschränkt.
Die IKK classic lehnte mit Bescheid vom 25. März 2015 die Gewährung von zusätzlichen Betreuungsleistungen auf der Grundlage
des Ergebnisses der Begutachtung durch den MDK ab.
Dagegen erhob der Prozessbevollmächtigte der Klägerin Widerspruch mit der Begründung, bei der Klägerin bestehe ein erheblicher
Betreuungsbedarf. Sie komme allein nicht mehr zurecht. Vor dem Amtsgericht Kirchhain laufe ein Verfahren auf Einrichtung einer
gesetzlichen Betreuung. Die Klägerin könne in ihrer Wohnung zwar alles erledigen, aber außerhalb dieser nichts ohne ihren
Lebenspartner. Auch könne sie keinen Kontakt nach außen aufnehmen. Der Lebenspartner müsse sie nachts beruhigen, weil sie
schweißgebadet aufwache und panische Angst habe.
Auf der Grundlage des Gutachtens von Dr. med. D. vom 15. April 2015 bestellte das Amtsgericht Kirchhain mit Beschluss vom
12. Mai 2015 Herrn Rechtsanwalt C. zum Betreuer der Klägerin für die Aufgabenkreise: Sorge für die Gesundheit, Vermögenssorge,
Wohnungsangelegenheiten, Rechts- / Antrags- und Behördenangelegenheiten.
Die IKK classic beauftragte den MDK erneut mit einer Begutachtung der Klägerin, die am 8. Juli 2015 im häuslichen Bereich
stattfand. Der MDK bestätigte mit Gutachten vom 9. Juli 2015 sein früheres Gutachten. Seit der letzten Begutachtung habe weder
eine stationäre noch eine ambulante Behandlung der Klägerin stattgefunden. Sie leide weiterhin unter den berichteten Ereignissen.
Ergänzend habe sie angegeben, unter Vergesslichkeit und Konzentrationsstörungen zu leiden. Im Gutachten werden nunmehr als
pflegerelevante Diagnosen nach ICD-10 F60 [Spezifische Persönlichkeitsstörungen] und ICD-10 F43 [Reaktionen auf schwere Belastungen
und Anpassungsstörungen] aufgeführt und Auffälligkeiten der Klägerin in den Bereichen "Stimmung", "Gedächtnis", "Tag- / Nachtrhythmus"
und "Soziale Bereiche des Lebens wahrnehmen" festgestellt. Zwar resultiere aus mindestens einer der festgestellten Auffälligkeiten
ein regelmäßiger und auf Dauer angelegter Beaufsichtigungs- und Betreuungsbedarf, jedoch sei die Alltagskompetenz der Klägerin
nicht erheblich eingeschränkt, da der Beaufsichtigungs- und Betreuungsbedarf nur punktuell und situationsabhängig bestehe
und nicht regelmäßig und dauerhaft sei. Es bestehe weder eine Pflegebedürftigkeit noch eine erhebliche Einschränkung der Alltagskompetenz.
Dagegen wandte der Prozessbevollmächtigte der Klägerin ein, nicht umsonst sei für die Klägerin eine Betreuung eingerichtet
worden, die auch den Bereich der Gesundheitsfürsorge umfasse. Die Klägerin könne dafür selbst nicht Sorge tragen. Ergänzend
wurde der IKK classic das psychiatrische Gutachten von Dr. med. D. vom 15. April 2015 in Auszügen und das amtsärztliche Gutachten
von Fr. Dr. med. E. (Gesundheitsamtes der Landkreises Marburg-Biedenkopf) vom 26. Juni 2015 zur Frage der Erwerbsfähigkeit
der Klägerin vorgelegt. Dr. med. D. kam in seinem Gutachten vom 15. April 2015 zu dem Ergebnis, es bestehe der Verdacht auf
Posttraumatische Belastungsstörung [ICD-10 F43] und DD: Ängstlich-depedente Persönlichkeitsstörung [ICD-10 F60.7]; dies begründe
eine psychische Krankheit im Sinne von §
1896 Abs.
1 BGB. Eine wesentliche Beeinträchtigung der Willensbildung bestehe nicht. Die Fähigkeit, nach gewonnener Einsicht zu handeln,
sei moderat beeinträchtigt. Frau Dr. med. E. kam nach Aktenlage unter Auswertung des Gutachtens von Dr. med. D. zu dem Ergebnis,
bei der Klägerin liege eine befristete Erwerbsminderung vor.
