Anspruch auf prophylaktische Mastektomie mit Brustsofortrekonstruktion als Sachleistung
Krankheitsrisiko als Krankheit
Risiko einer Verschlimmerung einer Grunderkrankung
Tatbestand
Die Klägerin begehrt von der Beklagten eine beidseitige prophylaktische Mastektomie (Brustamputation) mit Brustsofortrekonstruktion
als Sachleistung.
Die 1986 geborene Klägerin ist bei der Beklagten krankenversichert. Ihre Großmutter erkrankte im Alter von ca. 30 Jahren an
Brustkrebs, ihre Mutter im Alter von ca. 39 Jahren. Beide sind daran verstorben. Im Jahr 2016 erkrankte zudem eine Tante mütterlicherseits
an Brustkrebs. Auch sie ist inzwischen verstorben.
Aufgrund der familiären Vorbelastung wurde die Klägerin im Jahr 2010 im Universitätsklinikum W-Stadt humangenetisch beraten.
Das Ergebnis dieser genetischen Beratung fasste das Zentrum für familiären Brust- und Eierstockkrebs, Institut für Humangenetik,
Universitätsklinikum W-Stadt, mit Schreiben vom 06.05.2010 wie folgt zusammen:
Etwa jede 9.-10. Frau erkranke im Laufe ihres Lebens an einem bösartigen Brusttumor (Mammakarzinom). Man unterscheide nicht
erbliche von erblichen (familiären) Erkrankungen, wobei die nicht erbliche Form sehr viel häufiger sei als die erbliche. Bei
Patientinnen mit einer erblichen Form des Brustkrebses finde man zwar im Durchschnitt einen frühen Erkrankungsbeginn und ein
beidseitiges Auftreten des Tumors, der stärkste Hinweis auf das Vorliegen einer erblichen Form werde jedoch durch das Vorhandensein
von weiteren Erkrankungsfällen in der Familie gegeben. Das Auftreten mehrerer Erkrankungsfälle von Brust- bzw. Eierstockkrebs
in einer Familie sei aber nicht beweisend für das Vorliegen einer erblichen Form, da bei der Häufigkeit dieser Krebsarten
in der Allgemeinbevölkerung mehrere Erkrankungsfälle in einer Familie auch zufällig auftreten können. Der erbliche Brust-
und Eierstockkrebs werde autosomal-dominant vererbt. Das Risiko, die für die Erkrankung verantwortliche Erbanlage von einem
Elternteil zu erhalten, belaufe sich auf 50 %. Bisher seien zwei Erbanlagen (Gene) bekannt, deren Veränderungen (Mutationen)
insgesamt für die Hälfte der Fälle von familiärem Brust- und Eierstockkrebs verantwortlich seien: das BRCA1-Gen auf Chromosom
17 und das BRCA2-Gen auf Chromosom 13. Bei den restlichen Fällen liege vermutlich eine Mutation in weiteren, noch unbekannten
Genen vor. Gelinge in der Genanalyse der Nachweis einer Mutation bei einer betroffenen Person, könne damit eindeutig die Diagnose
der Erblichkeit des Brustkrebses gestellt werden. Mit dem Nachweis der Mutation bei einer Betroffenen sei es auch möglich,
Familienangehörige auf das Vorliegen der Mutation zu testen, bevor überhaupt erste klinische Symptome beobachtet würden. Sollte
bei einer weiblichen Angehörigen im Rahmen einer solchen präsymptomatischen Diagnostik das Vorliegen der Mutation nachgewiesen
werden, bestehe für sie ein Risiko von ca. 60-80 %, im Laufe ihres Lebens an Brustkrebs, und ein Risiko von ca. 20-50 %, im
Laufe ihres Lebens an Eierstockkrebs zu erkranken. Familienangehörige, die eine in ihrer Familie vorkommende Mutation nicht
besäßen, hätten gegenüber der Allgemeinbevölkerung kein erhöhtes Risiko für Brust- oder Eierstockkrebs. Lasse sich in der
Genanalyse bei einer betroffenen Person keine Mutation nachweisen, sei damit jedoch die Diagnose eines familiären Brustkrebses
nicht ausgeschlossen, da in vielen Fällen eine Mutation derzeit noch nicht nachweisbar sei.
Bezogen auf die Situation der Klägerin bedeute dies zusammenfassend: Aufgrund der Daten großer Familienuntersuchungen bestehe
für die Klägerin, ohne dass man eine molekulargenetische Diagnostik durchgeführt habe, eine Wahrscheinlichkeit von etwa 37
% für eine Mutation, zum Beispiel im Gen BRCA1 oder BRCA2. Zur Risikoabklärung sei eine molekulargenetische Untersuchung in
den Genen BRCA1 und BRCA2 möglich. Lasse sich bei der DNA-Untersuchung der Klägerin keine Mutation nachweisen, bestünde eine
Schwierigkeit in der Aussage. Denn dies könne bedeuten:
- In der Familie der Klägerin liege tatsächlich auch bei Betroffenen keine genetische Veränderung vor und es bestehe somit
insgesamt keine familiäre genetische Prädisposition für den Brustkrebs.
- In der Familie der Klägerin könne eine genetische Veränderung in einem bisher unbekannten Gen vorliegen, welche mit den
derzeit zur Verfügung stehenden Methoden nicht nachgewiesen werden könne.
- Oder es könne sein, dass zwar bei der erkrankten Mutter der Klägerin eine Mutation im BRCA1- oder BRCA2-Gen vorgelegen habe,
dass diese aber von der Klägerin nicht geerbt worden sei.
Falls bei der Klägerin ein unauffälliger Befund vorliegen sollte, könne nicht herausgefunden werden, welche dieser Möglichkeiten
bei ihr tatsächlich zutreffe. Umgekehrt würde der Nachweis einer entsprechenden Mutation bei der Klägerin jedoch das Vorliegen
einer erblichen Krebsbelastung als sehr wahrscheinlich erscheinen lassen bzw. bestätigen.
