LSG Sachsen, Urteil vom 16.10.2014 - 2 U 59/11
Aufrechnung einer Verletztenrente mit Beitragsrückständen in der gesetzlichen Unfallversicherung; Erforderlichkeit einer nicht
nachholbaren Ermessenausübung
Eine Aufrechnung nach § 51 Abs. 2 SGB I erfordert eine umfassende Prüfung der Situation des Verletzten und Ermessensausübung. Vor dem Hintergrund, dass auch pfändungsfreie
Teile des Einkommens bis zur Grenze der Hilfebedürftigkeit einbehalten werden dürfen, sind die Lebensumstände des Verletzten,
seine gesundheitliche Situation und hier auch das laufende Insolvenzverfahren bei der Entscheidung zu berücksichtigen. Die
Formulierung: "Ihre Einwände haben wir geprüft. Eine Rücknahme unserer Entscheidung bewirkt dies nicht." spricht eher dafür,
dass eine ordnungsgemäße Ermessensbetätigung nicht stattgefunden hat.
Normenkette: ,
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SGB X § 35 Abs. 1 S. 3
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SGB X § 41 Abs. 1 Nr. 2 ,
StrRehaG § 17a
Vorinstanzen: SG Leipzig 14.01.2011 S 7 U 188/09
I. Das Urteil des Sozialgerichts Leipzig vom 14.01.2011 und der Bescheid der Beklagten vom 11.08.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 29.10.2009 werden aufgehoben.
II. Die Beklagte hat dem Kläger die notwendigen außergerichtlichen Auslagen in zwei Instanzen zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Entscheidungstext anzeigen:
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit der Aufrechnung und teilweisen Einbehaltung einer Verletztenrente wegen Beitragsrückständen.
Der 1946 geborene, verheiratete Kläger erhält nach anerkannten Arbeitsunfällen 1975 (Oberschenkelamputation) und 1983 (Schnittverletzung
Sehnendurchtrennung des 2. - 4. Fingers der rechten Hand) eine Verletztenrente nach einer MdE von 75% auf Dauer von der Beklagten.
Der Kläger ist mit einem GdB von 70 und Merkzeichen G schwerbehindert. Der Kläger leidet dauerhaft unter schmerzhaften Funktionseinschränkungen
in beiden Schultergelenken, Hypertonie, Hyperurikämie, Hyperlipidämie und struma nodosa. Auch die Beweglichkeit im rechten
Kniegelenk ist schmerzhaft eingeschränkt. Seit 1981 führte der Kläger einen bei der Beklagten gesetzlich versicherten Baubetrieb,
der nach 1990 in wirtschaftliche Schwierigkeiten geriet. Deshalb liefen auch in größerem Maß Beitragsrückstände bei der Beklagten
an. Bereits mit Bescheid vom 23.10.2003 verrechnete die Beklagte die Beitragsrückstände mit der Hälfte der laufenden Verletztenrente
in Höhe von 404,59 EUR monatlich. Die Erklärung beruhte auf einem Ersuchen der Betriebsabteilung der Beklagten, in der Höhe
und Fälligkeit der Beiträge aus 1997 und 2000 und Säumniszuschläge aus 2001 mit insgesamt 19.851,43 EUR berechnet waren. Dem
Widerspruch gegen die Aufrechnungsentscheidung wurde abgeholfen, da durch die Aufrechnung Sozialhilfebedürftigkeit entstand.
