Tatbestand:
Mit ihrer Berufung wenden sich die Kläger gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Dresden vom 28. Juli 2017, mit dem
dieses festgestellt hat, dass die unter dem früheren Aktenzeichen S 23 AS 3619/15 geführte Klage aufgrund einer Klagerücknamefiktion als zurückgenommen gilt.
Die 1981 geborene Klägerin bezog im streitigen Zeitraum in Bedarfsgemeinschaft lebend mit ihrem Lebensgefährten und ihrem
Sohn, dem 2002 geborenen Kläger zu 2, Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch - Grundsicherung für Arbeitsuchenden - (SGB II).
Mit Bescheid vom 4. Juni 2014 in der Fassung der Änderungsbescheide vom 26. Juni 2014, 22. August 2014 und 24. Oktober 2014
bewilligte der Beklagte den Mitgliedern der Bedarfsgemeinschaft Leistungen für die Zeit vom 1. Juli 2014 bis zum 31. Dezember
2014 in Höhe von monatlich 1.288,00 EUR, wovon auf die Klägerin zu 1 und ihren Lebensgefährten jeweils ein Regelbedarf in
Höhe von 353,00 EUR sowie Kosten für Unterkunft und Heizung in Höhe von 168,34 EUR bzw. 168,33 EUR und auf den Kläger zu 2
ein Regelbedarf in Höhe von 77,00 EUR sowie Kosten für Unterkunft und Heizung in Höhe von 168,33 EUR entfielen. Darüber hinaus
bewilligte die Beklagte dem Kläger zu 2 mit Bescheid vom 4. Juni 2014 Leistungen für Bildung und Teilhabe für die Ausstattung
mit persönlichem Schulbedarf in Höhe von 70,00 EUR.
Mit Schreiben vom 29. Januar 2015 hörte der Beklagte die Klägerin zu 1 in ihrer Eigenschaft als gesetzliche Vertreterin des
Klägers zu 2 zu einer Überzahlung an, da dieser nach den Feststellungen des Beklagten seit dem 8. Januar 2013 nicht mehr im
Haushalt der Klägerin zu 1 gelebt habe.
Mit Rücknahme- und Erstattungsbescheid vom 15. April 2015 hob der Beklagte die Bewilligungen in Bezug auf den Kläger zu 2
von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes und für Bildung und Teilhabe für die Zeit vom 1. Juli 2014 bis zum 31.
Dezember 2014 ganz auf und forderte für Juli bis September 2014 monatlich 231,00 EUR, für Oktober bis Dezember 2014 monatlich
51,00 EUR sowie für Bildung und Teilhabe einen Betrag von 70,00 EUR, insgesamt 846,00 EUR, erstattet.
Den hiergegen von der Klägerin zu 1 eingelegten Widerspruch verwarf der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 29. Juni 2015
als unzulässig, da sich der angefochtene Bescheid nicht gegen die Klägerin zu 1, sondern den Kläger zu 2 richte. Die Klägerin
zu 1 sei von der angefochtenen Entscheidung nicht betroffen.
Hiergegen haben die Kläger am 10. Juli 2015 Klage erhoben.
Mit Schreiben vom 9. September 2015 hat das Sozialgericht die Kläger zur Einreichung der zugrundeliegende Bescheide, der vollständigen
Kontoauszüge der Kläger für den gegenständlichen Zeitraum und einer Prozessvollmacht unter Darlegung der Vertretungsbefugnis
der Klägerin zu 1 (Sorgerecht) für den Kläger zu 2 sowie zur näheren Darlegung der Aufenthaltszeiten des Klägers zu 2 bei
der Klägerin zu 1 im gegenständlichen Zeitraum aufgefordert. Mit Schriftsatz vom 16. Februar 2016 haben die Kläger mitgeteilt,
dass das Kindergeld immer in bar von der Klägerin zu 1 an ihre Mutter, bei der sich der Kläger zu 2 in der Woche aufgehalten
habe, weitergeleitet worden sei, und hierfür deren Zeugeneinvernahme zum Beweis angeboten. Die Klägerin zu 1 sei allein sorgeberechtigtes
Elternteil. Mit richterlichem Schreiben vom 25. Februar 2016 sind die Kläger darauf hingewiesen worden, dass das gerichtliche
Schreiben vom 9. September 2015 nicht beantwortet worden sei; die im Schreiben vom 9. September 2015 benannten Unterlagen
sind erneut angefordert worden. Da keine Stellungnahme der Kläger erfolgt ist, hat das Sozialgericht mit Schreiben vom 5.