Daraufhin erfolgte eine prädiktive Testung der Klägerin bei Brustkrebs in der Familie durch das Zentrum Medizinische Genetik
W-Stadt. Laut dessen Befundbericht vom 04.02.2011 habe man bei der Klägerin keine eindeutig pathogene Veränderung gefunden.
Im Exon 11 11-12 des BRCA2-Gens seien heterozygote Veränderungen nachgewiesen worden. Über mögliche Auswirkungen dieser Veränderungen
im BRCA2-Gen auf die Entstehung von Brustkrebs könne man jedoch keine Aussage machen. Es könne sein, dass ein anderes, nicht
untersuchtes Gen für die Krebsentwicklung verantwortlich sei. Auch wäre es denkbar, dass die Krebserkrankungen in der klägerischen
Familie nicht vor einem erblichen Hintergrund zu sehen seien oder dass zwar bei der erkrankten Mutter bzw. Großmutter der
Klägerin eine Mutation im BRCA1- bzw. BRCA2-Gen vorgelegen habe, die Klägerin selbst diese jedoch nicht geerbt habe. Aufgrund
der molekulargenetischen Untersuchung könne daher keine weitergehende Aussage über die Ursache der Brustkrebserkrankungen
in der klägerischen Familie gemacht werden.
Am 01.12.2016 beantragte die Klägerin die Kostenübernahme für eine vorbeugende Mastektomie beidseits. Sowohl ihre Mutter als
auch ihre Großmutter seien in jungen Jahren an Brustkrebs erkrankt und in der Folge daran verstorben. Im August 2016 sei die
Tante der Klägerin mit 59 Jahren an Brustkrebs erkrankt. Sie, die Klägerin, sei 30 Jahre alt und habe einen Sohn im Alter
von zwei Jahren. Durch die erhöhte familiäre Vorbelastung sei sie im Alter von 23 Jahren zur humangenetischen Untersuchung
überwiesen worden. Bei dieser Untersuchung sei eine Mutation im BRCA2-Gen festgestellt worden. Wegen ihrer familiären Vorbelastung
und dieses Befundes sei bei ihr ein deutlich erhöhtes Erkrankungsrisiko gegenüber der Allgemeinbevölkerung diagnostiziert
worden. Sie sei deshalb in die GEN-RF-Studie am Universitätsklinikum W-Stadt aufgenommen worden. Dadurch habe sie die Möglichkeit
einer intensiven Früherkennung (halbjährliche Ultraschalluntersuchung und jährliche Mammografie und Kernspintomographie).
Trotz dieser Möglichkeit intensiver Früherkennungsmaßnahmen habe sie Angst, an Brustkrebs zu erkranken. Die behandelnden Ärzte
der intensiven Früherkennung hätten ihr eingehend zu dem Schritt der vorbeugenden Mastektomie geraten.
Neben der humangenetischen Beurteilung der Klägerin vom 06.05.2010 (siehe oben) war dem Antrag ein Attest von Prof. Dr. F.
(Praxis für Ästhetisch-plastische Chirurgie, M-Stadt) vom 25.11.2016 mitsamt Fotodokumentation der klägerischen Brust beigefügt,
wonach bei hohem Brustkrebsvorkommen in der Familienanamnese der Klägerin als Therapie eine hautsparende Mastektomie beidseits
und eine Brustsofortrekonstruktion mittels freier Haut-Fettlappenplastik vom Unterbauch (DIEP-Lappenplastik) empfohlen werde.
Eine derartige Operation erfordere einen stationären Aufenthalt.
Mit Auftrag vom 13.12.2016 bat die Beklagte den medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) um Prüfung der medizinischen
Notwendigkeit der beantragten prophylaktischen Mastektomie und informierte die Klägerin hierüber mit Schreiben vom selben
Tag.
Mit Stellungnahme vom 20.12.2016 empfahl der MDK, eine Kostenübernahme für die prophylaktische Mastektomie abzulehnen, da
laut vorgelegtem molekulargenetischem Bericht vom 04.02.2011 eine eindeutig pathogene Veränderung an den relevanten Genen
nicht gefunden und somit keine eindeutige Disposition für eine Brustkrebserkrankung molekulargenetisch festgestellt worden
sei.
Laut Aktenvermerk der Beklagten vom 02.01.2017 habe man von Seiten der Beklagten die Klägerin am 02.01.2017 telefonisch über
die Antragsablehnung informiert und mit ihr über das MDK-Ergebnis und die Ablehnung der prophylaktischen Mastektomie gesprochen.
Mit Bescheid vom selben Tag (02.01.2017) lehnte die Beklagte die Kostenübernahme für die geplante prophylaktische Mastektomie
gegenüber der Klägerin ab, weil eine eindeutige genetische Veranlagung für eine Brustkrebserkrankung nicht feststellbar sei.
Die Klägerin erhob gegen die Ablehnung Widerspruch mit Schreiben vom 22.01.2017, den ihr Prozessbevollmächtigter in der Folge
mit den gehäuften Erkrankungen in der klägerischen Familie und den Ergebnissen der eingereichten ärztlichen Berichte begründete.
Mit Widerspruchsbescheid vom 31.08.2017 (laut Auskunft der Beklagten vom 09.03.2020 mit einfacher Post am 01.09.2017 zu Post
gegeben) wies die Beklagte den Widerspruch zurück unter Verweis auf die Stellungnahme des MDK vom 20.12.2016.
Gegen den dem Klägerbevollmächtigen laut Eingangsstempel der Kanzlei am 05.09.2019 zugegangenen Widerspruchsbescheid hat dieser
für die Klägerin am 05.10.2017 Klage zum Sozialgericht (SG) Würzburg erhoben und mit Schriftsatz vom 16.03.2018 zur Begründung auf die erhebliche familiäre Vorbelastung hinsichtlich
Brustkrebserkrankungen hingewiesen. Nach Angabe der behandelnden Ärzte würde die beantragte prophylaktische Mastektomie das
Erkrankungsrisiko erheblich reduzieren. Deshalb sei von einer medizinischen Notwendigkeit der Maßnahme auszugehen. Das Universitätsklinikum
W-Stadt, Humangenetik, habe ausgeführt, dass eine deutlich erhöhte Wahrscheinlichkeit von 37 % für eine Mutation in einem
mit Brustkrebs assoziierten Gen (z.B. BRCA1 oder BRCA2) bestehe und damit ein gegenüber der Allgemeinbevölkerung erhöhtes
Risiko, an Brustkrebs zu erkranken. Dieses erhöhte Erkrankungsrisiko bestehe auch dann, wenn keine eindeutige krankheitsverursachende
Veränderung im BRCA1- und BRCA2-Gen nachweisbar sei.