In der Folge erhielt der Kläger Arbeitslosengeld in nicht bekannter Höhe. Bei der Beklagten gingen immer wieder Pfändungsersuchen
hinsichtlich der Verletztenrente ein. In den Jahren ab etwa 2007 wurde den Gläubigern regelmäßig mitgeteilt, dass die gewährte
Unfallteilrente von monatlich 813,55 EUR unter der Pfändungsfreigrenze liege. Ab 01.07.2008 erhöhte sich die monatliche Rente
auf 822,50 EUR. Außerdem wurden 30.- EUR für erhöhten Wäscheverschleiß gewährt. Mit Bescheid der Deutschen Rentenversicherung
Mitteldeutschland vom 18.03.2009 wurde dem Kläger ab 01.12.2008 Altersrente für schwerbehinderte Menschen in Höhe von 590,90
EUR und ab 01.01.2009 von 590,25 EUR monatlich netto gewährt, was der Beklagten Ende März 2009 mitgeteilt wurde. Mit Schreiben
vom 26.03.2009 hörte die Beklagte den Kläger erneut zur Aufrechnung der laufenden Verletztenrentenzahlung gegen bestehende
Beitragsrückstände an. Das Schreiben hatte folgenden Wortlaut:
"Sehr geehrter Herr P, aus Anlass des Unfalls haben Sie Anspruch auf laufende Barleistungen. Gleichzeitig sind Sie aber mit
der Beitragszahlung in Rückstand geraten. Nach § 51 Abs. 2 SGB I können Ansprüche auf laufende Geldleistungen bis zu deren Hälfte auf Beitragsrückstände aufgerechnet werden, wenn der Leistungsberechtigte
nicht nachweist, dass er dadurch hilfebedürftig im Sinne der Vorschriften des Zwölften Buches über die Hilfe zum Lebensunterhalt oder der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch wird. Wir beabsichtigen
daher, Ihre Ansprüche zur Hälfte mit Ihren Beitragsrückständen aufzurechnen. Sie können ihre Ansprüche auch bis zur Tilgung
der Beitragsrückstände in voller Höhe abtreten. Sie haben Gelegenheit, sich bis zum 15.04.2009 (Tag des Eingangs bei uns)
hierzu zu äußern (§ 24 Abs. 1 SGB X). Sollte uns nach Ablauf dieser Frist die beiliegende Erklärung nicht vorliegen, werden wir die Hälfte Ihrer Ansprüche mit
den Beitragsrückständen aufrechnen."
Die anwaltliche Vertreterin des Klägers teilte mit Fax vom 09.04.2009 mit, dass der Kläger von der Altersrente nur 295,13
EUR erhalte, weil der Rest mit einer Beitragsforderung der Innungskrankenkasse verrechnet werde. Beigefügt war ein Bescheid
der Rentenversicherung vom 30.03.2009, in dem das verfügbare Einkommen des Klägers aus Altersrente, Verletztenrente und Zuwendung
nach § 17a StrRehaG und der abzweigbare Betrag berechnet waren. Es wurde darauf hingewiesen, dass die Zuwendung nach dem StrRehaG nicht als Einkommen zu betrachten sei. Gegen den Aufrechnungsbescheid der Rentenversicherung legte der Kläger auch mit Hinweis
auf das Aufrechnungsverlangen der Beklagten Widerspruch ein. Die Rentenversicherung fragte deshalb mit Schreiben vom 05.05.2009
bei der Beklagten nach dem Stand des dortigen Verfahrens an. Es werde um Antwort bis 18.05.2009 gebeten. Bis dahin werde keine
Abtrennung aus der Rente vorgenommen. In einem Telefonvermerk ist schließlich festgehalten, dass die Rentenversicherung keine
Verrechnung vornehmen werde. Mit Schreiben vom 11.08.2009 erklärte die Beklagte die Aufrechnung:
"Sehr geehrter Herr P, gemäß unseres Schreibens vom 26.03.2009 (Anhörung wegen zu tilgender Beitragsrückstände) teilen wir
nunmehr mit, dass wir gem. § 51 Abs. 2 SGB I ab 01.09.09 die von uns gewährte Verletztenrente in Höhe von 850,30 Euro zur Hälfte einbehalten bis zur Tilgung der bestehenden
Beitragsschulden. Ihre durch Ihren Anwalt sowie durch Sie telefonisch vorgebrachten Einwände haben wir geprüft. Eine Rücknahme
unserer Entscheidung bewirkt dies nicht. Die Ihnen gewährte Altersrente wird derzeit nicht gekürzt. Somit droht Ihnen nach
Kürzung der Verletztenrente um die Hälfte keineswegs Hilfebedürftigkeit im Sinne der Vorschriften des SGB II oder SGB XII. Ab 01.09.09 wird Ihnen bis auf weiteres Ihre Verletztenrente nur in Höhe von 425,15 Euro monatl. ausbezahlt. Die einbehaltenen
425,15 Euro monatl. werden mit Ihren Beitragsschulden aufgerechnet.
