Einstweiliger Rechtsschutz im sozialgerichtlichen Verfahren, Eilbedürftigkeit wegen der mit der Durchführung des Hauptsacheverfahrens
notwendig verbundenen zeitlichen Nachteile
Gründe:
I. Streitig in dem Antragsverfahren ist die Verpflichtung der Antragsgegnerin (Ag) zur Gewährung einer Verletztenrente.
Der 1965 geborene Antragsteller (Ast) erlitt am 11.11.2006 bei Baumfällarbeiten einen Unfall. Er zog sich eine Fraktur des
rechten Unterschenkels zu (vgl. Durchgangsarztbericht des Dr. H. vom 13.11.2006). Nach Entlassung aus der stationären Behandlung
am 21.12.2006 teilte der Durchgangsarzt Dr. H. der Ag mit, dass die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) nach vorläufiger
Schätzung über die 26. Woche nach dem Unfall hinaus 20 vH betrage (Bericht vom 02.01.2007).
Die Ag holte ein unfallchirurgisches Gutachten von Prof. Dr. H. ein, der als Unfallfolgen ein chronisches Schmerzsyndrom des
rechten Unterschenkels nach Unterschenkelschaftfraktur mit Kompartmentsyndrom, eine Falschgelenkbildung am Wadenbeinschaft
bei vollständiger Ausheilung des Schienbeinbruches, reizlose Narben - jedoch Schwellneigung des körperfernen Unterschenkels
und des Sprunggelenks rechts, eine schmerzbedingte Bewegungseinschränkung des rechten oberen Sprunggelenkes und eine muskuläre
Atrophie des rechten Beins feststellte (Gutachten vom 21.10.2008). Die MdE durch die Verletzungsfolgen werde ab dem Tag nach
dem Auslaufen der Verletztengeldzahlung (29.09.2008) bis zum 08.10.2009 auf 10 vH eingeschätzt.
Der ebenfalls von der Ag gehörte Dr. K. kam in dem neurologisch-psychiatrischen Gutachten vom 17.11.2008 zum Schluss, dass
beim Ast unfallbedingt ein chronisches Schmerzsyndrom nach stattgehabter Gewebeschädigung infolge einer zwischenzeitlich verheilten
Tibiafraktur mit Kompartmentsyndrom bestehe. Diese Unfallfolge rechtfertige eine MdE in Höhe von 10 vH, wobei bei dieser Bewertung
Überschneidungen mit dem unfallchirurgischen Fachgebiet enthalten seien. In psychischer Hinsicht bestehe dem Eindruck nach
eine bewusstseinsnahe verstärkte Beschwerdeschilderung bei persönlichkeitsbedingter psychosomatischer Reaktionsweise.
Nach Einholung einer beratungsärztlichen Stellungnahme des Chirurgen Dr. B., der die Gesamt-MdE in Höhe von 10 vH einschätzte,
erkannte die Ag mit Bescheid vom 17.12.2008 das Ereignis vom 11.11.2006 als Arbeitsunfall an und lehnte die Gewährung einer
Verletztenrente ab. Die Erwerbsfähigkeit sei nach Ende des Verletztengeldanspruches, also ab 29.09.2008, nicht um wenigstens
20 vH gemindert. Die Unfallfolgen bezeichnete die Ag unter Übernahme der von Prof. Dr. H. und Dr. K. festgestellten unfallbedingten
Gesundheitsstörungen. Der Widerspruch des Ast blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 19.02.2009).
Dagegen hat der Ast am 18.03.2009 Klage beim Sozialgericht (SG) Bayreuth erhoben und gleichzeitig den Erlass einer einstweiligen Anordnung beantragt, die Ag zur Zahlung einer Verletztenrente
nach einer MdE von 20 vH rückwirkend ab dem 29.09.2008 zu verpflichten. Das Gutachten des Dr. K. sei das Papier nicht wert,
auf das es geschrieben worden sei. Das Gutachten des Prof. Dr. H. werde ebenfalls stark angezweifelt. Es sei der Verdacht
auf Knorpelschaden bei posttraumatischer Arthrose nach Unterschenkelfraktur festgestellt worden (Hinweis auf Überweisungsschein
der Chirurgin A. B. vom 02.03.2009). Dr. H. sei in der Mitteilung vom 02.01.2007 von einer MdE in Höhe von 20 vH ausgegangen.
Das Zentrum Bayern Familie und Soziales (ZBFS) habe mit Bescheid vom 05.11.2008 einen Grad der Behinderung (GdB) von 20 festgestellt.
