Vorläufige Gewährung von Hilfe zur Pflege bei Vorliegen eines Pflegegrades von 1
Der Pflege zuzurechnende Leistungen
Ungeklärte Anspruchsgrundlagen
Gründe:
Die Antragstellerin wendet sich mit ihrer Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 10. Mai 2019, mit dem
dieses es abgelehnt hat, den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihr Hilfe zur Pflege über
den bewilligten Entlastungsbetrag in Höhe von 125,00 Euro monatlich hinaus zu bewilligen.
Die zulässige Beschwerde ist zum Teil begründet. Dabei ist der Antrag der Antragstellerin, die Hilfe zur Pflege beantragt
hat, im Wege der Meistbegünstigung dahingehend auszulegen, dass ggfs. auch Hilfe zur Weiterführung des Haushalts sowie Hilfe
in sonstigen Lebenslagen von dem Antrag umfasst sind.
Nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustandes
in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis statthaft, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig
erscheint. Voraussetzung hierfür ist regelmäßig, dass sowohl ein Anordnungsanspruch, d.h. ein materieller Leistungsanspruch,
als auch ein Anordnungsgrund, d.h. eine Eilbedürftigkeit, gemäß § 86 b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung
(ZPO) glaubhaft gemacht ist.
Die Antragstellerin hat Anspruch auf - vorläufige - Bewilligung der in der Beschlussformel genannten - höheren - Leistungen
für die Zeit vom 17. Juni 2019 bis zum 30. November 2019.
Nach dem in der ersten Instanz eingeholten Gutachten der Ärztin für Allgemeinmedizin Dr. B, das schlüssig und nachvollziehbar
ist und dem der Senat folgt, liegt bei der Antragstellerin (nur) der Pflegegrad 1 vor, so dass ein Anspruch auf Leistungen
der Hilfe zur Pflege nach den §§ 61 ff. Sozialgesetzbuch/Zwölftes Buch (SGB XII) in der ab dem 1. Januar 2017 geltenden Fassung
nur in Form des Entlastungsbetragws gegeben ist. Frau Dr. B hat jedoch festgestellt, dass für einige hauswirtschaftliche Verrichtungen
Hilfe notwendig ist, und zwar für die gründliche Wohnungsreinigung, für die Wäschepflege und für das Einkaufen. Weiter reicht
der Entlastungsbetrag auch nicht für das Begleichen der für die notwendige große Körperpflege erforderlichen Kosten.
Ob bei Vorliegen lediglich eines Pflegegrades von 1 weitere Leistungen bewilligt werden können, die an sich der Pflege zuzurechnen
sind, und falls ja, auf welcher Rechtsgrundlage, ist fraglich und umstritten. Nach dem bis zum 31. Dezember 2016 geltenden
Recht existierte mit § 61 Abs. 1 Satz 2 SGB XII eine Öffnungsklausel, auf deren Grundlage Leistungen der Pflege auch gewährt
werden konnten, wenn noch keine erhebliche oder höhere Pflegebedürftigkeit vorlag. Diese Möglichkeit ist nach neuem Recht
nicht mehr gegeben, gemäß § 63 Abs. 1 SGB XII umfasst die Hilfe zur Pflege nur für Pflegebedürftige der Pflegegrade 2,3,4
und 5 häusliche Pflege, u.a in Form von Pflegegeld und häuslicher Pflegehilfe. Für Pflegebedürftige des Pflegegrades 1 ist
in § 66 Satz 1 SGB XII nur ein Entlastungsbetrag von bis zu 125 Euro monatlich vorgesehen. Nach Auffassung des Senats läge
jedoch ein Verstoß gegen Art. 1 Abs. 1 und Art. 20 Abs. 1 Grundgesetz (GG) vor, wenn man Pflegebedürftige des Pflegegrades
1 ohne die erforderliche Hilfe lassen würde (ähnlich Meßling in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, Stand 1. April 2019, §
61 Rn. 63). Diskutiert wird eine Leistungsgewährung gemäß § 27a Abs. 4 SGB XII (abweichende Regelsatzfestlegung), § 70 SGB
XII (Hilfe zur Weiterführung des Haushalts) und/oder § 73 SGB XII (Hilfe in sonstigen Lebenslagen) (ausführlich Meßling, aaO.,
§ 61 Rn. 55ff; siehe auch Klie in Hauck/Noftz, Kommentar zum SGB XII, Stand Januar 2018, § 63 Rn. 6). Krahmer/Höfer in LPK-SGB
XII, 11. Auflage 2018, § 63 Rn. 9, gehen davon aus, dass der Wortlaut des Gesetzes und der Wille des Gesetzgebers eindeutig
seien, so dass das Fehlen einer Öffnungsklausel kaum über ein entsprechende Auslegung der Vorschrift des § 63 SGB XII oder
über eine sehr weite Auslegung anderweitiger Vorschriften der Sozialhilfe kompensiert werden könnten, sodass es vermutlich
zu einer Überprüfung der sozialhilferechtlichen Pflegeversorgung im Pflegegrad 1 durch das Bundesverfassungsgericht (BVerfG)
werde kommen müssen.