Mit Zustimmung der an Brustkrebs erkrankten Tante der Klägerin übersandte der Klägerbevollmächtigte dem SG am 18.04.2018 einen ärztlichen Bericht des G., L-Stadt, vom 26.02.2018, aus dem hervorgeht, dass bei der Tante eine Mutation
des PALB2-Gens festgestellt worden sei. Es sei davon auszugehen, dass das mit einer solchen Mutation verbundene Risiko, im
Laufe des Lebens an Brustkrebs zu erkranken, 30-40 % betrage.
Mit Urteil vom 10.07.2019 hat das SG unter Bezugnahme auf die Ausführungen des Widerspruchsbescheids vom 31.08.2017 die Klage abgewiesen.
Gegen das ihm am 17.07.2019 zugestellte Urteil hat der Prozessbevollmächtigte der Klägerin für diese am 22.07.2019 Berufung
zum Bayerischen Landessozialgericht (LSG) eingelegt und zur Begründung mit Schriftsatz vom 21.10.2019 vorgetragen, dass eine
zwischenzeitlich erneut erfolgte humangenetische Testung eine Veränderung im BRCA2-Gen gezeigt habe, bei der nicht ausgeschlossen
werden könne, dass sie zu einer Beeinträchtigung der Funktion des Proteins führe. Aufgrund dieser Tatsache sowie der erblich
bedingten Vorbelastung könne es der Klägerin nicht zugemutet werden abzuwarten, bis durch die Mutation eine entsprechende
Erkrankung bei ihr ausbreche. Verständlicherweise schlage sich diese Sorge in einer unzumutbaren Art und Weise auf die psychische
Situation der Klägerin nieder.
Der Berufungsbegründung beigefügt waren ein Befundbericht des Zentrums Medizinische Genetik W-Stadt vom 06.09.2019 über eine
Prädiktivtestung der Klägerin auf familiäre Disposition zu Brustkrebs sowie eine humangenetische Beurteilung durch das Zentrum
für familiären Brust- und Eierstockkrebs, Institut für Humangenetik, Universitätsklinikum W-Stadt, vom 09.10.2019. Aus diesen
Unterlagen geht hervor, dass auch eine aktualisierte molekulargenetische Untersuchung keinen Nachweis einer pathogenen, d.h.
krankheitsverdächtigen, Keimbahnmutation bei der Klägerin in den Genen BRCA1, BRCA2, CHEK2, RAD51C, RAD51D, TP53, CDH1, ATM,
BRIP1, BARD1, PTEN oder PALB2 erbracht habe. Zwar sei bei der Klägerin eine Veränderung im BRCA2-Gen gefunden worden. Deren
klinische Bedeutung sei bislang allerdings unklar. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt könne man nicht eindeutig beurteilen, ob diese
Veränderung eine erhöhte Brustkrebs-/Eierstockkrebsbelastung bedinge. Die Veränderung sei in der Datenbank des Konsortiums
für familiären Brust- und Eierstockkrebs als unklassifizierte Variante gelistet. Dies bedeute, dass eine Zuordnung der Veränderung
noch nicht gelungen sei. Es sei nicht auszuschließen, dass eine Beeinträchtigung der Funktion des Proteins hieraus hervorgehe.
Ebenso bestehe jedoch auch die Möglichkeit, dass ein unbekanntes Gen für die Erkrankungen verantwortlich sei. Schließlich
sei es auch denkbar, dass die familiären Brust- und Eierstockkrebserkrankungen in der Familie der Klägerin nicht vor einem
erblichen Hintergrund zu sehen seien. Somit sei durch diesen Befund keine weitere Aussage bezüglich der genetischen Belastung
einzelner Familienmitglieder möglich. Aufgrund der bereits früher durchgeführten statistischen Berechnung der Wahrscheinlichkeit,
an Brustkrebs zu erkranken, sei die Klägerin in das Programm der intensivierten Früherkennung aufgenommen worden. Man empfehle
der Klägerin weiterhin die Teilnahme an diesem Programm.
Die Beklagte ist auch im Berufungsverfahren bei ihrer bisherigen Rechtsauffassung geblieben.
Bei einem Erörterungstermin am 06.02.2020 hat die Klägerin erklärt, dass ihr 2014 oder 2015 ein Oberarzt der Frauenklinik
des Universitätsklinikum W-Stadt in einem Gespräch eine Brustamputation nahegelegt habe, dies aber nicht schriftlich habe
fixieren wollen.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 10.07.2019 sowie den Bescheid der Beklagten vom 02.01.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheids
vom 31.08.2017 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin eine beidseitige prophylaktische hautsparende Mastektomie
mit Brustsofortrekonstruktion als Sachleistung zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Zur Ergänzung des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz sowie die beigezogene Verwaltungsakte
der Beklagten verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Klägerin (§§
143,
144,
151 Sozialgerichtsgesetz -
SGG -) ist zulässig, aber unbegründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch gegen die Beklagte auf die streitgegenständliche Mastektomie
als Sachleistung.
Die Klage ist zulässig, sie wurde insbesondere fristgemäß am 05.10.2017 erhoben. Aufgrund des Posteingangsstempels der Kanzlei
des Bevollmächtigten vom 05.09.2017 ist eine frühere Bekanntgabe des Widerspruchsbescheids vom 31.08.2017 nicht nachgewiesen.
Die einmonatige Klagefrist begann damit am 06.09.2017 zu laufen und endete mit Ablauf des 05.10.2017 (§
87 Abs.
1 Satz 1, §
64 Abs.
1 und Abs.