Nachdem die IKK classic feststellte, dass die Klägerin aufgrund bestehender Mitgliedschaft weiterhin bei der Schwenninger
Betriebskrankenkasse versichert war, gab sie den Vorgang an die Beklagte ab.
Die Beklagte teilte der Klägerin über ihren Prozessbevollmächtigten und über ihren Betreuer mit Schreiben vom 2. September
2015 mit, sie habe ihren Widerspruch an ihre Widerspruchsstelle weitergeleitet. Mit Widerspruchsbescheid vom 6. Oktober 2015
wies sie den Widerspruch der Klägerin zurück. Sie habe die Entscheidung der IKK classic mit Bescheid vom 2. September 2015
übernommen. Der Widerspruch habe keinen Erfolg. Die Voraussetzungen für zusätzliche Betreuungsleistungen im Sinne des Pflegeversicherungsrechts
seien nicht erfüllt. Weder sei bei der Klägerin die Voraussetzung erfüllt, dass ein Bedarf an Grundpflege für mindestens eine
Minute pro Tag bestehe, noch sei die Voraussetzung erfüllt, dass die Alltagskompetenz eingeschränkt sei.
Gegen den am 9. Oktober 2015 dem Betreuer der Klägerin zugestellten Widerspruchsbescheid hat dieser am 2. November 2015 für
die Klägerin Klage vor dem Sozialgericht Marburg erhoben.
Zur Begründung wird für die Klägerin ausgeführt, ihr Pflegebedarf bestehe insbesondere in ihrer Vergesslichkeit. Sie könne
sich Essen nicht selbst zubereiten, da die Gefahr bestehe, dass das Haus abbrenne. Wenn die Klägerin koche, müsse der Lebenspartner
dabei sein. Sie vergesse, dass der Herd oder der Backautomat an sei. Auch habe sie erhebliche Probleme mit der Motorik, sie
könne mit Gegenständen wie Messern wegen bestehender Verletzungsgefahr nicht umgehen. Da sie nachts von Angst- und Panikattacken
geplagt werde, sei sie tagsüber immer müde. Sie schlafe auf dem Sofa ein und finde nicht den Weg ins Bett, sie bedürfe der
Hilfestellung ihres Lebenspartners. Der Tag- Nachtrhythmus sei gestört. Der Klägerin stehe zumindest die Pflegestufe 0 zu.
Es sei zu berücksichtigen, dass für sie eine Betreuung bestehe und ihre Erwerbsfähigkeit wegen ihren psychischen Auffälligkeiten
geprüft werde.
Das Sozialgericht hat Beweis erhoben durch Einholung eines Gutachtens von Amts wegen bei F. vom 2. Mai 2016 nach Begutachtung
im häuslichen Umfeld. Nach Auswertung von Tests, Gesprächen mit der Klägerin und ihrem Lebenspartner kommt die Sachverständige
zu dem Ergebnis, die Klägerin habe keinerlei Hilfebedarf bei den Verrichtungen der Körperpflege, der Ernährung, der Mobilität
und der hauswirtschaftlichen Versorgung und ihre Alltagskompetenz sei nicht erheblich eingeschränkt.
Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin ist dem Gutachten der Sachverständigen entgegengetreten. Zur Begründung hat er seinen
bisherigen Vortrag wiederholt und ergänzend vorgetragen, die Sachverständige besitze als Pflegekraft keine medizinische Ausbildung
für den Einblick in die psychologischen Hintergründe einer traumatisierten Frau.
Das Sozialgericht hat eine ergänzende Stellungnahme bei Frau F. vom 3. Juli 2016 eingeholt, in der die Sachverständige die
Beurteilung ihres Gutachtens wiederholt.
Das Sozialgericht hat mit Urteil vom 26.September 2016 die Klage abgewiesen. Die Klägerin besitze gegen die Beklagte keinen
Anspruch auf zusätzliche Betreuungs- und Entlastungsleistungen nach §
45b SGB XI. Nach dem eingeholten Sachverständigengutachten bei Frau F. seien die gesetzlichen Voraussetzungen nicht erfüllt. Nach §
45b Abs.
1 Satz 1
SGB XI könne ein Versicherter, der die Voraussetzungen des §
45a SGB XI erfülle, je nach Umfang des erheblichen allgemeinen Betreuungsbedarfs zusätzliche Betreuungs- und Entlastungsleistungen in
Anspruch nehmen. Die Sachverständige habe in ihrem Gutachten die Feststellungen ihres Hausbesuches ausführlich beschrieben.