Der Senat neigt der Auffassung zu, dass Leistungen z.B. über die §§ 27a Abs. 4, 70 und 73 SGB XII zu leisten sind. Er sieht
sich aber nicht in der Lage, im einstweiligen Anordnungsverfahren abschließend über diese Problematik zu entscheiden. Es sind
der Antragstellerin daher im Wege der Folgenabwägung Leistungen zu bewilligen. Darin liegt auch kein Verstoß gegen das Normverwerfungsmonopol
des BVerfG gemäß Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG (vgl. zur Problematik BVerfG, Kammerbeschluss vom 7. November 2005, Az. 1 BvR 1178/05,
juris Rn. 13 = BVerfGK 6, 323), da der Senat keine Rechtsgrundlage "kreiert", sondern eine Rechtsgewährung auf der Grundlage
des geltenden einfachen Rechts in Betracht kommt. Das BVerfG hat in seiner Entscheidung vom 12. Mai 2005 (Az. 1 BvR 569/05,
dokumentiert in juris, weitere Fundstelle NVwZ 2005, 927 bis 929) ausgeführt, dass Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG) besondere
Anforderungen an die Ausgestaltung des Eilverfahrens stellt, wenn ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und
unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen entstehen könnten, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu
beseitigen wären (BVerfG, a.a.O., juris Rn. 24). Das BVerfG führt weiter aus: "Ist dem Gericht eine vollständige Aufklärung
der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, so ist anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden. Auch in diesem
Fall sind die grundrechtlichen Belange des Antragstellers umfassend in die Abwägung einzustellen. Die Gerichte müssen sich
schützend und fördernd vor die Grundrechte des Einzelnen stellen. Dies gilt ganz besonders, wenn es um die Wahrung der Würde
des Menschen geht. Eine Verletzung dieser grundgesetzlichen Gewährleistung, auch wenn sie nur möglich erscheint oder nur zeitweilig
andauert, haben die Gerichte zu verhindern" (vgl. BVerfG, a.a.O., juris Rn. 26). Die in Rede stehende Frage, ob und inwieweit
pflegerelevante Leistungen bei Pflegegrad 1 über den Entlastungsbetrag hinaus gewährt werden können, ist im einstweiligen
Rechtsschutzverfahren nicht endgültig zu klären, so dass eine Folgenabwägung vorzunehmen ist. Diese geht im vorliegenden Fall
zu Gunsten der Antragstellerin aus. Da sie nicht in der Lage ist, ihren Lebensunterhalt und insbesondere die notwendigen hauswirtschaftlichen
Verrichtungen sowie die Pflege anderweitig zu sichern, sind die Nachteile, die ihr entstünden, wenn dem Antrag auf Erlass
einer einstweiligen Anordnung nicht nachgekommen würde und sie für einen längeren Zeitraum ohne ausreichende Pflege und ohne
Reinigung der Wohnung leben müsste, sehr viel gravierender als die Nachteile der öffentlichen Hand, die rein fiskalischer
Natur sind und die entstehen würden, wenn der Antragstellerin Leistungen zu bewilligen wären, auf die sie nach endgültiger
Prüfung keinen Anspruch hätte. Der Einlassung des Antragsgegners, dass ein Anspruch auf höhere Leistungen als den Entlastungsbetrag
nicht bestehe, weil der Pflegebedarf durch Unterstützungstätigkeit von Angehörigen ausgeglichen werde, folgt der Senat nicht.
Dem Protokoll der mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht Berlin vom 18. Oktober 2018 in dem Verfahren S 88 SO 801/15
(die dortige Verfahrensakte hatte der Senat kurzfristig beigezogen) entnimmt der Senat, dass sich die Angehörigen der Antragstellerin,
insbesondere ihre Tochter und ihre Enkelin, durchaus um sie kümmern, dass sie jedoch weder die Pflege noch die notwendigen
hauswirtschaftlichen Verrichtungen durchführen. Es ist auch glaubhaft, dass sie dazu neben anderen Verpflichtungen, nämlich
Erwerbstätigkeit, Hilfe für den Ehemann, eigenem Haushalt, Kindererziehung und Studium, nicht in der Lage sind. Die beiden
übernehmen Aufgaben, die neben den sich aus der Beschlussformel ergebenden notwendig sind. So geht die Tochter der Antragstellerin
jeden Tag mit ihr spazieren und sieht zwei- bis dreimal am Tag nach ihr. Sie ist zwar bei dem Pflegedienst beschäftigt, der
die Antragstellerin betreut, aber sie arbeitet nicht in der Pflege, sondern in der Buchhaltung. Die Enkelin begleitet die
Antragstellerin bei Bedarf zu den Ärzten und übernimmt alles Organisatorische rund um Ärzte und Arztbesuche. Der Enkel, der
zu einem Drittel Teilhaber an der Beigeladenen ist, übernimmt die anfallenden organisatorischen Tätigkeiten, wie Korrespondenz
mit der Hausverwaltung, der Krankenkasse oder dem Sozialamt. Es ist glaubhaft, dass die Angehörigen weitere Tätigkeiten, wie
die eigentliche Pflege und die Hauswirtschaft, aus zeitlichen Gründen nicht auch noch übernehmen können.
