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EuGH, Urteil vom 11.09.2018 - C-68/17
Vorlage zur Vorabentscheidung – Sozialpolitik – Richtlinie 2000/78/EG – Gleichbehandlung – Berufliche Tätigkeiten innerhalb von Kirchen und anderen Organisationen, deren Ethos auf religiösen Grundsätzen oder Weltanschauungen beruht – Berufliche Anforderungen – Loyales und aufrichtiges Verhalten im Sinne des Ethos der Kirche oder der Organisation – Begriff – Ungleichbehandlung wegen der Religion oder Weltanschauung – Kündigung gegenüber einem Arbeitnehmer katholischer Konfession in leitender Stellung wegen einer zweiten standesamtlichen Heirat nach einer Scheidung
Fundstellen: AP RL 2000/78/EG Nr. 43, ArbRB 2018, 290, AuR 2018, 494, DÖV 2018, 1056, EuZW 2018, 853, EzA BGB 2002 § 611 Nr. 32c, EzA EG-Vertrag 1999 EG 2000/78 Nr. 46, EzA-SD 2018, 5, NJW 2018, 3086, NZA 2018, 1187, NZA 2019, 153, NZA-RR 2019, 234, ZIP 2018, 1848
1. Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 2 der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf ist dahin auszulegen, dass
– zum einen eine Kirche oder eine andere Organisation, deren Ethos auf religiösen Grundsätzen oder Weltanschauungen beruht und die eine in Form einer privatrechtlichen Kapitalgesellschaft gegründete Klinik betreibt, nicht beschließen kann, an ihre leitend tätigen Beschäftigten je nach deren Konfession oder Konfessionslosigkeit unterschiedliche Anforderungen an das loyale und aufrichtige Verhalten im Sinne dieses Ethos zu stellen, ohne dass dieser Beschluss gegebenenfalls Gegenstand einer wirksamen gerichtlichen Kontrolle sein kann, damit sichergestellt wird, dass die in Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie genannten Kriterien erfüllt sind, und
– zum anderen bei Anforderungen an das loyale und aufrichtige Verhalten im Sinne des genannten Ethos eine Ungleichbehandlung zwischen Beschäftigten in leitender Stellung je nach deren Konfession oder Konfessionslosigkeit nur dann mit der Richtlinie im Einklang steht, wenn die Religion oder die Weltanschauung im Hinblick auf die Art der betreffenden beruflichen Tätigkeiten oder die Umstände ihrer Ausübung eine berufliche Anforderung ist, die angesichts des Ethos der in Rede stehenden Kirche oder Organisation wesentlich, rechtmäßig und gerechtfertigt ist und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entspricht, was das nationale Gericht zu prüfen hat.
2. Ein mit einem Rechtsstreit zwischen zwei Privatpersonen befasstes nationales Gericht ist, wenn es ihm nicht möglich ist, das einschlägige nationale Recht im Einklang mit Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78 auszulegen, verpflichtet, im Rahmen seiner Befugnisse den dem Einzelnen aus den allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts wie insbesondere dem nunmehr in Art. 21 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union niedergelegten Verbot der Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung erwachsenden Rechtsschutz zu gewährleisten und für die volle Wirksamkeit der sich daraus ergebenden Rechte zu sorgen, indem es erforderlichenfalls jede entgegenstehende nationale Vorschrift unangewendet lässt.

Entscheidungstext anzeigen:

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (ABl. 2000, L 303, S. 16).