Aus dem Gutachten gehe deutlich hervor, dass weder die Alltagskompetenz auf Dauer erheblich eingeschränkt noch Hilfe bei der
Grundpflege oder den hauswirtschaftlichen Tätigkeiten erforderlich sei.
Gegen das am 28. Oktober 2016 zugestellte Urteil hat der Prozessbevollmächtigte der Klägerin Berufung eingelegt.
Der Prozessbevollmächtigte wiederholt zur Begründung der Berufung der Klägerin den bisherigen Vortrag.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Marburg vom 26. September 2016 und den Bescheid vom 25. März 2015 in Gestalt in Gestalt des
Widerspruchsbescheids vom 6. Oktober 2015 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin zusätzliche Betreuungs-
und Entlastungsleistungen zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Beklagte vertritt die Auffassung, das Sozialgericht habe mit dem angefochtenen Urteil zutreffend entschieden.
Der Senat hat die Beteiligten zu einer Entscheidung des Rechtsstreits durch die Berufsrichter des Senats ohne mündliche Verhandlung
angehört. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsakte
der Beklagten, Bezug genommen, der Gegenstand der Entscheidung gewesen ist.
Gründe
Der Senat konnte über die Berufung durch Beschluss der Berufsrichter gemäß §
153 Abs.
4 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) entscheiden, weil er die Berufung einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält.
Die gemäß §
151 Abs.
1 und
2 SGG form- und fristgerecht erhobene Berufung ist zulässig, konnte in der Sache jedoch keinen Erfolg haben.
Das Urteil des Sozialgerichts Marburg vom 26. September 2016 ist nicht zu beanstanden. Die Bescheide der Beklagten sind nicht
rechtswidrig. Die Klägerin besitzt keinen Anspruch auf zusätzliche Betreuungs- und Entlastungsleistungen.
Die Klägerin besitzt gegen die Beklagte keinen Anspruch auf zusätzliche Betreuungs- und Entlastungsleistungen nach §
45b SGB XI in der vom 1. Januar 2015 bis zum 31. Dezember 2016 geltenden Fassung des Ersten Pflegestärkungsgesetz (PSG I) vom 17. Dezember
2014 (BGBl. I S. 2222). Ungeachtet dessen ist nicht nachgewiesen, dass ihre Alltagskompetenz im erheblichen Umfang eingeschränkt ist.
Gem. §
45b Abs.
1 Satz 1
SGB XI a.F. können Versicherte, die die Voraussetzungen des §
45a SGB XI erfüllen (Vorliegen einer Pflegestufe I, II oder III), je nach Umfang des erheblichen allgemeinen Betreuungsbedarfs zusätzliche
Betreuungs- und Entlastungsleistungen in Anspruch nehmen. Da die Klägerin unstreitig die Voraussetzungen einer Pflegestufe
nach §§
14,
15 SGB XI nicht erfüllt, kommt vorliegend allein §
45 Abs.
1a Satz 1
SGB XI als Anspruchsgrundlage in Betracht. Danach können Pflegebedürftige, die nicht die Voraussetzungen des §
45a SGB XI erfüllen, ebenfalls zusätzliche Betreuungs- und Entlastungsleistungen nach Absatz
1 in Anspruch nehmen. Voraussetzung ist, dass diese Personen einen Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege und der hauswirtschaftlichen
Versorgung haben, der jedoch nicht das Ausmaß der Pflegestufe I erreicht. Die zusätzlichen Betreuungs- und Entlastungsleistungen
sind zudem beschränkt auf Personen, bei denen der MDK im Rahmen einer Begutachtung nach §
18 SGB XI als Folge der Krankheit oder Behinderung Auswirkungen auf die Aktivitäten des täglichen Lebens festgestellt hat, die dauerhaft
zu einer Einschränkung der Alltagskompetenz geführt haben (dazu BSG, Urteil vom 20. April 2016, Az. B 3 P 1/15 R, Rn. 11, zitt. nach juris). Dazu heißt es in der Gesetzesbegründung (BT-Drucks. 18/1798, S. 29):
"Versicherte mit festgestellter dauerhaft erheblich eingeschränkter Alltagskompetenz im Sinne von § 45a können ihren Kostenerstattungsanspruch
aus § 45b Absatz 1 nunmehr nicht nur wie bisher für zusätzliche Betreuungsleistungen, sondern auch für zusätzliche Entlastungsleistungen
nutzen. Zusätzliche Entlastungsleistungen dienen der Deckung des Bedarfs der Versicherten an Unterstützung im Haushalt, insbesondere
bei der hauswirtschaftlichen Versorgung, an Unterstützung bei der Bewältigung von allgemeinen oder pflegebedingten Anforderungen
des Alltags oder an Unterstützung bei der eigenverantwortlichen Organisation individuell benötigter Hilfeleistungen oder sie
tragen dazu bei, Angehörige und vergleichbar Nahestehende in ihrer Eigenschaft als Pflegende zu entlasten. Zusätzliche Entlastungsleistungen
beinhalten die Erbringung von Dienstleistungen, eine die vorhandenen Ressourcen und Fähigkeiten stärkende oder stabilisierende
Alltagsbegleitung, organisatorische Hilfestellungen, Unterstützungsleistungen für Angehörige und vergleichbar Nahestehende
in ihrer Eigenschaft als Pflegende, insbesondere zur Bewältigung des Pflegealltags, oder andere geeignete Maßnahmen, die der
vorgenannten Bedarfsdeckung bzw. Entlastung dienen."
