Befreiung eines Syndikusanwalts von der Rentenversicherungspflicht
Wirkung der Zulassung zur Rechtsanwaltschaft
Neuordnung des Rechts der Syndikusanwälte
Tatbestand:
Streitig ist die Befreiung von der Rentenversicherungspflicht ab 6. April 2011.
Der 1978 geborene Kläger ist österreichischer Staatsangehöriger und legte am 18. Februar 2008 mit Erfolg die zweite juristische
Staatsprüfung ab. Er ist seit 16. Januar 2009 Mitglied in der Rechtsanwaltskammer (RAK) Brandenburg sowie im Versorgungswerk
der Rechtsanwälte in Brandenburg (Beigeladene zu 2.). Darüber hinaus ist er "aufgrund Kanzleiverlegung" seit Juli 2011 in
die RAK B aufgenommen und mit Wirkung ab 11. August 2011 von der Mitgliedschaft im Versorgungswerk dieser RAK befreit. Mit
Arbeitsvertrag vom 5. August 2008 schloss der Kläger mit der R GmbH - Betriebsnachfolgerin ist die Beigeladene zu 1. - ein
Arbeitsverhältnis als "Programmredakteur". In der Folgezeit wurde der Kläger dann mit "Erste Ergänzung zum Arbeitsvertrag
vom 5. August 2008" vom 6. April 2011 als "Rechtsanwalt eingestellt".
Mit am 13. Oktober 2010 bei der Beigeladenen zu 2. und am 29. Oktober 2010 bei der Beklagten eingegangenem Antrag vom 6. Oktober
2010 beantragte die Kläger die Befreiung von der Rentenversicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung nach §
6 Abs.
1 Satz 1 Nr.
1 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (
SGB VI) und legte u.a. eine Stellenbeschreibung seiner Arbeitgeberin vom 7. Oktober 2010 vor. Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom
8. Juni 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. September 2011 den Antrag auf Befreiung von der Rentenversicherungspflicht
nach §
6 Abs.
1 Satz 1 Nr.
1 SGB VI für die Tätigkeit des Klägers bei der R GmbH ab mit der Begründung, dass es sich bei der ausgeübten abhängigen Beschäftigung
nicht um eine berufsständische (anwaltliche) Tätigkeit handele.
Hiergegen hat der Kläger am 6. Oktober 2011 bei dem Sozialgericht (SG) Berlin Klage erhoben, gerichtet auf die Erteilung einer Befreiung gemäß §
6 Abs.
1 Satz 1 Nr.
1 SGB VI ab 6. April 2011. Zur Begründung hat er ausgeführt, dass sich seine Aufgaben mit dem Änderungsvertrag vom 6. April 2011 geändert
hätten. Die Beklagte gehe fälschlicher Weise davon aus, dass sich mit dem Änderungsvertrag lediglich die Berufsbezeichnung
geändert habe. Er ersetze im Rahmen seiner Tätigkeit eine Vielzahl von externem Rechtsrat. Seine selbstständige Tätigkeit
als Rechtsanwalt umfasse nur eigene Mandate und nehme ein bis vier Stunden im Monat in Anspruch.
Der Kläger hat eine Klarstellung seiner Arbeitgeberin zur Tätigkeitsbeschreibung vom 7. August 2012 vorgelegt.
Das SG Berlin hat nach Beiladung (Beschluss vom 18. Juli 2013) und Anhörung der Beteiligten mit Gerichtsbescheid vom 27. Januar
2015 die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt: Die zulässige Klage sei nicht begründet. Der Kläger habe gegen die
Beklagte keinen Anspruch auf Erteilung der begehrten Befreiung von der Versicherungspflicht. Die Voraussetzungen nach §