Rechtsbehelfsbelehrung"
Gegen den Bescheid legte der Kläger Widerspruch ein und teilte mit, dass das AG L über sein Vermögen das Insolvenzverfahren
eröffnet habe. Der Beschluss vom 19.08.2009 über die Eröffnung des Insolvenzverfahrens und Bestellung von RA Frege zum Insolvenzverwalter
wurde eingereicht. Der Kläger gab an, dass er durch die Aufrechnung hilfebedürftig werde. Die Zuwendung nach § 17a StrRehaG dürfe nicht als Einkommen berücksichtigt werden. Im Übrigen habe er wegen seiner Einschränkungen einen erhöhten Bedarf. Neben
der Ehewohnung habe er im selben Haus eine kleine Wohnung im Erdgeschoss, da er wegen der Schmerzen nicht immer die Treppe
in den 1. Stock hinaufsteigen könne. Zudem führten die Schmerzen zu Schlafstörungen, so dass er nicht in einem Schlafzimmer
mit seiner Frau schlafen könne. Die Rentenversicherung Mitteldeutschland nahm mit Bescheid vom 26.08.2009 die Verrechnung
der Forderungen der Innungskrankenkasse mit den laufenden Rentenzahlungen zurück. Von Seiten des Insolvenzverwalters wurde
die Beklagte mit Schreiben vom 08.09.2009 aufgefordert, die Aufrechnung zurückzunehmen. Bei den Beitragsschulden handele es
sich um Insolvenzforderungen. Die Aufrechnung mit aktuellen Schulden sei nicht zulässig. Eine Aufrechnungssituation sei nicht
gegeben. Die Beklagte antwortete, dass die Aufrechnungssituation seit 24.01.2003 bestanden habe und deshalb nach §§ 94, 114 Abs. 2 InsO schutzwürdig sei. Im Übrigen erfolge die Aufrechnung in das unpfändbare Vermögen des Klägers. Die Beklagte stützte sich dabei
auf den Beschluss des BGH vom 29.05.2008 im Verfahren IX ZB 51/07. Mit Schreiben vom 01.10.2009 forderte die Beklagte den Kläger auf, Nachweise über die Einkünfte seiner Ehefrau und die monatlichen
Verpflichtungen vorzulegen. Die Beklagte ging nach einem Vermerk vom gleichen Tage davon aus, dass der Bezug der Altersrente,
der Verletztenrente und der Leistungen nach dem StrRehaG so hoch sein, dass die Gefahr der Hilfebedürftigkeit nicht bestehen könne. Die Beklagte wies dann den Widerspruch mit Bescheid
vom 29.10.2009 zurück. Der Kläger habe Beitragsrückstände aus seinem Unternehmen, die er zu tilgen habe. Aus den beiden Renten
stünde nach Abzug des Aufrechnungsbedarfes noch ein Betrag von 1.015,40 EUR zur Verfügung, der über der Hilfegrenze liege.