2 Satz 1
SGG), weshalb die Klageerhebung an diesem Tag noch fristgemäß erfolgte. Allerdings ist die Klage unbegründet.
Nach §
27 Abs.
1 Satz 1
SGB V haben Versicherte Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre
Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Grundlegende Voraussetzung für einen Anspruch einer Versicherten
nach §
27 SGB V auf eine Mastektomie wegen einer drohenden, später eintretenden Krebserkrankungen ist damit, dass sie an einer Krankheit
im Sinne von §
27 Abs.
1 Satz 1
SGB V leidet.
1. Krankheit - Definition
Krankheit im Sinne des §
27 Abs.
1 Satz 1
SGB V ist ein regelwidriger Körper- oder Geisteszustand, der die Notwendigkeit ärztlicher Heilbehandlung oder - zugleich oder allein
- Arbeitsunfähigkeit zur Folge hat (Bundessozialgericht - BSG -, Urteil vom 19.02.2003, B 1 KR 1/02 R). Als regelwidrig ist ein Körper- oder Geisteszustand anzusehen, der von der durch das Leitbild eines gesunden Menschen geprägten
Norm abweicht (BSG, Urteil vom 28.09.2010, B 1 KR 5/10 R). Krankheitswert im Rechtssinne kommt nicht jeder körperlichen Unregelmäßigkeit zu. Erforderlich ist vielmehr grundsätzlich,
dass der Versicherte in seinen Körperfunktionen beeinträchtigt wird. Darüber hinaus hat das BSG in eng begrenzten weiteren Konstellationen, namentlich bei Entstellung bzw. im Falle eines bloßen Krankheitsverdachts oder
Krankheitsrisikos (siehe unten 2.), das Vorliegen einer Krankheit im Rechtssinne ebenfalls bejaht (vgl. die Übersicht bei
Hauck, Erkrankungsrisiko als Krankheit im Sinne der gesetzlichen Krankenversicherung?, NJW 2016, Seite 2695 ff.).
Der ständige Fortschritt der Medizin bedeutet gleichzeitig auch eine Wandelbarkeit dessen, was als Krankheit erkannt und behandelt
werden kann, und daran anknüpfend auch einen Wandel in der gesellschaftlichen Anschauung von Krankheit. Dementsprechend hat
der Gesetzgeber bewusst davon abgesehen, den Begriff der Krankheit im Gesetz zu definieren, und hat, da sein Inhalt ständigen
Änderungen unterliege, stattdessen auf die herrschende Rechtsprechung und Praxis verwiesen (BT-Drucks. 11/2237, Seite 170).
Der Rechtsbegriff der Krankheit ist damit nicht statisch, sondern dynamisch unter Berücksichtigung neuer Erkenntnisse und
Anschauungen auszulegen.
Bei der Auslegung des Krankheitsbegriffs stehen die beiden maßgeblichen Merkmale der Regelwidrigkeit und der Behandlungsbedürftigkeit
nicht isoliert nebeneinander, sie ergänzen sich vielmehr und beeinflussen sich gegenseitig. Ein regelwidriger Zustand ist
rechtlich ohne Bedeutung, wenn er keine ärztliche Behandlung erfordert (und auch keine Arbeitsunfähigkeit bedingt), so wie
umgekehrt ein Behandlungsbedarf nur medizinisch, also mit einer gesundheitlichen Beeinträchtigung begründet werden kann. Die
gegenseitige Durchdringung der beiden Begriffsmerkmale und ihre Einbindung in den Gesamtzusammenhang der Vorschriften über
die Krankenbehandlung unterstreicht die Eigenschaft des Krankheitsbegriffs als einen sozialversicherungsrechtlichen Funktionsbegriff
(Steege in: Hauck/Noftz,
SGB V, Stand 10/2019, §
27 Rn. 35). Der Krankheitsbegriff ist ein rechtlicher Zweckbegriff, der von seiner Funktion geprägt wird, das durch ihn abgedeckte
Risiko im Krankheitsbereich zu bestimmen und die Leistungspflicht auszulösen (Nolte in: Kasseler Kommentar, Stand 07/2017,
§
27 SGB V Rn. 9).
2. Krankheitsrisiko als Krankheit
Die höchstrichterliche Rechtsprechung hat eine Krankheit unabhängig von einer (akuten) Funktionsbeeinträchtigung in eng begrenzten
weiteren Konstellationen auch ohne Vorliegen einer Funktionsbeeinträchtigung angenommen. So liegt eine Krankheit im Sinne
von §
27 Abs.
1 Satz 1
SGB V auch dann vor, wenn eine anatomische Abweichung entstellend wirkt (vgl. BSG, Urteil vom 22.04.2015, B 3 KR 3/14 R). Zudem können auch Fälle eines bloßen Krankheitsverdachts eine Krankheit im Rechtssinne darstellen, wenn zwar Indizien für
eine Erkrankung sprechen, aber (noch) nicht feststeht, ob objektiv tatsächlich eine Gesundheitsbeeinträchtigung vorliegt (vgl.
BSG, Urteil vom 24.07.1985, 9b RU 36/83; Steege in: Hauck/Noftz,
SGB V, Stand 10/2019, § 27 Rn. 48). Darüber hinaus kann nach Auffassung des BSG unter dem Gesichtspunkt der Behandlungsbedürftigkeit auch bereits ein Erkrankungsrisiko die Leistungspflicht der Gesetzlichen
Krankenversicherung (GKV) auslösen (vgl. hierzu Hauck, a.a.O., Seite 2695). Während beim Krankheitsverdacht unklar ist, ob
gegenwärtig eine Krankheit vorliegt, ist beim Erkrankungsrisiko unklar, ob künftig eine Krankheit eintreten wird. Im Falle
der Klägerin geht es also um ein Erkrankungsrisiko, nämlich dasjenige, an Brustkrebs zu erkranken.