6 Abs.
1 Satz 1 Nr.
1 SGB VI seien nicht gegeben. Zwar sei der Kläger als Rechtsanwalt zugelassen und als solcher Mitglied der Beigeladenen zu 2. Jedoch
bestehe die Mitgliedschaft des Klägers in den RAK Berlin und Brandenburg nicht wegen der bei der Beigeladenen zu 1. ausgeübten
Beschäftigung. Er sei bei der Beigeladenen zu 1. als sogenannter "Syndikusanwalt" beschäftigt. Unter einen "Syndikus" sei
derjenige zu verstehen, der als ständiger Rechtsberater in einem festen Dienst- oder Anstellungsverhältnis bei einem bestimmten
Arbeitgeber stehe. Der "Syndikusanwalt" sei gleichzeitig als Rechtsanwalt zugelassen (Bezugnahme auf BGH, Urteil vom 25. Februar
1999, IX ZR 384/97 und Beschluss vom 7. Februar 2011, NJW 2011, 1517). Der Kläger sei im Rahmen seines Anstellungsverhältnisses unter anderem rechtsberatend für die Beigeladene zu 1. tätig.
Ungeachtet dessen sei er in die Arbeitsorganisation der Beigeladenen zu 1. eingebunden stehe zu dieser in einem Über-/Unterordnungsverhältnis.
Hieran ändere nicht, dass er nach seinem Arbeitsvertrag "als Rechtsanwalt" eingestellt sei. Es handele sich um eine bloße
Bezeichnung. Er sei gerade nicht als Rechtsanwalt angestellt, da ein Angestelltenverhältnis mit dem Berufsbild des Rechtsanwalts
als freiem Organ der Rechtspflege von vornherein unvereinbar sei (Bezugnahme auf BSG, Urteil vom 3. April 2014, B 5 RE 3/14 R, Rn. 39). Auch die Mitgliedschaft in der RAK und in der Versorgungseinrichtung des
Beigeladenen zu 2. begründe sich in der freiberuflichen Anwaltstätigkeit des Klägers. Im Gegensatz dazu bedürfe der Kläger
- so wünschenswert dieser Umstand für die Beigeladene zu 1. auch sein möge - für seine Tätigkeit bei der Beigeladenen zu 1.
gerade nicht zwingend der Zulassung als Rechtsanwalt. Auch habe der Kläger seine Zulassung als Rechtsanwalt zeitlich unabhängig
von der Begründung des Beschäftigungsverhältnisses bei der Beigeladenen zu 1. beantragt gehabt. Unter Vertrauensschutzgesichtspunkten
habe der Kläger ebenfalls keinen Befreiungsanspruch gegen die Beklagte.
Gegen den ihm am 7. Februar 2015 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 9. März 2015 (Montag) bei dem Landessozialgericht
(LSG) Berlin-Brandenburg Berufung eingelegt. Zur Begründung führt er aus, dass die Entscheidung des BSG im Verfahren B 5 RE 3/14 R nicht anwendbar sei. Die dortige Klägerin sei nicht als Rechtsanwältin angestellt gewesen. Das
Urteil des BSG vom 3. April 2015 verstoße gegen das
Grundgesetz. Es seien mehrere Verfassungsbeschwerden anhängig. Ihm stehe im Hinblick auf die fast 30-jährige Verwaltungspraxis Vertrauensschutz
zu. Er erfülle die vier Bedingungen. Das SG habe seine Tätigkeit als "Syndikusanwalt" bezeichnet. Aus dem Eckpunktepapier ergebe sich, dass das Bundesjustizministerium
(BMJV) mit Hochdruck an einer klarstellenden Gesetzesänderung arbeite. Seine beruflichen Umstände hätten sich nicht geändert.
Die Tätigkeit als selbständiger Rechtsanwalt betrage weiterhin ca. 4 Stunden pro Monat.
Der Kläger beantragt, den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 27. Januar 2015 und den Bescheid der Beklagten vom
8. Juni 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. September 2011 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten,
ihn gemäß §
6 Abs.
1 Satz 1 Nr.
1 SGB VI mit Wirkung ab 6. April 2011 von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung zu befreien.
Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.