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen JQ und seinem Arbeitgeber IR über die Rechtmäßigkeit der gegenüber JQ ausgesprochenen Kündigung, die mit einem Verstoß gegen die Pflicht zu loyalem und aufrichtigem Verhalten im Sinne des Ethos von IR begründet wird.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Die Erwägungsgründe 4, 23, 24 und 29 der Richtlinie 2000/78 lauten:
„(4) Die Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz und der Schutz vor Diskriminierung ist ein allgemeines Menschenrecht; dieses Recht wurde in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, im VN-Übereinkommen zur Beseitigung aller Formen der Diskriminierung von Frauen, im Internationalen Pakt der VN über bürgerliche und politische Rechte, im Internationalen Pakt der VN über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte sowie in der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten anerkannt, die von allen Mitgliedstaaten unterzeichnet wurden. Das Übereinkommen 111 der Internationalen Arbeitsorganisation untersagt Diskriminierungen in Beschäftigung und Beruf.
(23) Unter sehr begrenzten Bedingungen kann eine unterschiedliche Behandlung gerechtfertigt sein, wenn ein Merkmal, das mit der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, dem Alter oder der sexuellen Ausrichtung zusammenhängt, eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung darstellt, sofern es sich um einen rechtmäßigen Zweck und eine angemessene Anforderung handelt. Diese Bedingungen sollten in die Informationen aufgenommen werden, die die Mitgliedstaaten der Kommission übermitteln.
(24) Die Europäische Union hat in ihrer der Schlussakte zum Vertrag von Amsterdam beigefügten Erklärung Nr. 11 zum Status der Kirchen und weltanschaulichen Gemeinschaften ausdrücklich anerkannt, dass sie den Status, den Kirchen und religiöse Vereinigungen oder Gemeinschaften in den Mitgliedstaaten nach deren Rechtsvorschriften genießen, achtet und ihn nicht beeinträchtigt und dass dies in gleicher Weise für den Status von weltanschaulichen Gemeinschaften gilt. Die Mitgliedstaaten können in dieser Hinsicht spezifische Bestimmungen über die wesentlichen, rechtmäßigen und gerechtfertigten beruflichen Anforderungen beibehalten oder vorsehen, die Voraussetzung für die Ausübung einer diesbezüglichen beruflichen Tätigkeit sein können.
(29) Opfer von Diskriminierungen wegen der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung sollten über einen angemessenen Rechtsschutz verfügen. Um einen effektiveren Schutz zu gewährleisten, sollte auch die Möglichkeit bestehen, dass sich Verbände oder andere juristische Personen unbeschadet der nationalen Verfahrensordnung bezüglich der Vertretung und Verteidigung vor Gericht bei einem entsprechenden Beschluss der Mitgliedstaaten im Namen eines Opfers oder zu seiner Unterstützung an einem Verfahren beteiligen.“
Art. 1 der Richtlinie 2000/78 bestimmt:
„Zweck dieser Richtlinie ist die Schaffung eines allgemeinen Rahmens zur Bekämpfung der Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung in Beschäftigung und Beruf im Hinblick auf die Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung in den Mitgliedstaaten.“
Art. 2 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2000/78 sieht vor:
„(1) Im Sinne dieser Richtlinie bedeutet ‚Gleichbehandlungsgrundsatz‘, dass es keine unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung wegen eines der in Artikel 1 genannten Gründe geben darf.
(2) Im Sinne des Absatzes 1
a) liegt eine unmittelbare Diskriminierung vor, wenn eine Person wegen eines der in Artikel 1 genannten Gründe in einer vergleichbaren Situation eine weniger günstige Behandlung erfährt, als eine andere Person erfährt, erfahren hat oder erfahren würde;
…“
Art. 4 der Richtlinie 2000/78 lautet:
„(1) Ungeachtet des Artikels 2 Absätze 1 und 2 können die Mitgliedstaaten vorsehen, dass eine Ungleichbehandlung wegen eines Merkmals, das im Zusammenhang mit einem der in Artikel 1 genannten Diskriminierungsgründe steht, keine Diskriminierung darstellt, wenn das betreffende Merkmal aufgrund der Art einer bestimmten beruflichen Tätigkeit oder der Bedingungen ihrer Ausübung eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung darstellt, sofern es sich um einen rechtmäßigen Zweck und eine angemessene Anforderung handelt.