Die Einkommensverhältnisse der Ehefrau seien dabei nicht berücksichtigt. Nach Erlass des Widerspruchsbescheides wurde durch
den Insolvenzverwalter ein Beschluss des AG L vom 26.11.2009 vorgelegt, in dem zur Berechnung des pfändbaren Teiles des Gesamteinkommens
die Renten aus der Rentenversicherung und der Unfallversicherung zusammenzurechnen seien. Die unpfändbaren Grund- und Mehrbeträge
seien in erster Linie aus der Unfallrente zu entnehmen. Der Kläger hat am 01.12.2009 Klage erhoben. In der Klagebegründung
ist vorgetragen, dass der Kläger wegen seiner Verletzung erheblichen Mehrbedarf im Wohnbereich und für ärztliche und krankengymnastische
Behandlungen einschließlich der damit verbundenen Fahrten habe. Beigefügt ist weiter ein Bescheid der Agentur für Arbeit B
vom 18.12.2008, in dem der Ehefrau des Klägers vom 01.01.2009 bis 30.06.2010 monatliches Arbeitslosengeld von 857,40 EUR bewilligt
wurde. In einem Änderungsbescheid vom 20.07.2009 wurde die Leistung auf monatlich 1017.- EUR festgesetzt. Weiter ist durch
den Kläger mitgeteilt worden, dass ab 01.07.2010 aufgrund Pfändung durch den Insolvenzverwalter die monatliche Altersrente
von netto 612,26 EUR um 332,40 EUR auf 279,86 EUR gekürzt worden sei. Spätestens jetzt bestehe Hilfebedürftigkeit. Der entsprechende
Bescheid des Rentenversicherungsträgers ist vorgelegt worden. Weiter ist ein Beschied der ARGE L L vom 17.08.2010 vorgelegt
worden, in dem der Ehefrau des Klägers die Übernahme der Unterkunftskosten von monatlich 665,44 EUR bis 31.01.2011 bewilligt
wurde. Danach müssten die unangemessen hohen Kosten auf höchstens monatlich 414,- EUR gesenkt werden. Mit Schriftsatz vom
07.10.2010 hat die anwaltliche Vertreterin des Klägers einen Bescheid des Landkreises L vom 17.08.2010 vorgelegt, in dem die
Gewährung von Hilfe zum Lebensunterhalt nach den Vorschriften des SGB XII abgelehnt wurde. Die Prüfung des Sachverhalts habe ergeben, dass derzeit ein Anspruch auf monatliche Hilfe von 2,36 EUR bestehe.
Ein Leistungsanspruch bestehe aber nicht, weil die Einbehaltungen von den Renten der Tilgung bestehender Verpflichtungen dienten.
Es sei nicht Aufgabe der Sozialhilfe, diese Verpflichtungen abzudecken. Mit Urteil vom 14.01.2011 hat das SG Leipzig die Klage
abgewiesen. Es bestehe zwar ein geringfügiger Hilfebetrag von 2,36 EUR monatlich. Diesen könne der Kläger aber durch den Insolvenzverwalter
mit dessen Einvernehmen durch Reduzierung der Pfändung erhalten. Gegen das am 17.02.2011 zugestellte Urteil hat der Kläger
am 11.03.2011 Berufung beim Sächsischen Landessozialgericht eingelegt. Das Urteil sei rechtswidrig, da Hilfebedürftigkeit
nachgewiesen sei. Auf den Betrag komme es nicht an. Der Insolvenzverwalter sei auch nicht berechtigt, auf einen Teil einer
für die Insolvenzmasse gepfändeten Forderung zu verzichten. Außerdem sei der wegen der Verletzung erhöhte Bedarf nicht berücksichtigt
worden. Die Ehefrau des Klägers sei hilfebedürftig. Der Leistungsbezug nach dem SGB II sei mit den beigefügten Bescheiden in der dort ersichtlichen Höhe nachgewiesen worden. Seit dem 01.10.2011 beziehe auch die
Ehefrau des Klägers eine Altersrente.
Der Kläger beantragt:
Das Urteil des Sozialgerichts Leipzig vom 14.01.2011 wird aufgehoben. Der Bescheid der Beklagten vom 11.08.2009 in der Fassung
des Widerspruchsbescheides vom 29.10 2009 wird aufgehoben.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Leipzig vom 14.01.2011 zurückzuweisen.