Die Klägerin gehört nicht zum leistungsberechtigten Personenkreis des §
45b Abs.
1a Satz 1
SGB XI, da dessen Voraussetzungen bei der Klägerin nicht vorliegen. Die Klägerin hat keinen pflegebedingten Hilfebedarf im Bereich
der Grundpflege, sondern ausschließlich einen solchen im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung. Dem Gutachten der Pflegesachverständigen
F. ist ein pflegerischer Hilfebedarf der Klägerin im Bereich der Grundpflege (Körperpflege, Mobilität und Ernährung) nicht
zu entnehmen. Die Klägerin kann nach dem Gutachten der Pflegesachverständigen die Körperpflege im vollen Umfang selbstständig
bewältigen. Die Klägerin berichtete im Rahmen des Hausbesuches der Gutachterin, dass sie sehr gerne koche und backe, Kuchen
und Brot nach eigenem Rezept herstelle. Sie könne sicher mit Messer, Schere, Fleischgabel, Besteck usw. umgehen und sei in
der Lage, sich Mahlzeiten selbst mundgerecht zuzubereiten, Knochen oder Gräten aus der Nahrung zu entfernen und sich Getränke
selbst einschränken. Die Klägerin ist in der Mobilität nicht eingeschränkt.
Zwar ist anhand des im Rahmen des Betreuungsverfahrens vom Amtsgerichts Kirchhain eingeholten psychiatrischen Gutachtens von
Dr. med. D. vom 15. April 2015 eine psychiatrische Krankheit (Verdacht auf Posttraumatische Belastungsstörung ICD-10 F 43.1
und DD: Ängstlich-depedente Persönlichkeitsstörung ICD-10 F 60.7) nachgewiesen. Diese führt dazu, dass die Klägerin ihre Wohnung
zum Einkauf nur in Begleitung oder gar nicht verlässt. Gem. §
14 Abs.
4 Nr.
4 SGB XI gehört zu den gewöhnlichen und regelmäßig wiedergehrenden Verrichtungen, welche den Begriff der Pflegebedürftigkeit gem.
§
14 Abs.
1 SGB XI ausfüllen, u.a. das Einkaufen. Darüber hinaus ist sie im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung nicht eingeschränkt.
Die Klägerin versorgt ihren Haushalt - mit Ausnahme des Einkaufens außerhalb der Wohnung - selbständig.
Darüber hinaus ist die Klägerin in ihrer Alltagskompetenz nicht erheblich eingeschränkt. Gem. §
45a Abs.
2 Satz 1
SGB XI a.F. ist für die Bewertung, ob die Einschränkung der Alltagskompetenz erheblich eingeschränkt ist, auf die unter Nr. 1 bis
13 aufgeführten Schädigungen und Funktionsstörungen abzustellen. Danach sind maßgebend:
1. unkontrolliertes Verlassen des Wohnbereichs (Weglauftendenzen);
2. Verkennen oder verursachen gefährdender Situationen;
3. unsachgemäßer Umgang mit gefährlichen Gegenständen oder potentiell gefährdenden Substanzen;
4. tätlich oder verbal aggressives Verhalten in Verkennung der Situation;
5. im situativen Kontakt inadäquates Verhalten;
6. Unfähigkeit, die eigenen körperlichen oder seelischen Gefühle oder Bedürfnisse wahrzunehmen;
7. Unfähigkeit zur einer erforderlichen Kooperation bei therapeutischen oder schützenden Maßnahmen als Folge einer therapieresistenten
Depression oder Angststörung;
8. Störungen der höheren Hirnfunktionen (Beeinträchtigungen des Gedächtnisses, herabgesetztes Urteilsvermögen), die zu Problemen
bei der Bewältigung von sozialen Alltagsleistungen geführt haben;
9. Störung des Tag-/Nacht-Rhythmus;
10. Unfähigkeit, eigenständig den Tagesablauf zu planen und zu strukturieren;
11. Verkennen von Alltagssituation und in adäquaten reagieren in Alltagssituationen;
12. ausgeprägtes labiles oder unkontrolliert emotionales Verhalten;
13. zeitlich überwiegend Niedergeschlagenheit, Verzagtheit, Hilflosigkeit oder Hoffnungslosigkeit aufgrund einer therapieresistenten
Depression.