(2) Die Mitgliedstaaten können in Bezug auf berufliche Tätigkeiten innerhalb von Kirchen und anderen öffentlichen oder privaten Organisationen, deren Ethos auf religiösen Grundsätzen oder Weltanschauungen beruht, Bestimmungen in ihren zum Zeitpunkt der Annahme dieser Richtlinie geltenden Rechtsvorschriften beibehalten oder in künftigen Rechtsvorschriften Bestimmungen vorsehen, die zum Zeitpunkt der Annahme dieser Richtlinie bestehende einzelstaatliche Gepflogenheiten widerspiegeln und wonach eine Ungleichbehandlung wegen der Religion oder Weltanschauung einer Person keine Diskriminierung darstellt, wenn die Religion oder die Weltanschauung dieser Person nach der Art dieser Tätigkeiten oder der Umstände ihrer Ausübung eine wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung angesichts des Ethos der Organisation darstellt. Eine solche Ungleichbehandlung muss die verfassungsrechtlichen Bestimmungen und Grundsätze der Mitgliedstaaten sowie die allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts beachten und rechtfertigt keine Diskriminierung aus einem anderen Grund.
Sofern die Bestimmungen dieser Richtlinie im Übrigen eingehalten werden, können die Kirchen und anderen öffentlichen oder privaten Organisationen, deren Ethos auf religiösen Grundsätzen oder Weltanschauungen beruht, im Einklang mit den einzelstaatlichen verfassungsrechtlichen Bestimmungen und Rechtsvorschriften von den für sie arbeitenden Personen verlangen, dass sie sich loyal und aufrichtig im Sinne des Ethos der Organisation verhalten.“
Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 sieht vor:
„Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass alle Personen, die sich durch die Nichtanwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes in ihren Rechten für verletzt halten, ihre Ansprüche aus dieser Richtlinie auf dem Gerichts- und/oder Verwaltungsweg sowie, wenn die Mitgliedstaaten es für angezeigt halten, in Schlichtungsverfahren geltend machen können, selbst wenn das Verhältnis, während dessen die Diskriminierung vorgekommen sein soll, bereits beendet ist.“
Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 bestimmt:
„Die Mitgliedstaaten ergreifen im Einklang mit ihrem nationalen Gerichtswesen die erforderlichen Maßnahmen, um zu gewährleisten, dass immer dann, wenn Personen, die sich durch die Nichtanwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes für verletzt halten und bei einem Gericht oder einer anderen zuständigen Stelle Tatsachen glaubhaft machen, die das Vorliegen einer unmittelbaren oder mittelbaren Diskriminierung vermuten lassen, es dem Beklagten obliegt zu beweisen, dass keine Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes vorgelegen hat.“
Deutsches Recht
Art. 4 Abs. 1 und 2 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949 (BGBl. 1949 I S. 1, im Folgenden: GG) bestimmt:
„(1) Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich.
(2) Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet.“
Gemäß Art. 140 GG sind die Bestimmungen der Art. 136 bis 139 und 141 der Weimarer Reichsverfassung vom 11. August 1919 (im Folgenden: WRV) Bestandteil des GG.
Art. 137 WRV sieht vor:
„(1) Es besteht keine Staatskirche.
(2) Die Freiheit der Vereinigung zu Religionsgesellschaften wird gewährleistet. Der Zusammenschluss von Religionsgesellschaften innerhalb des Reichsgebiets unterliegt keinen Beschränkungen.
(3) Jede Religionsgesellschaft ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes. Sie verleiht ihre Ämter ohne Mitwirkung des Staates oder der bürgerlichen Gemeinde.