Sie führt aus, dass das BSG in seinen drei Entscheidungen vom 3. April 2014 (B 5 RE 13/14 R, B 5 RE 9/14 R und B 5 RE 3/14 R) klargestellt habe, dass
abhängig beschäftigte Rechtsanwälte bei nichtanwaltlichen Arbeitsgebern (sogenannte Syndikusanwälte) nicht von der Versicherungspflicht
in der gesetzlichen Rentenversicherung nach §
6 Abs.
1 Satz 1 Nr.
1 SGB VI befreit werden könnten. Auf die von der Rechtspraxis entwickelte "Vier-Kriterien-Theorie" komme es daher nicht mehr an. Seit
3. April 2014 könnten keine Befreiungen mehr ausgesprochen werden. Nur Inhaber einer Befreiung hätten Vertrauensschutz. Der
5. Senat des BSG habe sich in den Entscheidungen vom 3. April 2014 den Urteilen des 12. Senats vom 31. Oktober 2012 (B 12 R 3/11 R, B 12 R 5/10 R, B 12 R 8/10 R) angeschlossen.
Die Beigeladene zu 1. hat keinen Berufungsantrag gestellt. Der Beigeladene zu 2. schließt sich dem Antrag des Klägers an.
Der Kläger hat das Eckpunktepapier vorgelegt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze
nebst Anlagen, den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte sowie den Inhalt der Verwaltungsakten der Beklagten verwiesen, die dem
Senat vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung und der Entscheidung gewesen sind.
Entscheidungsgründe:
Die form- und fristgerecht erhobene Berufung des Klägers ist zulässig, aber nicht begründet. Er hat gegen die Beklagte kein
Recht auf Befreiung von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung mit Wirkung ab 6. April 2011 auch
nicht aufgrund seiner Beschäftigung bei der Beigeladenen zu 1. Der angefochtene Gerichtsbescheid des SG Berlin vom 27. Januar
2015 und der Bescheid der Beklagten vom 8. Juni 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. September 2011 sind
rechtmäßig.
Materiell-rechtlich einschlägig ist §
6 Abs.
1 S 1 Nr.
1 SGB VI in der ab 1. Januar 2005 geltende Fassung des Gesetzes vom 9. Dezember 2004 (BGBl I 3242). Danach werden von der Versicherungspflicht
befreit Beschäftigte und selbständig Tätige für die Beschäftigung oder selbständige Tätigkeit, wegen der sie aufgrund einer
durch Gesetz angeordneten oder auf Gesetz beruhenden Verpflichtung Mitglied einer öffentlich-rechtlichen Versicherungseinrichtung
oder Versorgungseinrichtung ihrer Berufsgruppe (berufsständische Versorgungseinrichtung) und zugleich kraft gesetzlicher Verpflichtung
Mitglied einer berufsständischen Kammer sind, wenn a) am jeweiligen Ort der Beschäftigung oder selbständigen Tätigkeit für
ihre Berufsgruppe bereits vor dem 1.1.1995 eine gesetzliche Verpflichtung zur Mitgliedschaft in der berufsständischen Kammer
bestanden hat, b) für sie nach näherer Maßgabe der Satzung einkommensbezogene Beiträge unter Berücksichtigung der Beitragsbemessungsgrenze
zur berufsständischen Versorgungseinrichtung zu zahlen sind und c) aufgrund dieser Beiträge Leistungen für den Fall verminderter
Erwerbsfähigkeit und des Alters sowie für Hinterbliebene erbracht und angepasst werden, wobei auch die finanzielle Lage der
berufsständischen Versorgungseinrichtung zu berücksichtigen ist.
Hiervon ausgehend sind die Voraussetzungen für eine Befreiung nach §
6 Abs.
1 S 1 Nr.
1 SGB VI mit Wirkung ab 6. April 2011 nicht erfüllt. Der Kläger ist seit 5. August 2008 bei der Beigeladenen zu 1. bzw. der Betriebsvorgängerin
als "Programmredakteur" bzw. als "Rechtsanwalt" abhängig beschäftigt (§ 7 Viertes Buch Sozialgesetzbuch) und unterliegt damit