April 2016, 6. Mai 2016 und 16. Juni 2016 an die Beantwortung erinnert. Mit Schriftsatz vom 6. Juli 2016 hat die Klägerbevollmächtigte
die Beiziehung von Strafakten zu einem gegen die Klägerin zu 1 beim Amtsgericht A ... unter dem Aktenzeichen. geführten Strafverfahren
angeregt.
Mit dem vom Kammervorsitzenden unterzeichneten Schreiben vom 10. August 2016, der Klägerbevollmächtigten zugestellt am 11.
August 2016, hat das Sozialgericht den Klägern eine Betreibensaufforderung nach §
102 des
Sozialgerichtsgesetzes (
SGG) unter erneuter Anforderung der in den gerichtlichen Schreiben vom 9. September 2015 und 15. Februar 2016 benannten Unterlagen
und Erklärungen übermittelt. Erst nach gerichtlicher Mitteilung über die Erledigung des Rechtsstreits durch Rücknahmefiktion
haben die Kläger am 23. November 2016 einen weiteren Schriftsatz eingereicht.
Mit Schriftsatz vom 15. März 2017 haben die Kläger die Fortführung des Verfahrens beantragt.
Mit Gerichtsbescheid vom 27. Juli 2017 hat das Sozialgericht festgestellt hat, dass die unter dem früheren Aktenzeichen S
23 AS 3619/15 geführte Klage aufgrund der Klagerücknamefiktion des §
102 SGG als zurückgenommen gilt.
Gegen den ihnen am 2. August 2017 zugestellten Gerichtbescheid haben die Kläger am 4. September 2017, einem Montag, Berufung
eingelegt. Sie sind der Auffassung, dass die Betreibensaufforderung zu Unrecht ergangen sei, da sie zu den Aufenthaltszeiten
Zeugenbeweis angeboten und wegen der weiteren geforderten Unterlagen und Auskünfte die Beiziehung Strafakte angeregt hätten.
Die Kläger beantragen,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichtes Dresden vom 28. Juli 2017 aufzuheben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das
Sozialgericht Dresden zurückzuverweisen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Der Beklagte verweist auf die nach seiner Auffassung zutreffende erstinstanzliche Entscheidung.
Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten aus beiden Verfahrenszügen Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
I. Gegenstand des gerichtlichen Verfahrens ist allein die Feststellung des Sozialgerichts, das Klageverfahren Az. S 23 AS 3619/15 sei beendet, da die Klage durch Klagerücknahmefiktion nach §
102 Abs.
2 SGG als zurückgenommen gelte. Das Landessozialgericht prüft nach §
157 Satz 1
SGG den Streitfall im gleichen Umfang wie das Sozialgericht. Eine eigene Entscheidung in der Sache, dass heißt eine Entscheidung
über die Rechtmäßigkeit des Rücknahme- und Erstattungsbescheides vom 15. April 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 29. Juni 2015 ist dem Berufungsgericht verwehrt (vgl. LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 28. Mai 2018 - L 20 SO 431/17
- Breith 2018, 878 ff. = juris Rdnr. 2, m. w. N.; Burkiczak, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-
SGG [Stand: 30. April 2018], §
102 Rdnr. 100). Denn eine Sachentscheidung wurde nicht getroffen. Verfahrensgegenständlich im Rahmen eines sogenannten Zwischenstreits
ist nur, ob der Rechtsstreit beendet ist.
II. Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Kläger ist statthaft (1) und auch im Übrigen zulässig (2).
1. Die Berufung ist statthaft, da Leistungen von mehr als 750,00 EUR betroffen sind (vgl. §
144 Abs.
1 Satz 1 Nr.
1 SGG).
In Bezug auf eine Berufung gegen ein Urteil oder einen Gerichtsbescheid eines Sozialgerichtes, mit dem entschieden worden