(7) Den Religionsgesellschaften werden die Vereinigungen gleichgestellt, die sich die gemeinschaftliche Pflege einer Weltanschauung zur Aufgabe machen.“
Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Deutschland) sind Träger des durch Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137 Abs. 3 WRV garantierten kirchlichen Selbstbestimmungsrechts nicht nur die Kirchen selbst als Religionsgemeinschaften, sondern auch alle ihnen in bestimmter Weise zugeordneten Einrichtungen, wenn und soweit sie nach dem glaubensdefinierten Selbstverständnis der Kirchen ihrem Zweck oder ihrer Aufgabe entsprechend berufen sind, Auftrag und Sendung der Kirchen wahrzunehmen und zu erfüllen.
Kündigungsschutzgesetz
Das Kündigungsschutzgesetz vom 25. August 1969 (BGBl. 1969 I S. 1317) sieht in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung in § 1 vor:
„Sozial ungerechtfertigte Kündigungen
(1) Die Kündigung des Arbeitsverhältnisses gegenüber einem Arbeitnehmer, dessen Arbeitsverhältnis in demselben Betrieb oder Unternehmen ohne Unterbrechung länger als sechs Monate bestanden hat, ist rechtsunwirksam, wenn sie sozial ungerechtfertigt ist.
(2) Sozial ungerechtfertigt ist die Kündigung, wenn sie nicht durch Gründe, die in der Person oder in dem Verhalten des Arbeitnehmers liegen, oder durch dringende betriebliche Erfordernisse, die einer Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers in diesem Betrieb entgegenstehen, bedingt ist. …“
Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz
Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz vom 14. August 2006 (BGBl. 2006 I S. 1897, im Folgenden: AGG) soll die Richtlinie 2000/78 in deutsches Recht umsetzen.
§ 1 AGG, in dem das Ziel dieses Gesetzes bestimmt wird, lautet:
„Ziel des Gesetzes ist, Benachteiligungen aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität zu verhindern oder zu beseitigen.“
§ 7 Abs. 1 AGG bestimmt:
„(1) Beschäftigte dürfen nicht wegen eines in § 1 genannten Grundes benachteiligt werden; dies gilt auch, wenn die Person, die die Benachteiligung begeht, das Vorliegen eines in § 1 genannten Grundes bei der Benachteiligung nur annimmt.“
§ 9 AGG lautet:
„(1) Ungeachtet des § 8 ist eine unterschiedliche Behandlung wegen der Religion oder der Weltanschauung bei der Beschäftigung durch Religionsgemeinschaften, die ihnen zugeordneten Einrichtungen ohne Rücksicht auf ihre Rechtsform oder durch Vereinigungen, die sich die gemeinschaftliche Pflege einer Religion oder Weltanschauung zur Aufgabe machen, auch zulässig, wenn eine bestimmte Religion oder Weltanschauung unter Beachtung des Selbstverständnisses der jeweiligen Religionsgemeinschaft oder Vereinigung im Hinblick auf ihr Selbstbestimmungsrecht oder nach der Art der Tätigkeit eine gerechtfertigte berufliche Anforderung darstellt.
(2) Das Verbot unterschiedlicher Behandlung wegen der Religion oder der Weltanschauung berührt nicht das Recht der in Absatz 1 genannten Religionsgemeinschaften, der ihnen zugeordneten Einrichtungen ohne Rücksicht auf ihre Rechtsform oder der Vereinigungen, die sich die gemeinschaftliche Pflege einer Religion oder Weltanschauung zur Aufgabe machen, von ihren Beschäftigten ein loyales und aufrichtiges Verhalten im Sinne ihres jeweiligen Selbstverständnisses verlangen zu können.“
Kanonisches Recht
In Canon 1085 des Codex Iuris Canonici (Gesetzbuch des Kirchenrechts) heißt es:
„§ 1 Ungültig schließt eine Ehe, wer durch das Band einer früheren Ehe gebunden ist, auch wenn diese nicht vollzogen worden ist.