Nach dem Gutachten der Pflegesachverständigen F. vom 2. Mai 2016 bestehen bei der Klägerin keine der in §
45a Abs.
2 Satz 1 Nr.
1 bis
13 SGB XI aufgeführten Schädigungen und Funktionsstörungen. Die Pflegesachverständige stellte im Rahmen ihres Hausbesuchs am 7. April
2016 fest, dass die Klägerin über ein gutes Hörvermögen verfügt. Die Gutachterin veränderte des Öfteren die Lautstärke im
Gespräch und die Klägerin habe das von der Gutachterin Gesprochene ohne Fehler wiederholen können. Die Klägerin sei kurzsichtig
und schiele. Eine Sehprüfung habe eine Sehschwäche der Klägerin ergeben, die mit einer Brille ausgeglichen sei. Während des
Hausbesuchs sei die Klägerin aufmerksam und das Langzeit- sowie das Kurzzeitgedächtnis seien unauffällig gewesen, ihre Reaktion
sei gut und sie könne Gefühle empfinden und Sinneseindrücke äußern. Sie sei zur Person, dem Ort, der Situation und der Zeit
klar orientiert. Die Begutachtungssituation habe sie verstanden. Der Antrieb der Klägerin sei unauffällig. Sie könne sich
zu Hause sehr gut beschäftigen, sie gehe ihren Hobbys (Schneidern, Musik spielen, Backen, Kochen und den Haushalt versorgen)
nach. Die Sachverständige berichtet in ihrem Gutachten, die Klägerin sei am Anfang ihres Hausbesuchs zurückhaltend, nach kurzer
Zeit aufgeschlossen und gesprächig gewesen. Bei der Klägerin sei große Freude und teilweiser Euphorie zu erkennen, wenn sie
über ihre Hobbys berichte und diese vorführe (Keyboard spielen, singen, selbst geschneiderte Kleider zeigen). Enttäuscht,
ängstlich sei die Klägerin, wenn sie von ihren Eltern, Exfreund und dessen Bekannten spreche. Die Klägerin könne das Kurzzeitgedächtnis
abrufen, wenn ihr fünf Gegenstände genannt würden, die sie ohne Fehler wiederholen könne. Dieser Test sei mehrmals während
des Hausbesuches wiederholt worden. Auch das Langzeitgedächtnis könne die Klägerin abrufen. Die Klägerin habe Konzentrationsstörungen
angegeben. Gelegentlich komme es vor, dass sie sich zwei- oder dreimal absichere, ob sie z.B. den Herd ausgestellt, die Waschmaschine
abgestellt oder den Fernseher ausgeschaltet habe. Sie habe nach jeder Kontrolle festgestellt, dass sie dies gewissenhaft erledigt
habe. Der Lebensgefährte der Klägerin habe diese Angaben bestätigt. Der Tag- bzw. Nachtrhythmus der Klägerin sei unauffällig.
Sie habe nach eigenen Angaben ab und zu einen unruhigen Schlaf und Durchschlafprobleme. Ihr Lebensgefährte wecke sie, wenn
sie unruhig schlafe oder träume und wirke beruhigend auf sie ein. Die Wahrnehmung und das Denken der Klägerin seien unauffällig.