Beim Erkrankungsrisiko führt das Risiko des Entstehens einer Krankheit, sofern es Behandlungsbedürftigkeit begründet, dazu,
dass bereits in dem risikobegründenden Zustand eine Regelwidrigkeit mit Krankheitswert gesehen wird. Dies betrifft zunächst
Fallgestaltungen, in denen bei einer bestehenden Grunderkrankung Behandlungsbedürftigkeit in Bezug auf das Risiko einer Verschlimmerung
(vgl. BSG, Urteile vom 18.11.1969, 3 RK 75/66, und vom 20.10.1972, 3 RK 93/71) oder weiterer Folgeerkrankungen durch die Grunderkrankung selbst (BSG, Urteil vom 16.11.1999, B 1 KR 9/97 R) oder deren Behandlung (BSG, Urteil vom 17.03.2010, B 1 KR 10/09 R) anzunehmen ist.
Allerdings hat das BSG in Einzelfällen für die Annahme einer Krankheit ein Erkrankungsrisiko auch ohne eine bereits bestehende Grunderkrankung im
Sinne einer akuten Funktionsbeeinträchtigung ausreichen lassen: Bei einer bestehenden Kieferanomalie ohne wesentliche Funktionsbeeinträchtigungen
und unklarer weiterer Entwicklung während der Wachstumsphase war für das BSG maßgeblich der Vergleich des Risikos einer unterbliebenen oder zu spät eingeleiteten Behandlung mit dem Ausmaß und der Schwere
der Gefährdung. Muss von einem verantwortungsbewusst handelnden Elternteil erwartet werden, dass er sein gefährdetes Kind
behandeln lässt, ist die Behandlung notwendig und damit eine behandlungsbedürftige Krankheit im Rechtssinne bereits in diesem
Stadium zu bejahen (BSG, Urteil vom 23.02.1973, 3 RK 82/72).
Auch die ernsthafte Gefahr einer schwerwiegenden Schädigung des körperlichen oder geistig-seelischen Gesundheitszustands einer
Versicherten aufgrund einer Schwangerschaft rechtfertigt, so das BSG, das Vorliegen einer Krankheit im Rechtssinne und folglich Maßnahmen zur Verhütung oder zum Abbruch einer Schwangerschaft
als Krankenhilfe (bzw. heute: Krankenbehandlung). In einem solchen Fall mit der Gewährung von Krankenhilfeleistungen zu warten,
bis die Krankheit eingetreten ist, obwohl ein früheres ärztliches Eingreifen bessere und weniger aufwändige Möglichkeiten
der Behandlung bietet, wäre weder vom Standpunkt der Versichertengemeinschaft zu verantworten noch den einzelnen Versicherten
zuzumuten (BSG, Urteil vom 13.02.1975, 3 RK 68/73).
Der aufgezeigten Rechtsprechung des BSG ist zu entnehmen, dass bei wertender Betrachtung eine Krankheit - unabhängig davon, ob bereits akute Funktionsbeeinträchtigungen
zu verzeichnen sind - vorliegen kann, wenn, basierend auf Fakten, künftig eine schwerwiegende Erkrankung mit Wahrscheinlichkeit
zu erwarten ist, wobei die jeweiligen Chancen bei frühzeitiger Behandlung gut sind, der zu erwartende Schaden bei nicht frühzeitig,
also nicht präventiv behandeltem Krankheitsverlauf dagegen dauerhaft und schwer ist (vgl. Hauck, a.a.O., Seite 2698). Letztlich
wird hier ein Erkrankungsrisiko aufgrund seiner Behandlungsfähigkeit als behandlungsbedürftige Krankheit im Rechtssinne erachtet
- aufgrund wertender Betrachtung, weil die mit dem Erkrankungsrisiko einhergehende Ungewissheit es für den Betroffenen unzumutbar
(und für die Versichertengemeinschaft nicht verantwortbar) macht, den tatsächlichen Eintritt der Funktionsstörung, d.h. der
Krankheit im engeren Sinn, abzuwarten (ebenso Bundesverwaltungsgericht - BVerwG -, Urteil vom 28.09.2017, 5 C 10/16; Hauck, a.a.O., Seite 2699; a.A. Gerlach in: Hauck/Noftz,
SGB V, Stand 09/2019, §
25 Rn. 10: Für eine Gefahrensituation in Form eines Erkrankungsrisikos seien keine Leistungen der Krankenbehandlung vorgesehen,
weil keine Krankheit vorliege.).
3. Speziell: Brustkrebsrisiko als Krankheit
In dem erwähnten Urteil des BVerwG vom 28.09.2017, 5 C 10/16, ging es um eine beihilfeberechtigte Beamtin, bei der zwei Verwandte in direkter mütterlicher Linie an Brustkrebs erkrankt
waren und bei der eine BRCA2-Genmutation bestand. Das BVerwG hat in dieser Entscheidung für die Fallgruppe des (genetisch
bedingten) erhöhten Brustkrebsrisikos aus der Rechtsprechung des BSG abgeleitet, dass ein regelwidriger Körperzustand nicht allein aus dem Umstand des Bestehens einer Genmutation resultiere,
sondern aus einem signifikant erhöhten Risiko folge, an Brustkrebs zu erkranken. Dem Erkrankungsrisiko komme Krankheitswert
zu, wenn der betreffenden Person im Wege einer wertenden Gesamtbetrachtung nicht zuzumuten sei, dem Geschehen seinen Lauf
zu lassen und sich auf die Inanspruchnahme von Früherkennungsmaßnahmen zu beschränken. In die Risikobewertung einzubeziehen
sei einerseits das individuelle Risiko, innerhalb eines überschaubaren Zeitraums zu erkranken, andererseits auch, ob Früherkennungsmaßnahmen
vorhanden seien, die hinreichend sensitiv seien, um bei einer festgestellten Brustkrebserkrankung gute Heilungschancen zu
bieten.
Allerdings hat das BVerwG die Gesamtabwägung im Hinblick auf das Vorliegen einer behandlungsbedürftigen Krankheit nicht selbst
vorgenommen, sondern den Rechtsstreit an das Berufungsgericht zurückverwiesen, weil die Vorinstanz zu der Frage, wie hoch
sich das Risiko für die Klägerin ausnehme, innerhalb einer überschaubaren Zeitspanne an Brustkrebs zu erkranken, keine tatsächlichen
Feststellungen getroffen habe.