§ 2 Mag auch eine frühere Ehe aus irgendeinem Grund nichtig oder aufgelöst worden sein, so ist deshalb eine neue Eheschließung noch nicht erlaubt, bevor die Nichtigkeit bzw. die Auflösung der früheren Ehe rechtmäßig und sicher feststeht.“
Die Grundordnung des kirchlichen Dienstes im Rahmen kirchlicher Arbeitsverhältnisse vom 22. September 1993 (Amtsblatt des Erzbistums Köln 1993, S. 222, im Folgenden: GrO 1993) sieht in Art. 1 vor:
„Grundprinzipien des kirchlichen Dienstes
Alle in einer Einrichtung der katholischen Kirche Tätigen tragen durch ihre Arbeit ohne Rücksicht auf die arbeitsrechtliche Stellung gemeinsam dazu bei, dass die Einrichtung ihren Teil am Sendungsauftrag der Kirche erfüllen kann (Dienstgemeinschaft). …“
In Art. 4 („Loyalitätsobliegenheiten“) GrO 1993 heißt es:
„(1) Von den katholischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern wird erwartet, dass sie die Grundsätze der katholischen Glaubens- und Sittenlehre anerkennen und beachten. Insbesondere im pastoralen, katechetischen und erzieherischen Dienst sowie bei Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die aufgrund einer Missio canonica tätig sind, ist das persönliche Lebenszeugnis im Sinne der Grundsätze der katholischen Glaubens- und Sittenlehre erforderlich. Dies gilt auch für leitende Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.
(2) Von nicht katholischen christlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern wird erwartet, dass sie die Wahrheiten und Werte des Evangeliums achten und dazu beitragen, sie in der Einrichtung zur Geltung zu bringen.
(4) Alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben kirchenfeindliches Verhalten zu unterlassen. Sie dürfen in ihrer persönlichen Lebensführung und in ihrem dienstlichen Verhalten die Glaubwürdigkeit der Kirche und der Einrichtung, in der sie beschäftigt sind, nicht gefährden.“
Art. 5 („Verstöße gegen Loyalitätsobliegenheiten“) GrO 1993 bestimmt:
„(1) Erfüllt eine Mitarbeiterin oder ein Mitarbeiter die Beschäftigungsanforderungen nicht mehr, so muss der Dienstgeber durch Beratung versuchen, dass die Mitarbeiterin oder der Mitarbeiter diesen Mangel auf Dauer beseitigt. … Als letzte Maßnahme kommt eine Kündigung in Betracht.
(2) Für eine Kündigung aus kirchenspezifischen Gründen sieht die Kirche insbesondere folgende Loyalitätsverstöße als schwerwiegend an:
– Abschluss einer nach dem Glaubensverständnis und der Rechtsordnung der Kirche ungültigen Ehe,
(3) Ein nach Abs. 2 generell als Kündigungsgrund in Betracht kommendes Verhalten schließt die Möglichkeit einer Weiterbeschäftigung aus, wenn es begangen wird von … leitend tätigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern … Von einer Kündigung kann ausnahmsweise abgesehen werden, wenn schwerwiegende Gründe des Einzelfalles diese als unangemessen erscheinen lassen.“
Die Grundordnung für katholische Krankenhäuser in Nordrhein-Westfalen vom 5. November 1996 (Amtsblatt des Erzbistums Köln, S. 321) sieht vor:
„A. Zuordnung zur Kirche
6. Für den Träger ist die auf der Grundlage der Erklärung der deutschen Bischöfe zum kirchlichen Dienst erlassene [GrO 1993] nebst Änderungen und Ergänzungen verbindlich. Als leitend tätige Mitarbeiter im Sinne der genannten Grundordnung gelten die Mitglieder der Krankenhausbetriebsleitung und die Abteilungsärzte.“
Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen
IR ist eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung nach deutschem Recht. Ihr Gesellschaftszweck ist die Verwirklichung von Aufgaben der Caritas (der internationalen Wohlfahrtsorganisation der katholischen Kirche) als Lebens- und Wesensäußerung der römisch-katholischen Kirche durch u. a. den Betrieb von Krankenhäusern. IR verfolgt nicht in erster Linie eigenwirtschaftliche Zwecke und unterliegt der Aufsicht des katholischen Erzbischofs von Köln (Deutschland).