Sie hält die Entscheidung weiterhin für zutreffend, da keine Hilfebedürftigkeit des Klägers vorliege. Mit Schreiben vom 15.02.2011
hat die Beklagte dem Kläger auf ein Schreiben vom 14.01.2011 mitgeteilt, dass weiterhin die Rente zur Hälfte aufgerechnet
werde. Die Restschuld betrage 45.707,01 EUR. Zur Rentenanpassung zum 01.07.2011 findet sich dann in der Verwaltungsakte ein
handschriftlicher Berechnungsbogen. Danach wird nach der Rentenerhöhung ein Betrag von monatlich 429,36 EUR einbehalten. Der
Senat hat bei dem Landratsamt des Landkreises L den Berechnungsbogen beigezogen, der der Bescheinigung der fiktiven Hilfeleistung
zugrunde lag. Außerdem ist die Beklagte darauf hingewiesen worden, dass sich aus den Bescheiden keine Ausübung eines Ermessens
ergibt. Die Beklagte hat darauf mit Schriftsatz vom 21.05.2012 ihre Ermessenserwägungen mitgeteilt und vorgetragen, dass in
zulässiger Weise gem. § 41 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 SGB X gegenüber dem Kläger die Ermessensausübung nachgeholt worden sei. Man habe ihm mitgeteilt, dass das öffentliche Interesse
an der Begleichung der Beitragsschulden und damit die Funktionsfähigkeit des Unfallversicherungssystems das private Interesse
überwiege. Dabei sei auch zu berücksichtigen, dass die dem Kläger gewährten Leistungen durch die Solidargemeinschaft finanziert
werden müssten. Der Senat hat weiter mit Schreiben vom 15.01.2014 rechtliche Hinweise erteilt. Die Beklagte ist der Meinung,
dass die Hilfebedürftigkeit nur durch eine Bestätigung des zuständigen Jobcenters nachgewiesen werden könne. Die Höhe und
Art der Forderungen habe man dem Kläger ausführlich im Schreiben vom 27.02.2014 erläutert. Daraus ergeben sich Rückstände
aus 1997 und 1998 samt Säumniszuschlägen von 57.481,10 EUR im März 2009. Im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichts- und
Verwaltungsakten verwiesen, die dem Senat vorlagen und Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren.
Entscheidungsgründe:
Das angefochtene Urteil und der Bescheid vom 11.08.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.10.2009 sind rechtswidrig
und verletzen den Kläger in seinen Rechten. Der Anfechtungsklage gegen den Aufrechnungsbescheid war daher stattzugeben.
Fraglich ist, ob eine Aufrechnungslage bei Erlass des angefochtenen Bescheides vorlag. Die Beklagte hat gegenüber dem Kläger
nicht ausreichend dargestellt, mit welcher Forderung aufgerechnet werden soll und ob diese fällig war (1). Sie hat das ihr
bei der Aufrechnung zustehende Ermessen zudem nicht ausgeübt (2). Schließlich hat sie ihre Verpflichtung, die eingereichten
Unterlagen jeweils danach zu überprüfen, ob sich an der Sachlage Wesentliches geändert hat, das Ermessen neu geprüft werden
muss, in keiner Weise beachtet (3). Die Erhöhung des einbehaltenen Betrages zum 01.07.2011 entbehrt einer Grundlage (4).
1. Gemäß § 51 Abs. 2 Sozialgesetzbuch Erstes Buch - Allgemeiner Teil - ( SGB I) kann der zuständige Leistungsträger mit Ansprüchen auf zu Unrecht erbrachte Sozialleistungen und mit Beitragsansprüchen
nach dem Sozialgesetzbuch gegen Ansprüche auf laufende Geldleistungen bis zu deren Hälfte aufrechnen, soweit der Leistungsberechtigte
dadurch nicht hilfebedürftig im Sinne der Vorschriften des Zwölften Buches über die Hilfe zum Lebensunterhalt oder der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch wird. Die Aufrechnung
ist entsprechend der Rechtsprechung des BSG auch mit Bescheid erklärt worden (Beschluss des BSG vom 25.2.2010 - B 13 R 76/09 R). Zudem ist die vom BSG vorausgesetzte Aufrechnungslage gegeben (Urteil des BSG vom 14.03.2013, B 13 R 5/11 R):
"Eine Aufrechnung ist nur wirksam, wenn zwischen den zur Aufrechnung gestellten Forderungen ein Gegenseitigkeitsverhältnis
besteht, wenn also der Gläubiger der Hauptforderung zugleich Schuldner der Gegenforderung und der Schuldner der Hauptforderung
zugleich Gläubiger der Gegenforderung ist."