Die Klägerin habe Handlungsanweisungen nach Aufforderung sicher und korrekt ausgeführt, gezeigte Gegenstände erkenne und benenne
die Klägerin richtig und ordne diese ihrem Gebrauch richtig zu. Sprache/Kommunikation der Klägerin sei unauffällig. Sie könne
Bedürfnisse und Wünsche äußern. Die situative Anpassung der Klägerin sei unauffällig. Sie könne Wünsche äußern, telefonieren
und den Notruf wählen. Die Klägerin könne nach eigenen Angaben sich situationsgerecht verhalten und auf Änderung der Situation
reagieren. Die Klägerin pflege Kontakt zu Bekannten/Freunden ausschließlich im Internet. Kontakte zu Angehörigen, Eltern,
Schwester sei nicht mehr möglich, da diese nach Angaben der Klägerin verstorben seien. Der persönliche Kontakt der Klägerin
sei einzig auf ihren Lebensgefährten konzentriert, der zugleich ihre Bezugsperson sei seit einer Enttäuschung durch eine angebliche
Freundin. Nach alledem bestehe kein unkontrolliertes Verlassen des Wohnbereichs, die Klägerin verkenne oder verursache keine
gefährdenden Situationen, es bestehe kein unsachgemäßer Umgang mit gefährlichen Gegenständen oder potentiell gefährdenden
Substanzen, es bestehe kein tätliches oder verbal aggressives Verhalten der Klägerin in Verkennung der Situation oder im situativen
Kontext inadäquates Verhalten, die Klägerin sei nicht unfähig, die eigenen körperlichen und seelischen Gefühle oder Bedürfnisse
wahrzunehmen, es bestehe keine Unfähigkeit zu einer erforderlichen Kooperation bei therapeutischen oder schützenden Maßnahmen
als Folge eine Therapie resistenten Depression oder Angststörung, es bestünde keine Störungen der höheren Hirnfunktionen (Beeinträchtigung
des Gedächtnisses, herabgesetztes Urteilsvermögen), die zu Problemen bei der Bewältigung von sozialen Alltagsleistungen geführt
haben es bestehe keine Störung des Tag-/Nacht Rhythmus, es bestehe keine Unfähigkeit, eigenständig den Tagesablauf zu planen
und zu strukturieren, sie verkenne nicht Alltagssituationen und inadäquates reagieren in Alltagssituationen, es bestehe bei
der Klägerin kein labiles oder unkontrolliertes emotionales Verhalten und die Klägerin sei nicht zeitlich überwiegend niedergeschlagen,
verzagt, hilflos oder hoffnungslos aufgrund einer Therapie resistenten Depression.
Der Senat folgt dem Gutachten der Pflegesachverständigen F. vom 2. Mai 2016. Das Gutachten ist ausführlich begründet und lässt
keinen Widerspruch zwischen pflegebedingen Befunderhebung und deren Beurteilung erkennen.
Die Klägerin kann dem Gutachten der Pflegesachverständigen nicht entgegenhalten, die Sachverständige habe als Pflegekraft
keine medizinische Ausbildung für einen Einblick in die psychologischen Hintergründe einer traumatisierten Frau. Denn vorliegend
geht es nicht um die Feststellung medizinischer Diagnosen und der darauf erforderlichen medizinischen Behandlungen. Vorliegend
ist für den vorliegend geltend gemachten Anspruch allein maßgeblich, ob aufgrund der von Dr. med. D. festgestellten psychischen
Erkrankungen die Alltagskompetenz der Klägerin nach dem Katalog des §
45a Abs.
2 Satz 1 Nr.
1 bis Nr.
13 SGB XI erheblich eingeschränkt ist. Dies ist durch Pflegesachverständige festzustellen.
Die Klägerin besitzt auch mit Inkrafttreten des PSG III zum 1. Januar 2017 nicht den geltend gemachten Anspruch. Nach §
28a Abs.
2, §
45b Abs.
1 Satz 1
SGB XI n.F. gewährt die Pflegeversicherung dem Pflegebedürftigen in häuslicher Pflege mit Pflegegrad 1 einen Entlastungsbetrag.
Versicherte, die bis zum 31. Dezember 2016 keinen entsprechenden Leistungsanspruch besaßen, weil eine dauerhaft erhebliche
Einschränkung der Alltagskompetenz nicht bestand, erwerben auch mit Inkrafttreten des PSG III keinen Leistungsanspruch. Eine
Umwandlung eines bestehenden Anspruchs gem. §
140 Abs.
2 Satz 3 Nr.
2a SGB XI n.F. (erheblich eingeschränkte Alltagskompetenz bei gleichzeitigen nicht Vorliegen einer Pflegestufe nach §§
14,
15 SGB XI a.F.) scheidet somit aus.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG und folgt dem Ausgang des Verfahrens.
Die Revision war nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des §
160 Abs.
2 SGG nicht vorliegen.