4. Prophylaktische Mastektomie bei familiärer Belastung, aber ohne Nachweis einer Genmutation?
Rund 30 % aller Frauen mit einem Mammakarzinom in Deutschland weisen eine familiäre Belastung für Brustkrebs auf (Interdisziplinäre
S3-Leitlinie für die Früherkennung, Diagnostik, Therapie und Nachsorge des Mammakarzinoms, Langversion 4.2, August 2019, herausgegeben
von der Deutschen Krebsgesellschaft, der Deutschen Krebshilfe und der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen
Fachgesellschaften - AWMF -). Das Auftreten mehrerer Erkrankungsfälle von Brust- bzw. Eierstockkrebs in einer Familie allein
stellt aber keinen Nachweis für das Vorliegen einer erblichen Form dar, weil bei der Häufigkeit dieser Krebsarten in der Allgemeinbevölkerung
mehrere Erkrankungsfälle in einer Familie auch zufällig auftreten können. Gemäß der S3-Leitlinie für die Früherkennung, Diagnostik,
Therapie und Nachsorge des Mammakarzinoms, Seite 53, soll eine genetische Untersuchung angeboten werden, wenn eine familiäre
bzw. individuelle Belastung vorliegt, die mit einer mindestens 10 %-igen Mutationsnachweiswahrscheinlichkeit einhergeht. Dies
gilt u.a. für Frauen, wenn in einer Linie der Familie mindestens drei Frauen an Brustkrebs erkrankt sind oder mindestens zwei
Frauen an Brustkrebs erkrankt sind, davon eine vor dem 51. Lebensjahr.
Die Klägerin zählt zur Gruppe der mit einem erhöhten Brustkrebsrisiko familiär belasteten Frauen in diesem Sinne, weil sowohl
ihre Mutter als auch ihre Großmutter mütterlicherseits vor dem 51. Lebensjahr an Brustkrebs erkrankten und zudem auch noch
eine Tante mütterlicherseits ebenfalls an Brustkrebs erkrankte.
Bei rund 25 % der familiär belasteten Frauen kann eine Keimbahnmutation in einem der bekannten prädisponierenden Hochrisikogene
BRCA1 oder BRCA2 nachgewiesen werden. Frauen mit einer BRCA1- oder BRCA2-Mutation erkranken rund 20 Jahre früher als Frauen
ohne familiäres Risiko und haben ein lebenslanges Risiko von durchschnittlich 60 %, an einem Mammakarzinom, von durchschnittlich
40 %, an einem kontralateralen Mammakarzinom und von 16-55 %, an einem Ovarialkarzinom zu erkranken. Es konnten mittlerweile
auch weitere Risikogene identifiziert werden, z.B. CHEK2, PALB2 und RAD51C. Während CHEK2 mit einem moderaten Brustkrebsrisiko
assoziiert ist, scheint PALB2 mit einem ähnlich hohen Risiko wie BRCA1/2 einherzugehen, RAD51C ist primär mit einem erhöhten
Ovarialkarzinomrisiko assoziiert (S3-Leitlinie für die Früherkennung, Diagnostik, Therapie und Nachsorge des Mammakarzinoms,
Seite 53, 54).
Die jüngste molekulargenetische Testung der Klägerin vom September 2019 hat keinen Nachweis einer pathogenen, d.h. krankheitsverdächtigen,
Keimbahnmutation bei der Klägerin in den Genen BRCA1, BRCA2, CHEK2, RAD51C, RAD51D, TP53, CDH1, ATM, BRIP1, BARD1, PTEN oder
PALB2, die mit einem erhöhten Brustkrebsrisiko assoziiert werden, erbracht. Die Mutation im Gen PALB2, die bei der an Brustkrebs
erkrankten Tante nachgewiesen wurde, liegt bei der Klägerin nicht vor, ebenso wenig wie ein Mutation in den Hochrisikogenen
BRCA1 und 2. Zwar wurde eine heterozygote Veränderung im Exon 11 des BRCA1-Gens festgestellt. Über deren mögliche Auswirkungen
auf die Entstehung von Brustkrebs kann jedoch keine sichere Aussage gemacht werden. Ihre Signifikanz ist bislang noch unklar
(Bericht des Zentrums Medizinische Genetik W-Stadt vom 06.09.2019). Dies ist zu berücksichtigen bei der Gesamtabwägung, inwieweit
das Brustkrebsrisiko der Klägerin - aufgrund des in ihrer Familie bereits gehäuft aufgetretenen Brustkrebses, aber bei negativer
humangenetischer Untersuchung bezüglich der bekannten Hochrisikogene - als behandlungsbedürftige Krankheit im Sinne des §
27 Abs.
1 Satz 1
SGB V anzusehen ist.
Hierbei ist zu beachten, dass es sich bei der prophylaktischen Mastektomie um einen Eingriff in ein gesundes Organsystem zur
vorbeugenden Behandlung eines Erkrankungsrisikos handelt. Solche Eingriffe zur mittelbaren Krankenbehandlung sind nach der
Rechtsprechung des BSG zwar nicht gänzlich aus dem Leistungskatalog der GKV ausgeschlossen, sie bedürfen aber einer besonderen Rechtfertigung (vgl.
BSG, Urteil vom 19.02.2003, B 1 KR 1/02 R) - vorliegend dergestalt, dass die prophylaktische Mastektomie als schwerwiegender invasiver Heileingriff nur als ultima
ratio in Betracht kommt. Es dürfen keine Alternativen zur vorbeugenden Brustamputation bestehen, die bei geringerer Schädigung
mit vergleichbarer Wahrscheinlichkeit das gleiche Ziele erreichen. Im Hinblick auf das Risiko, an Brustkrebs zu erkranken,
besteht als Alternative lediglich das von intensiven Kontrolluntersuchungen begleitete Zuwarten und therapeutische Eingreifen
erst mit Ausbruch der eigentlichen Erkrankung.