Die Beklagte hat Beitragsforderungen geltend gemacht, die bei ihr entstanden sind, und mit von ihr zu leistenden Ansprüchen,
der Verletztenrente, aufgerechnet. Sie hat aber nicht ausreichend die ihr zustehenden Forderungen bezeichnet. Die Aufrechnung
erfolgte in dem angegriffenen Bescheid bis zur Tilgung der bestehenden Beitragsrückstände. In welcher Höhe und wann diese
Rückstände entstanden sind, wurde auch im Anhörungsschreiben und im Widerspruchsbescheid nicht dargestellt. Die Ausführungen
zu den Beträgen im Schreiben vom 27.02.2014 sind keine Nachholung der Begründung im Sinne des § 41 Abs. 1 Nr. 2 SGB X. Die Darstellung der Forderung ist keine Begründung der Entscheidung, sondern ein Teil der abzugebenden Erklärung (s. dazu
auch Urteil des BSG v. 07.02.2012, B 13 R 85/09 R). Auch wenn die Aufrechnung durch Bescheid erfolgt, da eine entsprechende Grundlage in § 51 SGB I zu sehen ist, gelten für die Erklärung die §§ 387 ff. BGB. Weder aus der Erklärung noch aus der vorgelegten Verwaltungsakte ist ersichtlich, ob die Beklagte die ihr gebührende Leistung
fordern kann. Gem. § 25 SGB IV verjähren Beitragsforderungen nach Ablauf von vier Jahren zum Jahresende. Ob die Beitragsforderungen mit Bescheid festgesetzt
wurden, der die Verjährung hemmt, § 52 SGB X, ist nicht dargestellt. Sind diese Angaben nicht enthalten, ist der Verwaltungsakt nicht hinreichend bestimmt (vgl. Urteil
des BSG vom 31.10.2012, B 13 R 13/12 R zu § 52 SGB I). Zudem ist nicht feststellbar, ob die Verrechnungslage schon vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens vorgelegen hat. Davon
kann aber in der Überprüfung ausgegangen werde, da bereits 2003 eine Aufrechnungserklärung unter Bezeichnung von Forderungen
abgegeben war.
2. Die Aufrechnung steht mit der Formulierung "kann" im Ermessen des Leistungsträgers (BSG, Urteil v. 07.02.2012 - B 13 R 85/09 R - juris Rn. 65). Soweit ein Leistungsträger ermächtigt ist, nach seinem Ermessen zu handeln, ist sein Handeln rechtswidrig,
wenn die gesetzlichen Grundlagen dieses Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck des Ermessens
nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht ist. Die Begründung von Ermessensentscheidungen muss gemäß § 35 Abs. 1 S. 3 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - (SGB X) auch die Gesichtspunkte erkennen lassen, von denen die Behörde bei der Ausübung ihres Ermessens ausgegangen ist. Anhaltspunkte
für eine Ermessensreduzierung auf Null sind dem Sachverhalt nicht zu entnehmen. Das ihr zustehende Ermessen hat die Beklagte
nicht ausgeübt. Weder dem Bescheid vom 11.08.2009, noch dem Widerspruchsbescheid vom 29.10.2009 sind Anhaltspunkte dafür zu
entnehmen, dass der Beklagten bewusst war, dass sie Ermessen auszuüben hatte. Die Begründung beschränkt sich auf die Feststellung
der tatbestandlichen Voraussetzungen für eine Aufrechnung. Ermessenserwägungen sind nicht enthalten. Die Verwendung des Wortes
"kann" in der Anhörung belegt nicht, dass Ermessen ausgeübt worden ist. Die Formulierung im Bescheid vom 11.08.2009, "ihre