ist, dass die Klage gemäß §
102 Abs.
2 Satz 1
SGG als zurückgenommen gilt, war streitig, ob die Beschränkungen aus §
144 SGG Anwendung finden (bejahend: Sächs. LSG, Beschluss vom 1. Dezember 2010 - L 7 AS 524/09 - juris Rdnr. 22; Bay. LSG, Beschluss vom 1. März 2016 - L 16 AS 27/16 RG - juris Rdnr. 16 ff.; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 28. Dezember 2016 - L 14 AS 745/16 - juris Rdnr. 21; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 25. Juli 2017 - L 9 AS 1068/17 - juris Rdnr. 25; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 19. Februar 2018 - L 19 AS 2278/17 B - juris Rdnr. 3; verneinend: LSG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 21. August 2012 - L 3 AS 133/12 - juris Rdnr. 20; LSG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 30. August 2012 - L 2 AS 132/12- juris Rdnr. 14). Nach dem Urteil des Bundessozialgerichtes vom 10. Oktober 2017 ist die Berufungsbeschränkung des §
144 Abs.
1 Satz 1 Nr.
1 SGG auch auf Berufungen anzuwenden, die sich gegen die Feststellung eines Sozialgerichtes wenden, ein Verfahren sei erledigt
(vgl. BSG, Urteil vom 10. Oktober 2017 - B 12 KR 3/16 R - juris Rdnr. 12). Dem hat sich der erkennende Senat angeschlossen (vgl. Sächs. LSG, Beschluss vom 11. Februar 2019 - L 3 AS 404/16 NZB - [n.V.]; Sächs. LSG, Beschluss vom 12. Februar 2019 - L 3 AS 405/16 NZB - [n.V.]).
Vorliegend ist die Berufung unabhängig von der Beantwortung der vorgenannten Rechtsfrage bereits deshalb statthaft, da Gegenstand
der ursprünglichen Klage das Begehren der Kläger, gerichtet auf Aufhebung des Bescheides des Beklagten vom 15. April 2015
in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. Juni 2015 gewesen ist, mit dem der Beklagte vom Kläger zu 2 Leistungen zur
Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II für die Zeit vom 1. Juli 2014 bis zum 31. Dezember 2014 in Höhe von insgesamt 846,00 EUR sowie Leistungen für Bildung und
Teilhabe von 70,00 EUR, das heißt insgesamt in Höhe von 916,04 EUR, aufgehoben und zurückgefordert hat. Damit wird der für
die Berufung notwendige Beschwerdewert von 750,00 EUR überschritten.
2. Die Kläger verfügen auch über das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis. Zwar kann es, wie das Bundessozialgericht im Urteil
vom 4. April 2017 angemerkt hat, zweifelhaft sein, ob ein Rechtsmittelführer für einen Aufhebungs- und Zurückverweisungsantrag
ein hinreichendes Rechtsschutzbedürfnis hat, wenn er einen Antrag stellen kann, der auf eine den Rechtsstreit abschließende
Entscheidung des Rechtsmittelgerichtes gerichtet ist. Denn in einem solchen Fall könnte der Rechtsstreit einfacher und prozessökonomischer
zu einem Ende geführt werden. Dies gilt aber nicht, wenn im Wesentlichen ein Verfahrensmangel des vorinstanzlichen Verfahrens
gerügt wird, der nur zur Folge haben kann, dass es zur Aufhebung und Zurückverweisung kommt, weil das Urteil der Vorinstanz
kein geeigneter Gegenstand für das Rechtsmittelgericht für eine Überprüfung der Entscheidung über ein Anfechtungsbegehren
ist (vgl. BSG, Urteil vom 4. April 2017 - B 4 AS 2/16 R - BSGE 123, 62 ff. = SozR 4-1500 § 102 Nr. 3 = juris Rdnr. 17). So ist es hier.
III. Die Berufung ist auch begründet.
Das Sozialgericht hat mit Gerichtsbescheid vom 28. Juli 2017 zu Unrecht festgestellt, dass das Verfahren beendet ist. Die
Klage vom 10. Juli 2015 gilt nicht auf Grund einer Klagerücknahmefiktion nach §
102 Abs.
2 Satz 1
SGG als zurückgenommen, so dass das Sozialgericht nicht an der Sachentscheidung gehindert war. Vorliegend lagen die tatbestandlichen
Voraussetzungen für die Fiktion einer Klagerücknahme bei Erlass der Betreibensaufforderung nicht vor, so dass eine Frist für
die Klagerücknahmefiktion nicht wirksam in Gang zu gesetzt werden konnte. Der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts ist aufzuheben
und der Rechtsstreit zur erneuten Entscheidung an das Sozialgericht zurückzuverweisen. Das ursprünglich unter dem Aktenzeichen
S 23 AS 3619/15 beim Sozialgericht geführte Verfahren ist fortzusetzen.