JQ ist katholischer Konfession. Er ist ausgebildeter Arzt und arbeitet seit 2000 als Chefarzt der Abteilung „Innere Medizin“ eines Krankenhauses der IR aufgrund eines auf der Grundlage der GrO 1993 geschlossenen Dienstvertrags.
JQ war nach katholischem Ritus verheiratet. Im Jahr 2005 trennte sich seine erste Ehefrau von ihm, und im März 2008 wurde die Ehe geschieden. Im August 2008 heiratete JQ seine neue Lebensgefährtin standesamtlich, ohne dass seine erste Ehe für nichtig erklärt worden war.
Nachdem IR durch ein Schreiben vom 30. März 2009 von der erneuten Heirat Kenntnis erlangt hatte, kündigte sie das Arbeitsverhältnis gegenüber JQ zum 30. September 2009.
JQ erhob hiergegen beim Arbeitsgericht (Deutschland) Kündigungsschutzklage und machte geltend, dass seine erneute Eheschließung kein gültiger Kündigungsgrund sei. Die Kündigung verstoße gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz, da nach der GrO 1993 die Wiederheirat eines evangelischen oder konfessionslosen Chefarztes der Abteilung keine Folgen für dessen Arbeitsverhältnis mit IR gehabt hätte.
IR trug vor, die Kündigung gegenüber JQ sei sozial gerechtfertigt gewesen. Da JQ ein leitend tätiger Mitarbeiter im Sinne von Art. 5 Abs. 3 GrO 1993 gewesen sei, habe er durch Eingehung einer nach kanonischem Recht ungültigen Ehe in erheblicher Weise gegen seine Verpflichtungen aus dem Arbeitsverhältnis mit IR verstoßen.
Das Arbeitsgericht gab der Klage von JQ statt. Die von IR dagegen eingelegte Berufung wurde vom Landesarbeitsgericht (Deutschland) zurückgewiesen, worauf IR Revision beim Bundesarbeitsgericht (Deutschland) einlegte, die mit Urteil vom 8. September 2011 im Wesentlichen mit der Begründung zurückgewiesen wurde, dass die gegenüber JQ ausgesprochene Kündigung nicht gerechtfertigt sei, da IR nicht katholischen Arbeitnehmern, die dieselbe Art von Dienstposten wie JQ innehätten, bei Wiederheirat nicht kündige.
IR erhob Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht (Deutschland), das mit Beschluss vom 22. Oktober 2014 das Urteil des Bundesarbeitsgerichts aufhob und die Sache an dieses zurückverwies.
Nach Ansicht des Bundesarbeitsgerichts (Deutschland) hängt die Entscheidung über den Ausgangsrechtsstreit davon ab, ob die von IR gegenüber JQ ausgesprochene Kündigung im Hinblick auf § 9 Abs. 2 AGG zulässig sei. Diese Bestimmung sei jedoch im Einklang mit dem Unionsrecht auszulegen, weshalb die Entscheidung über den Rechtsstreit von der Auslegung von Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 2 der Richtlinie 2000/78 abhänge, der durch § 9 Abs. 2 AGG in nationales Recht umgesetzt worden sei.
Genauer gesagt fragt sich das vorlegende Gericht erstens, ob IR als eine von der katholischen Kirche gehaltene Kapitalgesellschaft des Privatrechts vom Anwendungsbereich von Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 2 der Richtlinie 2000/78 erfasst werde und von ihren Beschäftigten verlangen könne, dass sie sich loyal und aufrichtig im Sinne des Ethos dieser Kirche verhielten. Es sei nicht ausgeschlossen, dass sich eine solche privatrechtlich verfasste Gesellschaft, die sich in marktüblicher Weise im Gesundheitswesen betätige, unionsrechtlich keine kirchlichen Sonderrechte in Anspruch nehmen könne.