Der Anspruch entfällt nicht, weil Angehörige die Pflege (gemäß § 64 SGB XII) zu übernehmen hätten. Angehörige können nicht
zur Übernahme der Pflege verpflichtet werden (Krahmer/Sommer in LPK-SGB XII, 11. Auflage, § 64 Rn. 3, Klie in Hauck/Noftz,
Kommentar zum SGB XII, § 64 Rn. 3; Schellhorn in Schellhorn/Hohm/Scheider, Kommentar zum SGB XII, 19. Auflage 2015, zum inhaltlich
gleichen § 63 SGB XII a.F., Rn. 7). Auch aus dem Selbsthilfegrundsatz ergibt sich kein Wegfall des Anspruchs auf Leistungen.
§ 2 Abs. 1 SGB XII stellt nur ausnahmsweise einen eigenständigen Ausschlussgrund für die Bewilligung von Leistungen dar. Grundsätzlich
kommt es auf die spezielle gesetzliche Ausformung des Selbsthilfegrundsatzes an (vgl. Urteil des Bundessozialgerichts - BSG
- vom 22. März 2012, Az. B 8 SO 30/10 R, juris Rn. 25 = SozR 4-3500 § 53 Nr. 3). Eine solche spezielle Ausformung ist hier
nicht ersichtlich.
Ein Anordnungsanspruch ist damit gegeben.
Auch ein Eilbedürfnis liegt vor, weil die Antragstellerin nicht über längere Zeit ohne die erforderliche Pflege und in einer
ungepflegten Wohnung leben kann.
Den Bedarf an Pflege und hauswirtschaftlichen Verrichtungen hat der Senat entsprechend dem Gutachten von Frau Dr. B festgelegt.
Danach benötigt die Antragstellerin zweimal wöchentlich eine große Körperpflege. Da hierfür jeweils 21,68 Euro anfallen und
dies monatlich 187,89 Euro ergibt, verbleibt nach Abzug des bereits gewährten Entlastungsbetrages von 125 Euro monatlich ein
Betrag von 62,89 Euro (21,68 Euro mal 2 mal 13 Wochen geteilt durch 3 Monate = 187,89 minus 125 = 62,89).
Da (nur) ein Pflegegrad 1 festgestellt wurde, besteht kein Anspruch auf Sachleistungen, sondern nur auf Geldleistungen.
Bezüglich der hauswirtschaftlichen Verrichtungen Reinigen der Wohnung, Wäschepflege und Einkaufen hat der Senat einen wöchentlichen
Bedarf von insgesamt fünf Stunden angenommen. Auszugehen ist von einem Stundenlohn von 12 Euro, für den eine Hilfskraft zu
finden sein müsste. Dies ergibt einen monatlichen Betrag von 260 Euro (12 Euro mal 5 Stunden mal 13 Wochen geteilt durch 3
Monate = 260 Euro monatlich). Dabei hat sich der Senat orientiert an den Empfehlungen des Hauptstadtportals berlin.de, zu
finden unter http://www.berlin.de/special/immobilien-und-wohnen/ratgeber/2827672-893025-putzfrau-suchen-finden-bezahlen-tipps-in.html.
Dort wird ein Stundenlohn für eine private Putzfrau zwischen 10 und 15 Euro angegeben. Es muss sich um eine legale Tätigkeit
handeln, d.h. die Hilfskraft ist bei der Minijob-Zentrale anzumelden bzw. die Legalität, sofern es sich z.B. um eine fest
bei einer Firma angestellte Hilfskraft handelt, auf andere Weise nachzuweisen.
Die Einwendungen der Antragstellerin aus ihrem Schreiben vom 3. April 2019 (in der ersten Instanz) gegen das Gutachten von
Frau Dr. Bsind nicht geeignet, zu einer anderen Entscheidung zu kommen. Nach dem Gutachten ist ein höherer als Pflegegrad
1 nicht feststellbar. Es dürfte mit dem Entlastungsbetrag und den sich aus der Beschlussformel ergebenden Leistungen sichergestellt
sein, dass eine Schädigung der Gesundheit der Antragstellerin durch mangelnde Pflege nicht eintreten wird. Zumindest für das
einstweilige Anordnungsverfahren ist dies ausreichend, den Einwendungen der Antragstellerin könnte ggfs. im Hauptsacheverfahren
nachgegangen werden. Insoweit war die Beschwerde zurückzuweisen.
Der Senat hat als Beginn für die Leistungen das Datum des Beschlusses gewählt, weil Leistungen für die Vergangenheit in einstweiligen
Anordnungsverfahren nur zu gewähren sind, wenn glaubhaft gemacht wird, dass sich ein in der Vergangenheit nicht befriedigter
Bedarf aktuell auswirkt. Dies ist vorliegend nicht der Fall, so dass die Beschwerde auch für die Zeit vor dem 17. Juni 2019
zurückzuweisen war.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG analog. Sie berücksichtigt, dass die Beigeladene keine Anträge gestellt und sich
nicht eingelassen hat.
Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde zum Bundessozialgericht anfechtbar (§ 177 SGG).