1. Nach §
102 Abs.
2 Satz 1
SGG, der mit dem Gesetz zur Änderung des
Sozialgerichtsgesetzes und des Arbeitsgerichtsgesetzes vom 26. März 2008 (BGBl. I S. 444) zum 1. April 2008 auch in die in der Sozialgerichtsbarkeit anzuwendende Prozessordnung eingeführt wurde, gilt die Klage
als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt. Eine
solche fiktive Klagerücknahme erledigt den Rechtsstreit in der Hauptsache (vgl. §
102 Abs.
2 Satz 2 i. V. m. Abs.
1 Satz 2
SGG). Der Kläger ist in der Betreibensaufforderung auf die sich nach §
102 Abs.
2 Satz 1
SGG ergebenden Rechtsfolgen hinzuweisen (vgl. §
102 Abs.
2 Satz 3
SGG). Als sogenanntes ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal setzt der Entschluss des Richters, an einen rechtschutzsuchenden Verfahrensbeteiligten
eine Betreibensaufforderung zu richten, voraus, dass im Einzelfall das Verhalten des Beteiligten hinreichenden Anlass zu der
Annahme bietet, dass ihm an einer Sachentscheidung nicht mehr gelegen ist (vgl. BSG, Urteil vom 1. Juli 2010 - B 13 R 58/09 R = BSGE 106, 254 ff. = SozR 4-1500 § 102 Nr. 1 = juris Rdnr. 40 ff., m. w. N.).
Denn bei der fiktiven Klagerücknahme handelt es sich um eine gesetzliche Regelung für Fälle, in denen das Rechtsschutzinteresse
an einem Verfahren entfallen ist (vgl. BT-Drucks 16/7716, S. 19 [zu Nr. 17]; BSG Urteil vom 4. April 2017, a. a. O., Rdnr. 20 f.). Der Gesetzgeber verfolgte mit dem Gesetz zur Änderung des
Sozialgerichtsgesetzes und des Arbeitsgerichtsgesetzes den Zweck, eine Vereinfachung und Straffung des sozialgerichtlichen Verfahrens herbeizuführen, um dadurch die Sozialgerichtsbarkeit
nachhaltig zu entlasten (vgl. BT-Drucks 16/7716, S. 1 f., 12 ff.). Zum Entwurf des §
102 Abs.
2 SGG wird weiter ausgeführt (vgl. BT-Drucks 16/7716, S. 13): "Die Fiktion einer Klagerücknahme (§ 102 Abs. 2) wird für die Fälle
eingeführt, in denen der Kläger ungeachtet einer Aufforderung des Gerichts nicht fristgemäß die vom Gericht als geboten angesehene
und ihm mögliche Mitwirkungshandlung erbringt oder hinreichend substantiiert darlegt, warum er die geforderte Handlung nicht
vornehmen kann." Jede Anwendung der Klagerücknahmefiktion setzt voraus, dass konkrete Anhaltspunkte vorliegen, die den sicheren
Schluss zulassen, dass einem Beteiligten an einer Sachentscheidung des Gerichts nicht mehr gelegen ist (vgl. BVerfG, Beschluss
vom 27. Oktober 1998 - 2 BvR 2662/95 - DVBl 1999, 166 [167] = juris Rdnr. 19; Schmidt, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt,
SGG [12. Aufl., 2017], §
102 Rdnr. 8a, m. w. N.).
Sachlich begründbare Anhaltspunkte für den Wegfall des Rechtsschutzinteresses können sich insbesondere aus der Verletzung
prozessualer Mitwirkungspflichten des Klägers ergeben. Insoweit ist aber zu beachten, dass die Rücknahmefiktion des §
102 Abs.
2 SGG keine Sanktion für prozessuales Fehlverhalten darstellt (vgl. z. B. BVerfG, Beschluss vom 17. September 2012 - 1 BvR 2254/11 - NVwZ 2013, 136 ff. = juris Rdnr. 35). Außerdem gilt (auch) für den Sozialgerichtsprozess nicht der Beibringungs-, sondern der Untersuchungsgrundsatz
(Amtsermittlungsgrundsatz). Gemäß §
103 SGG erforscht das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen; es hat dabei die Beteiligten heranzuziehen. Prozessuale Mitwirkungsobliegenheiten
können insofern auch erst durch eine gerichtliche Anfrage entstehen (z. B. §
92 Abs.
2 SGG, §
106 SGG oder §
106a SGG). Allerdings genügt für eine Betreibensaufforderung nur das Unterlassen solcher prozessualen Handlungen oder Äußerungen,
die zum Beispiel für die Feststellung von Tatsachen bedeutsam sind, die das Gericht nach seiner Rechtsansicht für entscheidungserheblich
und deren Klärung es für notwendig hält (vgl. BSG Urteil vom 4. April 2017, a. a. O., Rdnr. 29; BSG, Urteil vom 1. Juli 2010 - B 13 R 74/09 R - juris Rdnr. 52). Insofern darf nicht in unzulässiger Weise die Amtsermittlungspflicht auf den Kläger überwälzt werden.