Insoweit fragt sich das Gericht, ob die Kirchen oder anderen öffentlichen oder privaten Organisationen, deren Ethos auf religiösen Grundsätzen oder Weltanschauungen beruht, verbindlich bestimmen könnten, was ein loyales und aufrichtiges Verhalten „im Sinne des Ethos der Organisation“ im Sinne von Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 2 der Richtlinie 2000/78 darstelle, und ob sie dabei – entsprechend dem deutschen Verfassungsrecht – autonom auch eine Abstufung von Loyalitätsanforderungen bei gleicher Leitungsfunktion allein nach der Konfessionszugehörigkeit des Beschäftigten vorsehen könnten.
Zweitens führt das vorlegende Gericht aus, dass es nach der Auslegung von Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 2 der Richtlinie 2000/78 durch den Gerichtshof die Aufgabe haben werde, unter Berücksichtigung des gesamten innerstaatlichen Rechts und unter Anwendung der danach anerkannten Auslegungsmethoden zu beurteilen, ob und inwieweit § 9 Abs. 2 AGG einer im Einklang mit Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78 stehenden Auslegung zugänglich sei und ob diese nationale Bestimmung, falls sie nicht unionsrechtskonform ausgelegt werden könne, ganz oder teilweise unangewendet zu lassen sei.
Insoweit fragt sich das vorlegende Gericht, ob das in Art. 21 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) niedergelegte Verbot der Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung dem Einzelnen ein subjektives Recht verleihe, das dieser vor den nationalen Gerichten geltend machen könne und diese Gerichte in Rechtsstreitigkeiten zwischen Privatpersonen verpflichte, von der Anwendung nationaler Vorschriften abzusehen, die mit diesem Verbot nicht im Einklang stünden. Die Charta sei zwar erst am 1. Dezember 2009 in Kraft getreten, während die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Kündigung im März 2009 ausgesprochen worden sei, doch erscheine es nicht ausgeschlossen, dass auch schon vor Inkrafttreten der Charta ein Verbot der Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung als allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts bestanden habe. Das Unionsrecht ginge aufgrund seines Anwendungsvorrangs dem nationalen Recht einschließlich des Verfassungsrechts vor.
Drittens möchte das vorlegende Gericht wissen, anhand welcher Kriterien zu bestimmen sei, ob das Verlangen nach einem loyalen und aufrichtigen Verhalten mit Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 2 der Richtlinie 2000/78 vereinbar sei.
Unter diesen Umständen hat das Bundesarbeitsgericht beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Ist Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 2 der Richtlinie 2000/78 dahin auszulegen, dass die Kirche für eine Organisation wie die Beklagte des vorliegenden Rechtsstreits verbindlich bestimmen kann, bei einem an Arbeitnehmer in leitender Stellung gerichteten Verlangen nach loyalem und aufrichtigem Verhalten zwischen Arbeitnehmern zu unterscheiden, die der Kirche angehören, und solchen, die einer anderen oder keiner Kirche angehören?
2. Sofern die erste Frage verneint wird:
a) Muss die Bestimmung des nationalen Rechts, wie hier § 9 Abs. 2 AGG, wonach eine solche Ungleichbehandlung aufgrund der Konfessionszugehörigkeit der Arbeitnehmer entsprechend dem jeweiligen Selbstverständnis der Kirche gerechtfertigt ist, im vorliegenden Rechtsstreit unangewendet bleiben?
b) Welche Anforderungen gelten gemäß Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 2 der Richtlinie 2000/78 für ein an die Arbeitnehmer einer Kirche oder einer der dort genannten anderen Organisationen gerichtetes Verlangen nach einem loyalen und aufrichtigen Verhalten im Sinne des Ethos der Organisation?