In einer nervenärztliche Stellungnahme des ärztlichen Dienstes des ZBFS vom 23.03.2009 werde für das Schmerzsyndrom und die
seelische Störung zusammen ein Einzel-GdB von 20 und unter Berücksichtigung einer versorgungsärztlichen Stellungnahme vom
11.03.2009 auf dem chirurgischen Fachgebiet (Einzel-GdB von 20) ein Gesamt-GdB von 30 vorgeschlagen.
Mit Beschluss vom 14.04.2009 hat das SG den Erlass einer einstweiligen Anordnung mangels glaubhaft gemachten Anordnungsanspruchs abgelehnt. Allgemein gehaltene Einwände
gegen die von der Ag eingeholten Gutachten reichten nicht aus. Bei summarischer Prüfung erwiesen sich die von Prof. Dr. H.
und Dr. K. erstellten Gutachten als schlüssig und folgerichtig. Der vom ärztlichen Dienst des ZBFS festgestellte Einzel-GdB
von 20 auf dem nervenärztlichen Gebiet berücksichtige nicht nur das chronische Schmerzsyndrom, sondern auch eine beim Ast
unfallunabhängig bestehende seelische Störung. Der Einzel-GdB von 20 könne daher nicht in Beziehung gesetzt werden zu dem
als Unfallfolge anerkannten Schmerzsyndrom. Hinsichtlich der versorgungsärztlichen Bewertung auf dem chirurgischen Gebiet
mit einem Einzel-GdB von 20 sei darauf hinzuweisen, dass die versorgungsmedizinischen Grundsätze für die Feststellung des
GdB nicht mit den Erfahrungswerten gleichzusetzen seien, die Grundlage für die Bewertung der MdE aufgrund der Folgen eines
Arbeitsunfalls seien. Die versorgungsmedizinischen Grundsätze seien in der gesetzlichen Unfallversicherung nicht anwendbar.
Die anzustellende summarische Prüfung gebiete es, dem von der Chirurgin A. B. geäußerten Verdacht auf Knorpelschaden bei posttraumatischer
Arthrose im Antragsverfahren nicht nachzugehen.
Hiergegen hat der Ast Beschwerde eingelegt. Prof. Dr. H. und Dr. K. berücksichtigten nicht, dass er wegen der Gefäßerkrankung
Gehstrecken über 50m nicht schmerzfrei zurücklegen könne. Es sei immer ein Ruheschmerz vorhanden. Er habe sehr schwere soziale
Anpassungs- und Persönlichkeitsstörungen. Die anhaltende Muskelschwäche gehe bis zur Steh- und Gehunfähigkeit. Es werde auf
ein Gutachten des Chirurgen Dr. B. verwiesen, das dieser am 07.04.2009 für das SG in dem Verfahren S 8 SB 566/08 erstellt habe. Dr. B. habe einen Gesamt-GdB von 20 festgestellt. Es werde um eine schnelle Entscheidung gebeten, da am 29.09.2009
der Anspruch auf Arbeitslosengeld auslaufe. Er könne weiterhin keiner Erwerbstätigkeit nachgehen. Der materielle Verlust sei
auf weit über 1.500 EUR monatlich zu beziffern. Er habe eine Familie mit drei Kindern zu versorgen. Er werde keine Leistungen
nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch beziehen.
Der Ast beantragt, den Beschluss des SG vom 14.04.2009 aufzuheben und die Ag zu verpflichten, ihm wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 11.11.2006 Verletztenrente
ab dem 29.09.2008 nach einer MdE von 20 vH zu gewähren.
Die Ag beantragt, die Beschwerde gegen den Beschluss des SG vom 14.04.2009 zurückzuweisen.
Es bestehe keine Veranlassung, von der Entscheidung des SG abzuweichen.
Zur Ergänzung des Sachverhaltes wird auf die beigezogene Akte der Ag und die Akte des SG sowie die Akte des vorliegenden Antragsverfahrens Bezug genommen.
II. Die zulässige Beschwerde ist unbegründet und daher zurückzuweisen. Zutreffend hat das SG die beantragte einstweilige Anordnung abgelehnt.