Jedoch kann Gelegenheit zur Verwirklichung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (vgl. §
62 SGG, ArtIkel 103 Abs. 1 des
Grundgesetzes [GG]) gegeben werden. Die Fiktion der Klagerücknahme knüpft an den objektivierbaren Umstand der Untätigkeit an. Ein nur "unkooperatives
Verhalten" kann daher die Klagerücknahmefiktion nicht auslösen. Prozessuale Folgerungen aus einer Verletzung der Mitwirkungspflicht
unterliegen dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (vgl. LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 17. April 2013 - L 5 KR 605/12 - juris Rdnr. 30).
2. Ausgehend von diesen verfassungsrechtlichen Bezügen fordert das Bundessozialgericht für eine Klagerücknahmefiktion gemäß
§
102 Abs.
2 Satz 1
SGG dreierlei (vgl. BSG, Urteil vom 4. April 2017, a. a. O., Rdnr. 23 ff., 27 ff. und 34): 1. den Zugang einer wirksamen Betreibensaufforderung an
den Kläger, 2. sachlich begründete Anhaltspunkte für den Wegfall des Rechtsschutzbedürfnisses zum Zeitpunkt des Erlasses der
Betreibensaufforderung und 3. das Nichtbetreiben des Verfahrens nach dem Zugang der Betreibensaufforderung.
Vorliegend kann dahingestellt bleiben, ob die vom Kammervorsitzenden mit Datum vom 10. August 2016 unterschriebene Betreibensaufforderung
den Anforderungen an die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (vgl. BSG, Urteil vom 4. April 2017, a. a. O., Rdnr. 23) genügt, und ob die Kläger das Verfahren nach Erhalt der Betreibensaufforderung
am 11. August 2016 länger als drei Monate nicht betrieben haben. Denn der Erlass der Betreibensaufforderung durch das Sozialgericht
konnte bereits deshalb keine Frist für die Klagerücknahmefiktion wirksam in Gang zu setzen, da zu diesem Zeitpunkt keine konkreten
Anhaltspunkte dafür vorlagen, die den sicheren Schluss zuließen, dass den Klägern nicht mehr an einer Sachentscheidung gelegen
war.
In Bezug auf "sachlich begründete Anhaltspunkte für einen Wegfall des Rechtsschutzinteresses" hat das Bundessozialgericht
im Urteil vom 4. April 2017 unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes und auf Kommentarliteratur
ausgeführt, dass ein Wegfall des Rechtsschutzinteresses erst nach einer Würdigung aller Umstände des Einzelfalls angenommen
werden darf. Bei der Gesamtwürdigung seien sowohl die Umstände vor und nach Erlass der Betreibensaufforderung als auch das
Verhalten des Klägers zu berücksichtigen (vgl. BSG, Urteil vom 4. April 2017, a. a. O., Rdnr. 28; vgl. hierzu die krit. Anmerkung von Groth, jurisPR-SozR 19/2017 Anm. 5, der
darauf hinweist, dass das BSG noch im vorhergehendenden Absatz das Vorliegen der Anhaltspunkte "bereits zum Zeitpunkt des Erlasses" der Betreibensaufforderung
gefordert hat; diesbzgl. ebenfalls kritisch: Hahn, SGb 2018, 317 [320]; Schmidt, a. a. O., § 102 Rdnr. 8a).