Die Voraussetzungen der Alternativlosigkeit sind grundsätzlich unter Beachtung des allgemein anerkannten Standes der medizinischen
Erkenntnisse zu prüfen. Hierbei sind insbesondere entsprechende Äußerungen medizinischer Fachgesellschaften sowie einschlägige
Leitlinien zu beachten. Letztere geben den Stand der wissenschaftlich-medizinischen Diskussion wieder. Insbesondere S3-Leitlinien,
die auf wissenschaftlichen Erkenntnissen und in der Praxis bewährten Verfahren beruhen und auf der Grundlage einer systematischen
Evidenzrecherche erstellt wurden, stellen eine systematisch entwickelte Hilfe für Ärzte bei der Entscheidungsfindung in speziellen
Situationen dar. Sie geben deshalb auch Verwaltung und Gerichten wichtige Entscheidungshilfen, auch wenn sie rechtlich nicht
bindend sind (vgl. Hessisches LSG, Urteil vom 05.07.2016, L 1 KR 116/15; Bayer. LSG, Urteil vom 04.12.2018, L 20 KR 191/16).
Soweit ersichtlich, besteht in der medizinischen Fachwelt ein breiter Konsens dahingehend, dass mit einem erhöhten Brustkrebsrisiko
familiär belasteten Frauen bei zusätzlich nachgewiesener pathogener Mutation eines der bekannten Risikogene (insbesondere
BRCA1 oder BRCA2) eine prophylaktische Mastektomie als Therapieoption angeboten werden soll. Laut Konsensusempfehlung 2020
des Deutschen Konsortiums Familiärer Brust- und Eierstockkrebs (abgerufen am 21.05.2020 unter https://www.konsortium-familiaerer-brustkrebs.de/konsensusempfehlung/)
wird der klinischen Praxis empfohlen, bei Vorliegen bestimmter pathogener Mutationen von Risikogenen eine prophylaktische
Mastektomie der Patientin als Option anzubieten (bei pathogener Mutationen der Gene BRCA1 bzw. BRCA2) oder eine prophylaktische
Mastektomie im Rahmen einer Einzelfallentscheidung in Erwägung zu ziehen (z.B. bei pathogener Veränderung des PALB2-Gens).
Die S3-Leitlinie für die Früherkennung, Diagnostik, Therapie und Nachsorge des Mammakarzinoms führt insofern aus (Seite 60):
Evidenzbasiertes Statement:
Risiko-reduzierende Operation bei gesunden BRCA1/2-Mutationsträgerinnen (IARC class 4/5): prophylaktische Mastektomie:
- Gesunde Frauen mit einer BRCA1 oder BRCA2-Mutation haben ein lebenszeitlich erhöhtes Risiko für die Entwicklung eines Mammakarzinoms.
- Bei gesunden Frauen mit einer pathogenen BRCA1- oder BRCA2-Genmutation führt die beidseitige prophylaktische Mastektomie
zu einer Reduktion der Brustkrebsinzidenz. Eine Reduktion der Brustkrebs-spezifischen Mortalität bzw. der Gesamtmortalität
durch die beidseitige prophylaktische Mastektomie ist nicht ausreichend gesichert.
- Daher setzt eine Einzelfallentscheidung für oder gegen eine bilaterale prophylaktische Mastektomie stets fallbezogen eine
umfassende Aufklärung und ausführliche multidisziplinäre Beratung über potentielle Vor- und Nachteile eines solchen Eingriffs
mit Berücksichtigung der möglichen Alternativen voraus.
[ ...] Starker Konsens [Anm.: d.h. ) 95 % der Stimmberechtigten]
Dementsprechend befürwortet Hauck (a.a.O., Seite 2695 ff.) zumindest explizit auch nur die Kostenübernahme für eine prophylaktische
Mastektomie durch die GKV bei familiärer Belastung und nachgewiesener BRCA1- oder BRCA2-Genmutation (im Ergebnis wohl ebenso
SG Karlsruhe, Urteil vom 22.06.2017, S 14 KR 3991/16).
In Bezug auf Frauen mit einer familiären Belastung, aber ohne nachgewiesene pathogene Genmutationen stellt die S3-Leitlinie
für die Früherkennung, Diagnostik, Therapie und Nachsorge des Mammakarzinoms Folgendes fest (Seite 61):
Für gesunde Frauen oder bereits an einem Mammakarzinom erkrankte Frauen aus BRCA1/2 negativ getesteten Risikofamilien ist
der Nutzen prophylaktischer Operationen nicht belegt [ ...]. Die Indikationen sollten daher sehr streng gestellt werden. Dies
gilt ebenfalls für Frauen mit Nachweis einer Mutation in einem Nicht-BRCA1/2-Risikogen. Und weiter auf Seite 63:
Evidenzbasiertes Statement:
Risiko-reduzierende Operation bei Risikopersonen ohne nachgewiesene pathogene (IARC class 4/5) BRCA1/2-Mutation:
Bei Frauen ohne nachgewiesene BRCA1- oder BRCA2-Genmutation ist der Nutzen einer prophylaktischen oder sekundär prophylaktischen
kontralateralen Mastektomie nicht nachgewiesen.
[ ...] Starker Konsens
Im Hinblick auf bzgl. einer BRCA1- oder BRCA2-Genmutation negativ getestete Frauen sieht die Leitlinie damit keinen nachgewiesenen
Nutzen einer prophylaktischen Mastektomie. Die Indikation dafür sollte deshalb "sehr streng gestellt werden". Für die Klägerin
besteht nach den Ausführungen der Leitlinie - bei nicht nachgewiesener pathogener Veränderung eines Risikogens - grundsätzlich
keine medizinische Indikation für eine prophylaktische Mastektomie. Dementsprechend hat auch das Universitätsklinikum W-Stadt
bei der Klägerin aufgrund der im Ergebnis negativen molekulargenetischen Testung vom September 2019 - trotz der Veränderung
im Exon 11 des BRCA1-Gens - keine Indikation zur prophylaktischen Mastektomie gesehen, sondern der Klägerin weiterhin die
Teilnahme an der intensivierten Früherkennung empfohlen. Wenn, wie die Klägerin im Erörterungstermin am 06.02.2020 ausgeführt
hat, ein Oberarzt der Frauenklinik demgegenüber eine andere Empfehlung ausgesprochen haben sollte, so ist zum einen nicht
nachvollziehbar, warum er dies nicht schriftlich tun wollte, zum anderen würde eine solche Empfehlung auch deshalb nicht zu
einer anderen Beurteilung führen, weil sie im Widerspruch stünde zu den Ausführungen der S3-Leitlinie im Allgemeinen und konkret
zu der Empfehlung zum weiteren Vorgehen durch das Zentrum für familiären Brust- und Eierstockkrebs W-Stadt vom 09.10.2019,
die außerdem - anders als der Rat des Oberarztes aus dem Jahr 2014 oder 2015 - zusätzlich auf den Ergebnissen der aktuellen
humangenetischen Testung der Klägerin vom September 2019 beruht.