Gegenstand der einstweiligen Anordnung ist vorliegend der Erlass einer Regelungsanordnung nach §
86b Abs
2 Satz 2
Sozialgerichtsgesetz (
SGG), da es dem Ast um die Einräumung eines vorläufigen Rechtszustandes geht. Im Einzelnen begehrt er die vorläufige Zahlung
von Geldleistungen in Hinblick auf eine voraussichtlich zu erbringenden Verletztenrente. Nach §
86b Abs
2 Satz 2
SGG kann das Gericht zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis eine einstweilige Anordnung
treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Eine Regelungsanordnung setzt einen
Anordnungsanspruch, also einen materiell-rechtlichen Anspruch auf die Leistung, zu der der Antragsgegner im Wege des einstweiligen
Rechtsschutzes verpflichtet werden soll, sowie einen Anordnungsgrund, nämlich einen Sachverhalt, der die Eilbedürftigkeit
der Anordnung begründet, voraus. Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund sind glaubhaft zu machen (§
86b Abs
2 Satz 4
SGG iVm §
920 Abs
2 Zivilprozessordnung).
Grundsätzlich ist für das Vorliegen eines Anordnungsgrundes auf eine summarische Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache
abzustellen. Allerdings ist der Rechtsschutzgarantie des Art
19 Abs
4 Grundgesetz insofern Rechnung zu tragen, als in den Fällen, in denen es um existentiell bedeutsame Leistungen für den Antragsteller geht,
den Gerichten eine lediglich summarische Prüfung der Sach- und Rechtslage verwehrt ist. Die Gerichte haben unter diesen Voraussetzungen
die Sach- und Rechtslage abschließend zu prüfen. Ist dem Gericht in einem solchen Fall eine vollständige Aufklärung der Sach-
und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, so ist anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden, welchem Beteiligten ein Abwarten
der Entscheidung in der Hauptsache eher zuzumuten ist (BVerfG Beschluss vom 02.05.2005 - 1 BvR 569/05 = NVwZ 2005, 927, BVerfG Beschluss vom 22.11.2002 - 1 BvR 1586/02 = NJW 2003, 1236, 1237).
Ob der Ast wegen der Folgen des Unfalls vom 11.11.2006 Verletztenrente nach §
57 Abs
1 Satz 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (
SGB VII) beanspruchen kann, ist nach dem derzeitigen Stand des Verfahrens ungeklärt. Nach dieser Vorschrift haben Versicherte nur
dann Anspruch auf Verletztenrente, wenn deren Erwerbsfähigkeit infolge des Versicherungsfalls (hier: Arbeitsunfalls) über
die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus um wenigstens 20 vH gemindert ist. Nach den von der Ag eingeholten Gutachten
ergibt sich eine MdE von 10 vH, so dass eine rentenberechtigende MdE nicht erreicht wird. Die gutachterlichen Äußerungen zur
Höhe des GdB sind - auch soweit sie sich auf unfallbedingte Gesundheitsstörungen beziehen - für die Einschätzung der Unfallfolgen
nicht heranzuziehen. Denn im Gegensatz zur MdE bewertet der GdB das Ausmaß der Funktionsbeeinträchtigungen in allen Lebensbereichen
und nicht nur die Einschränkungen im allgemeinen Erwerbsleben. Eine abschließende Klärung der Folgen des Unfalls vom 11.11.2006,
insbesondere hinsichtlich der vom Ast geltend gemachten Schmerzbelastung und Einschränkung der Wegefähigkeit, ist in Anbetracht
der gebotenen Eilbedürftigkeit des Antragsverfahrens nicht möglich.
Bei der demnach anzustellenden Interessenabwägung ist zu berücksichtigen, dass der Ast Gründe, die eine Eilbedürftigkeit -
also die Vorwegnahme der Entscheidung der Hauptsache - rechtfertigen könnten, nicht glaubhaft gemacht hat. Es ist nicht erkennbar,
aus welchen Gründen ihm ein Abwarten der Entscheidung in der Hauptsache nicht zumutbar sein soll. Eine bevorstehende existenzgefährdende
finanzielle Notlage wurde nicht glaubhaft gemacht. Der pauschale Hinweis auf den zukünftigen Wegfall des Arbeitslosengeldanspruches
reicht hierfür nicht aus. Allein die mit der Durchführung des Hauptsacheverfahrens notwendig verbundenen zeitlichen Nachteile
genügen nicht, die Eilbedürftigkeit einer einstweiligen Anordnung zu rechtfertigen. Dies zugrunde gelegt hat das Interesse
des Ast an einer vorläufigen Zahlung der Verletztenrente gegenüber dem Interesse der Ag an der Vermeidung ungerechtfertigter
Leistungen zurückzutreten.
Die Kostenentscheidung ergeht nach §
193 SGG.
Die Entscheidung ist unanfechtbar (§
177 SGG).