Nach Gesamtwürdigung aller Umstände bei Erlass der Betreibensaufforderung lagen keine sachlich begründeten Anhaltspunkte für
einen Wegfall des Rechtsschutzinteresses der Kläger vor. Die Beteiligten tauschten mehrfach detailliert ihre Rechtsansichten
aus. Die Kläger begründeten ihrer Klage bereits mit der Klageschrift vom 9. Juli 2015 und nahmen, wenn auch erst auf mehrfache
Erinnerung, zu den gerichtlichen Schreiben vom 9. September 2015 und 25. Februar 2015 mit den Schriftsätzen vom 16. Februar
2016 und 6. Juli 2016 Stellung. Das Verfahren wurde nach Klageerhebung damit fortlaufend betrieben, auch wenn nach Auffassung
des Sozialgerichts die richterlichen Anfragen nur unzureichend beantwortet wurden. Ob die Ausführungen der Klägerseite in
Bezug auf das Sorgerecht sowie das Angebot, die Mutter der Klägerin zu 1 als Zeugin einzuvernehmen, ausreichend für die Beantwortung
der vom Sozialgericht aufgeworfenen Fragen war, ist keine Frage des fehlenden Rechtsschutzinteresses, sondern eine Frage des
hinreichenden Sachvortrages sowie der Darlegungs- und Beweislast. Nichts anderes gilt in Bezug auf die Anregung, die Strafakten
beizuziehen. Diese Anregung war auch nicht völlig fernliegend und "ins Blaue" hinein behauptet, da ausweislich der Verwaltungsakte
die Durchführung des beim Amtsgericht A ... unter dem Aktenzeichen. geführten Strafverfahrens auf einer Strafanzeige der Beklagten
in Bezug auf den streitgegenständlichen Sachverhalt beruhte. Soweit das Sozialgericht von der Klägerin die Einreichung der
zugrundeliegenden Bescheide forderte, bestand hierfür keine Notwendigkeit, da dem Sozialgericht die Verwaltungsakte und somit
sämtliche Bescheide vorlagen. Schließlich war bei der Gesamtbetrachtung auch zu berücksichtigen, dass parallel zum vorliegenden
Verfahren drei weitere Klagen der Klägerin unter den Aktenzeichen S 23 AS 2303/15, S 23 AS 3617/15 und S 23 AS 3618/15 beim Sozialgericht anhängig waren und die Kläger im Verfahren Az. S 23 AS 2303/15 mit Schriftsatz vom 6. Juli 2016 nicht nur die Beiziehung der vorbezeichneten Strafakten anregten, sondern dort auch vom
Sozialgericht mit Schreiben vom 9. Juli 2015 und 25. Februar 2016 angeforderten Kontoauszüge eingereicht und weitergehende
Ausführungen getätigt hatten. Angesichts dieser Umstände konnte jedenfalls nicht der sichere Rückschluss gezogen werden, dass
die Kläger ihr Interesse an der Verfolgung ihrer Rechte verloren hatten.
Zwar sind bei der Gesamtwürdigung nicht nur die Umstände vor, sondern auch diejenigen nach Erlass der Betreibensaufforderung
zu berücksichtigen, wozu auch das Verhalten der Kläger nach Erhalt der Betreibensaufforderung gehört (vgl. BSG, Urteil vom 4. April 2017, a. a. O., juris Rdnr. 28). Insoweit stellt sich die Fragen, warum die anwaltlich vertretenen Kläger
nicht auf etliche der gerichtlichen Schreiben reagierten. Da jedoch die Regelung des §
102 Abs.
2 SGG nicht als Sanktion für einen Verstoß gegen prozessuale Mitwirkungsobliegenheiten eingesetzt werden darf und zudem nach der
Rechtsprechung des Bundessozialgerichts als Ausnahmevorschrift eng auszulegen ist (vgl. BSG, Urteil vom 4. April 2017, a. a. O.; vgl. auch LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 1. Februar 2018 - L 7 AS 1891/17 - juris Rdnr. 36), kann allein aus diesem Verhalten der Klägerseite und der Gesamtumstände, die vor Erlass der Betreibensaufforderung
vorgelegen haben, nicht geschlossen werden, dass kein Interesse mehr an der Fortführung des Verfahrens bestand.
Nach alledem fehlte den Klägern nicht das für die Fortführung des Klageverfahrens erforderliche Rechtsschutzbedürfnis.