der Rentenversicherungspflicht. §
6 Abs.
1 S 1 Nr.
1 SGB VI gibt indessen versicherungspflichtig Beschäftigten, die gleichzeitig verkammerte Mitglieder einer berufsständischen Versorgungseinrichtung
sind, einen Anspruch auf Befreiung von der Versicherungspflicht nur für die "Beschäftigung, wegen der" sie auf Grund einer
durch Gesetz angeordneten oder auf Gesetz beruhenden Verpflichtung Mitglied einer öffentlich-rechtlichen Versicherungseinrichtung
oder Versorgungseinrichtung ihrer Berufsgruppe (berufsständische Versorgungseinrichtung) und zugleich kraft gesetzlicher Verpflichtung
Mitglied einer berufsständischen Kammer sind. Die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft erfolgt allerdings weder im Blick auf eine
"Beschäftigung" noch auf einen bestimmten Kreis anwaltlicher Betätigungen (BSG, Urteil vom 3. April 2014, B 5 RE 3/14 R, juris, Rn. 23). Die Zulassung zur RAK Brandenburg mit Wirkung ab 16. Januar 2009
(ab Juli 2011 auch Aufnahme in die RAK Berlin) erfolgte nicht mit Blick auf die Beschäftigung bei der Beigeladenen zu 1. Ob
der Kläger bei der Beigeladenen zu 1. jedenfalls mit Wirkung ab 6. April 2011 als Syndikusanwalt beschäftigt ist, bedarf keiner
Beurteilung, denn unabhängig von der in der "Erste Ergänzung zum Arbeitsvertrag vom 5. August 2008" gewählten Bezeichnung
der Beschäftigung ("als Rechtsanwalt") kann die Erwerbstätigkeit des Klägers bei der Beigeladenen zu 1. bereits von vornherein
nicht dem Berufsfeld des Rechtsanwalts zugeordnet werden. Die anwaltliche Berufsausübung ist in der äußeren Form der Beschäftigung
nicht möglich. Der Senat folgt insoweit der überzeugenden Rechtsauffassung des BSG im Urteil vom 3. April 2014, aaO., Rn. 26 ff). Auf die in der Rechtspraxis entwickelte "Vier-Kriterien-Theorie" kommt es
nicht (mehr) an.
Auch unter Gesichtspunkten des Vertrauensschutzes ist der Kläger nicht von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung
zu befreien (zum Vertrauensschutz siehe BSG, Urteil vom 3. April 2014, aaO., Rn. 53). Denn ihm wurde gerade keine Befreiung nach §
6 Abs.
1 Satz 1 Nr.
1 SGB VI erteilt. Diese ist vielmehr seit 2011 streitig.
Das Verfahren ist auch nicht mit Blick auf anhängige Verfassungsbeschwerden (1 BvR 2534/14, 1 BvR 2584/14) gegen zwei der drei Urteil des BSG vom 3. April 2014 (B 5 RE 13/14 R, B 5 RE 9/14 R) oder auf eine vom Gesetzgeber beabsichtigte Rechtsänderung auszusetzen
(das Ruhen des Verfahrens nach §
202 SGG iVm §
251 Zivilprozessordnung hat der Senat nicht mehr für sachdienlich erachtet). Die Rechtsprechung des BSG trägt vielmehr dem Grundgedanken Rechnung, dass der Kläger als abhängig Beschäftigter zum Kernbereich der nach §
7 SGB IV typisiert Schutzbedürftigen zählt (vgl. BSG, Urteil vom 3. April 2014, aaO., Rn. 44) und (insofern als vermutlich gutes Risiko) durch Beitragszahlungen das System der
gesetzliche Rentenversicherung stützt. Dieses Ergebnis verstößt nicht gegen Verfassungsrecht (vgl. BSG, Urteil vom 3. April 2014, aaO., Rn. 50). Gegenwärtig ist nicht abzusehen, ob und ggf. mit welchen Änderungen der von der
Bundesregierung am 10. Juni 2015 beschlossene Entwurf eines Gesetzes zur Neuordnung des Rechts der Syndikusanwälte (abzurufen
zB unter www.bmjv.de) in Kraft treten wird. Auch dürfte ggf. noch zu klären sein, ob der Kläger überhaupt die Voraussetzungen
der tätigkeitsbezogenen Zulassung als Syndikusrechtsanwalt nach §§ 46, 46a Bundesrechtsanwaltsordnung in der Fassung des Gesetzesentwurfs erfüllt.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision nach §
160 Abs.
2 SGG liegen nicht vor.