Einwände haben wir geprüft. Eine Rücknahme unserer Entscheidung bewirkt dies nicht" spricht eher dafür, dass die im Rahmen
einer Ermessensentscheidung vorzunehmenden Erwägungen gerade nicht in die Entscheidungsfindung eingegangen sind. Dies ist
aber bei einer Aufrechnung nach § 51 Abs. 2 SGB I besonders eingehend erforderlich, da abweichend von jeglicher sonstiger Regelung auch pfändungsfreie Teile des Einkommens
bis zur Grenze der Hilfebedürftigkeit einbehalten werden dürfen. Gerade diese Befugnis verlangt eine umfassende Prüfung der
Situation des Verletzten. Die alleinige Abwägung zwischen dem Interesse der Versichertengemeinschaft und dem Interesse an
der vollständigen Zahlung, wie später angegeben wurde, ist keine Ermessensabwägung. Auf die gesundheitliche Situation, das
laufende Insolvenzverfahren und die Lebensumstände des Klägers ist nicht eingegangen. Der Fehler des Ermessensausfalls kann
nach Abschluss des Widerspruchsverfahrens nicht auf der Grundlage von § 41 Abs. 1 Nr. 2 SGB X geheilt werden (vgl. Wiesner, in: von Wulffen, SGB X (7. Aufl., 2010), § 41 RdNr. 11, m.w.N.). Es liegt kein Fehler der Ermessensbegründung, sondern ein Fehler der Ermessensbetätigung vor.
3. Die Beklagte hat die nach § 44 SGB X bestehende Verpflichtung, bei Anhaltspunkten zu prüfen, ob Verwaltungsakte von Anfang an rechtswidrig waren oder geworden
sind und deshalb eine Rücknahme oder Änderung erforderlich wird, in keiner Weise beachtet. Nach Erlass der Aufrechnungsentscheidung
und des Widerspruchsbescheides wurde ein Teil der Altersrente des Klägers gepfändet. Diese Tatsache hätte eine neue Ermessensausübung
erfordert, da sich damit der dem Kläger zum Lebensunterhalt zur Verfügung stehende Betrag erheblich vermindert hatte. Ebenso
wenig hat die nun vorgelegte Bescheinigung des Sozialhilfeträgers zu einem Überdenken geführt. Dies ist die zu fordernde Bescheinigung,
denn der Kläger ist Rentner und kann damit vom Jobcenter keine Bescheinigung mehr einholen, da ihm keinerlei Ansprüche nach
dem SGB II zustehen können. In der vorgelegten Bescheinigung ist zudem deutlich ausgeführt, dass Ansprüche nicht bestehen, weil ausreichend
hohe Renten zur Verfügung stehen und die Begleichung von Forderungen nicht durch Sozialhilfe erfolgt. Dies ist der deutliche
Hinweis, dass wenigstens über die Höhe der Aufrechnung nachzudenken ist. Die Nichtbeachtung dieser Bescheinigung und Erhöhung
der Einbehaltung zeigt, dass keine Bereitschaft zur Ermessensprüfung bestand, alleine die Durchsetzung der Beitragsforderungen
das Ziel der Tätigkeit war. Dies ergibt sich weiter aus den selbst angestellten Berechnungen der Beklagten, die nicht einmal
den Berechnungsbogen des Sozialamtes nachgefordert hat.
4. Für die Zeit ab 01.07.2011 hat die Beklagte den zur weitergehenden Aufrechnung erforderlichen Verwaltungsakt nicht erlassen.
Für die über 425,15 EUR hinausgehende Aufrechnung fehlt es damit an einer Grundlage. 5. Die Kostenentscheidung beruht auf
§ 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor, § 160 Abs. 2 SGG.
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