Nach dem Bild, das sich auf der Grundlage der vorliegenden Akten ergibt, sah sich das Sozialgericht vor das Problem gestellt,
in der Sache nicht entscheiden zu können, weil der Sachverhalt noch nicht geklärt war und das Sozialgericht von den Klägern
noch eine Stellungnahme zur Sache erwartete. In einer solchen Situation ist aber der Lösungsansatz nicht in einer Betreibensaufforderung
nach §
102 SGG zu suchen, sondern in Regelungen, die das Herbeiführen der Entscheidungsreife betreffen. So hat ein Sozialgericht nicht nur
die Möglichkeit, sondern auf Grund von §
103 Satz 1
SGG stets die Pflicht, als erforderlich angesehene Ermittlungen von Amts wegen durchzuführen. So konnten vorliegend beispielsweise
die von der Klägerbevollmächtigten benannte Strafakte beigezogen werden. Weshalb das Sozialgericht von dieser Ermittlungsmöglichkeit
abgesehen hat, ergibt sich weder aus dem angefochtenen Gerichtsbescheid noch aus der Gerichtsakte. Das Sozialgericht kann
auch die Beteiligten zur weiteren Sachaufklärung heranziehen. Sofern dies nicht fruchtet, kann es die Beteiligten nach Maßgabe
von §
106a Abs.
1 und
2 SGG unter Fristsetzung zur Mitwirkung auffordern und nach Maßgabe von §
106a Abs.
3 SGG Erklärungen und Beweismittel, die erst nach Ablauf der gesetzten Frist vorgebracht werden, zurückweisen und ohne weitere
Ermittlungen entscheiden. Wenn das Sozialgericht die Ermittlungsmöglichkeiten auch nach Rückgriff auf §
106a SGG ausgeschöpft hat, kann es über das Rechtschutzbegehren entscheiden und muss bei einem noch ungeklärten Sachverhalt die Entscheidung
auf der Grundlage der Regeln über die objektive Beweislast (vgl. hierzu: Schmidt, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt,
Sozialgerichtsgesetz [12. Aufl., 2017], §
103 Rdnr. 19a, m. w. N.) treffen.
3. Aus gegebenen Anlass sowie im Hinblick auf eine Reihe weiterer ähnlich gelagerter Fälle hält der Senat es für angezeigt,
informatorisch Folgendes anzumerken: Wenn ein Sozialgericht einen Beteiligten, in der Regel die Klägerseite, zu Mitwirkungshandlungen
auffordert, können sich immer die Fragen stellen, ob die Ermittlungen überhaupt einen entscheidungserheblichen Punkt betreffen,
ob die Mittwirkungsaufforderungen im Hinblick auf den Amtsermittlungsgrundsatz erforderlich sind, und ob der Beteiligte seiner
Mitwirkungsobliegenheit in ausreichendem Maße nachgekommen ist. Auch ist im Falle einer Betreibensaufforderung nach §
102 SGG stets zu prüfen, ob die nach den gesetzlichen Regelungen und der Rechtsprechung geforderten formellen und materiellen Voraussetzungen
vorliegen. Es erscheint aber leichtfertig, wenn auf gerichtliche Aufforderungsschreiben oder Betreibensaufforderungen entweder
überhaupt nicht oder nur in knappster Form reagiert wird, um sodann im Verfahren über die Fortsetzung des Verfahrens oder
im Rechtsmittelverfahren wortreich auszuführen, was mit einer knappen Bemerkung in einem Schreiben gemeint gewesen sei, oder
aus welchen Gründen sich das Sozialgericht zu welchen Ermittlungen von Amts wegen hätte gedrängt fühlen müssen. Mit einem
solchen Verhalten ist stets das Risiko verbunden, dass der Beteiligte mit seinem Vorbringen nicht mehr durchdringen kann.
Denn wenn das Sozialgericht in einem Fortsetzungsverfahren die Voraussetzungen für eine Klagerücknahmefiktion als gegeben
ansieht, hat die Klagepartei nur noch die Möglichkeit, hiergegen - abhängig von dem im Einzelfall statthaften Rechtsmittel
- Berufung oder Nichtzulassungsbeschwerde einzulegen. Im Falle einer Berufung ist ins Kalkül zu ziehen, dass das Berufungsgericht
die rechtliche Wertung des Sozialgerichtes teilt. Im Falle einer Nichtzulassungsbeschwerde dürfte die Zulassung wegen grundsätzlicher
Bedeutung der Rechtssache (vgl. §
144 Abs.
2 Nr.
1 SGG) auf Grund der vorhandenen höchstrichterlichen Rechtsprechung zur Betreibensaufforderung wenig aussichtsreich sein. Ob der
Zulassungsgrund der Divergenz oder der des Beruhens auf einem Verfahrensmangel (vgl. §
144 Abs.
2 Nr.
2 und
3 SGG) in Betracht kommt, hängt maßgebend von der sorgfältigen Arbeitsweise des Sozialgerichtes ab. Ein Rechtsanwalt, der nicht
spätestens auf eine Betreibensaufforderung adäquat reagiert, läuft somit Gefahr, dass die Mandantschaft ihm eine nicht ordnungsgemäße
Ausführung des Mandatsauftrages vorhalten und ihn gegebenenfalls in Anwaltsregress nehmen kann.