An dieser Einschätzung ändert sich auch dadurch nichts, dass in der ersten humangenetischen Beurteilung vom 06.05.2010 das
Risiko der Klägerin für eine Mutation z.B. in BRCA1 oder BRCA2 - ohne molekulargenetische Diagnostik - mit etwa 37 % angegeben
wurde und dass zwischenzeitlich auch eine Tante mütterlicherseits an Brustkrebs erkrankt und verstorben ist. Denn zum einen
konnte bei der Klägerin trotz molekulargenetischer Testungen eine pathogene Veränderung an einem der bislang identifizierten
Brustkrebsrisikogene, insbesondere an den Hochrisikogenen BRCA1 und BRCA2, nicht nachgewiesen werden, was die ursprüngliche
Prognose der Klägerin verbessert. Zum anderen wurde bei der an Brustkrebs erkrankten Tante eine Veränderung des Risikogens
PALB2 nachgewiesen, bei der Klägerin aber gerade nicht. Es bleibt damit weiter offen, ob die Häufung von Krebserkrankungen
in der Familie der Klägerin überhaupt auf einer (gemeinsamen) genetischen Prädisposition der einzelnen betroffenen Frauen
basiert.
Angesichts der dargestellten medizinisch-wissenschaftlichen Empfehlungen im Hinblick auf mit Brustkrebsrisiko familiär belastete
Frauen ohne nachgewiesene relevante Genmutation kann vorliegend die Gesamtabwägung im Lichte der ultima ratio-Rechtsprechung
des BSG zur Überzeugung des Senats nicht dazu führen, trotz dieser Äußerungen einen Anspruch der Klägerin auf Krankenbehandlung mittels
der begehrten vorbeugenden Brustamputation zu bejahen, zumal auch in der humangenetischen Beurteilung des Zentrums für familiären
Brust- und Eierstockkrebs, Universität W-Stadt, vom 09.10.2019 keine Indikation für eine prophylaktische Mastektomie bei der
Klägerin gestellt wurde. Mangels Nachweises einer pathogenen Genmutation trotz molekulargenetischer Testung stellt (allein)
die familiäre Häufung von Mammakarzinomen in der Familie der Klägerin und das damit verbundene (abstrakte) Erkrankungsrisiko
nach derzeitigem Stand der medizinischen Erkenntnisse keine Indikation für eine prophylaktische Mastektomie und damit auch
keine behandlungsbedürftige Krankheit im Sinne von §
27 Abs.
1 Satz 1
SGB V dar.
5. Auch keine sonstige Anspruchsgrundlage für eine prophylaktische Mastektomie der Klägerin
Die Klägerin hat auch keinen Anspruch auf die begehrte prophylaktische Mastektomie als medizinische Vorsorgeleistungen gemäß
§
23 Abs.
1 Nr.
3 SGB V. Danach haben Versicherte Anspruch auf ärztliche Behandlung und Versorgung mit Arznei-, Verband-, Heil- und Hilfsmitteln,
wenn diese notwendig sind, um Krankheiten zu verhüten oder deren Verschlimmerung zu vermeiden.
Der Übergang zwischen medizinischen Vorsorgeleistungen gemäß §
23 SGB V und einer Krankenbehandlung nach §
27 SGB V ist fließend (vgl. Gerlach in: Hauck/Noftz,
SGB V, Stand 04/2018, §
23 Rn. 13). Eine (vorbeugende) Brustamputation kann lege artis nur als stationäre Krankenhausbehandlung durchgeführt werden,
wie sie Teil des Anspruchs auf Krankenbehandlung nach §
27 Abs.
1 Satz 2 Nr.
5 SGB V ist. Dagegen umfasst der Anspruch auf stationäre medizinische Vorsorgeleistungen lediglich Behandlung mit Unterkunft und
Verpflegung in einer zugelassenen Vorsorgeeinrichtung, vgl. §
23 Abs.
4 SGB V, wo eine Mastektomie nicht vorgenommen werden kann.
Auch ein grundrechtsorientierter Leistungsanspruch unter den Voraussetzungen des §
2 Abs.
1a SGB V kommt für die Klägerin nicht in Betracht. Die Klägerin ist keine "Versicherte mit einer lebendbedrohlichen oder regelmäßig
tödlichen Erkrankung oder mit einer zumindest wertungsmäßig vergleichbaren Erkrankung" im Sinne von §
2 Abs.
1a Satz 1
SGB V. Denn nach den obigen Ausführungen stellt das (abstrakte) Erkrankungsrisiko der Klägerin keine Erkrankung im Rechtssinne
dar.
Nach der aktuellen Rechtsprechung des 1. Senats des BSG (Urteil vom 26.05.2020, B 1 KR 9/18 R, noch nicht veröffentlicht, vgl. Terminbericht Nr. 19/20) begründet eine nach §
13 Abs.
3a SGB V fingierte Genehmigung keinen Sachleistungsanspruch - hier auf die streitgegenständliche prophylaktische Mastektomie -, so
dass sich insofern eine weitere Prüfung erübrigt.
Der Berufung der Klägerin ist damit zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG.
Gründe, die Revision gemäß §
160 SGG zuzulassen, liegen nicht vor.