4. Infolge der Aufhebung des Gerichtsbescheids des Sozialgerichts ist das ursprüngliche Verfahren beim Sozialgericht fortzusetzen
und in der Sache zu entscheiden. Dahinstehen kann, ob es einer gesonderten Zurückverweisungsentscheidung zwingend bedarf.
Eine Zurückverweisung erfolgt vielfach ohne nähere Begründung (so Bay. LSG, Urteil vom 8. Dezember 2009 - L 5 R 884/09 - ASR 2010, 139 f. = juris Rdnr. 18; LSG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 16. Juni 2010 - L 5 AS 217/10 - juris Rdnr. 20; LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 20. April 2011 - L 9 SO 48/09 - juris Rdrn. 22; LSG Berlin-Brandenburg;
Urteil vom 19. Mai 2011 - L 13 SB 32/11 - juris Rdnr. 27; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 12. Juli 2011 - L 11 KR 1429/11 - juris Rdnr. 28; LSG Schleswig-Holstein, Urteil vom 16. Dezember 2011 - L 3 AS 74/10 - ASR 2012, 33 ff. = juris; LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 10. Juli 2012 - L 7 AS 776/11 - juris Rdnr. 28; zum Revisionsverfahren BSG, Urteil vom 1. Juli 2010 - B 13 R 58/09 R - BSGE 106, 254 ff. = SozR 4-1500 § 102 Nr. 1 = juris Rdnr. 50) und wird teilweise für nicht notwendig gehalten, da das Ausgangsverfahren
nicht Gegenstand des Berufungsverfahrens und von Amts wegen fortzusetzen sei (so LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 28. Mai
2018 - L 20 SO 431/17 - Breith 2018, 878 ff. = juris Rdnr. 42; LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 19. Mai 2017 - L 17 U 315/16 - juris Rdnr. 21; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 15. März 2017 - L 18 AS 2584/16 - juris Rdnr. 18; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 17. April 2013 - L 5 KR 605/12 - juris Rdnr. 36; LSG Sachsen, Urteil vom 28. Februar 2013 - L 7 AS 523/09 - juris Rdnr. 27 f.; LSG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 30. August 2012 - L 2 AS 132/12 - juris; LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 30. August 2011 - L 9 AS 61/10 - juris Rdnr. 36; Bay. LSG, Urteil vom 12. Juli 2011 - L 11 AS 582/10 - juris Rdnr. 21).
Dies kann dahingestellt bleiben, weil eine Ermessensentscheidung auf der Grundlage des Wortlautes von §
159 Abs.
1 SGG ("kann") vorliegend im Sinne einer Zurückverweisung ausfällt. Bei der Ausübung des Ermessens ist das Interesse der Klägerin
an einer möglichst zeitnahen Entscheidung gegenüber den Nachteilen durch den Verlust einer Tatsacheninstanz abzuwägen und
insbesondere zu berücksichtigen, dass die Zurückweisung dies Ausnahme sein soll (vgl. Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt,
Sozialgerichtsgesetz [12. Aufl., 2017], §
159 Rdnr. 5). Hierbei hat das Gericht berücksichtigt, dass der Rechtsstreit noch nicht entscheidungsreif ist. So ergibt sich
bereits aus der gerichtlichen Betreibensaufforderung vom 10. August 2016, dass das Sozialgericht selbst weiteren Aufklärungsbedarf
gesehen hat. Im Hinblick auf die Rechtsweggarantie in Artikel
19 Abs.
4 GG und das im
Sozialgerichtsgesetz vorgesehene Modell von grundsätzlich zwei Tatsacheninstanzen ist es sachdienlich, dass sich das Sozialgericht nochmals in
der Sache mit der Klage befasst und den Klägern die Möglichkeit einer Berufung gegen eine Sachentscheidung des Sozialgerichtes
verbleibt.
IV. Die Kostenentscheidung bleibt der Endentscheidung des Sozialgerichts vorbehalten (vgl. Schmidt, a. a. O., § 193 Rdnr.
2a).
V. Die Revision ist nicht zuzulassen, weil Gründe dafür (vgl. §
160 Abs.
2 SGG) nicht vorliegen.