Rente wegen Erwerbsminderung
PKH-Verfahren
Verfahrensrüge
Anordnung des Erscheinens des Sachverständigen zur mündlichen Verhandlung
Fragerecht als Verwirklichung des rechtlichen Gehörs
Sachdienliche Fragen
Gründe:
I
Mit Urteil vom 27.3.2014 hat das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg (LSG) einen Anspruch des Klägers auf Rente wegen Erwerbsminderung
- auch bei Berufsunfähigkeit - für die Zeit vom Juli 2008 (Monat der Antragstellung) bis 31.1.2012 verneint.
Der Kläger erhält seit dem 1.8.2008 eine Erwerbsunfähigkeitspension von der österreichischen Sozialversicherungsanstalt. Auf
das vom LSG eingeholte Gutachten der Internistin Dr. L. vom 11.6.2012 hat die Beklagte Rente wegen voller Erwerbsminderung
auf der Grundlage eines Leistungsfalls vom 24.1.2012 ab 1.2.2012 anerkannt. Für den noch streitigen Zeitraum ab Antragstellung
hat das LSG bezüglich der Leistungseinschränkungen auf die Entscheidungsgründe des SG verwiesen. Dieses hat sich auf die Gutachten des Unfallchirurgen Dr. S. und des Internisten Dr. M. jeweils vom März 2008
sowie des Nervenarztes Dr. A. vom April 2008 aus dem Verfahren mit der österreichischen Sozialversicherungsanstalt und den
von der Beklagten erneut veranlassten Gutachten des Dr. S. und Dr. M. vom September 2009 gestützt. Danach könne der Kläger
noch vollschichtig körperlich leichte Tätigkeiten im Gehen, Stehen und Sitzen verrichten. Mit diesem Leistungsvermögen sei
der Kläger noch in der Lage, die Tätigkeit eines Telefonisten oder eines Registrators im öffentlichen Dienst zu verrichten.
Das LSG hat insoweit ergänzend ausgeführt, dass letztere Tätigkeit (Vergütungsgruppe VIII BAT/Entgeltgruppe 3 TVöD) auch einem Gelernten bzw Facharbeiter sozial zumutbar sei, so dass die Einstufung des Klägers, der zuletzt Pflichtbeiträge
als Betreiber eines Cafe-Shops in Österreich entrichtet habe, als Angelernter oder Gelernter dahinstehen könne. Im Hinblick
auf seine Berufserfahrungen mit administrativen Aufgaben bestehe kein Zweifel, dass er diese Verweisungstätigkeit innerhalb
von einer Anlernzeit von bis zu 3 Monaten vollwertig verrichten könne. Ein zeitlich vor Januar 2012 liegender Eintritt eines
Leistungsfalls der vollen bzw teilweisen Erwerbsminderung lasse sich mit den eingeholten Befundberichten und Gutachten nicht
objektivieren. Die Verschlechterung des Gesundheitszustands sei erstmals mit der Diagnose der generalisierten Gefäßsklerose
am 24.1.2012 nachgewiesen. Aus der Erfüllung der Voraussetzungen für die Erwerbsunfähigkeitspension aus der österreichischen
Sozialversicherung sei kein Rückschluss auf das Vorliegen von voller bzw teilweiser Erwerbsminderung zu ziehen, weil unterschiedliche
gesetzliche Grundlagen bestünden.
Der Kläger hat gegen das am 15.4.2014 zugestellte Urteil mit einem von ihm selbst unterzeichneten Schreiben vom 18.6.2014
(Eingang beim BSG am 3.7.2014) Prozesskostenhilfe (PKH) beantragt und Unterlagen vorgelegt. Darin und im Schreiben vom 29.7.2014 hat er insbesondere
ausgeführt, dass er immer pünktlich und lückenlos seine gesetzlichen Abgaben geleistet habe. Er habe zur Aufklärung der Zeit
vom 1.3.1972 bis 18.4.1972 sowie vom 1.10.1986 bis 31.12.1988 Zeugen genannt. Sein Steuerberater sei mit voller Verantwortung
gegenüber Behörden betraut gewesen. Er habe seit 7.1.2014 einen Grad der Behinderung von 60. Das Gutachten der Dr. L. weiche
von vorhergehenden Gutachten nicht wesentlich ab. Im Schreiben vom 10.8.2012 habe er vergeblich eine Ergänzung ihres Gutachtens
zum Zeitpunkt des Eintritts der Erwerbsminderung beantragt zum Beweis dafür, dass der Leistungsfall schon vor dem 24.1.2012
eingetreten sei. Es lägen Verfahrensmängel vor.
II
Der Antrag auf PKH ist abzulehnen.
Nach §
73a Abs
1 S 1
Sozialgerichtsgesetz (
SGG) iVm §
114 Abs
1 S 1
Zivilprozessordnung (
ZPO) kann einem Beteiligten, der nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten für die Prozessführung
nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, für das Verfahren vor dem Bundessozialgericht (BSG) nur dann PKH bewilligt werden, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht
mutwillig erscheint.
Die Rechtsverfolgung des Klägers bietet keine hinreichende Aussicht auf Erfolg. Es ist nicht zu erkennen, dass einer Nichtzulassungsbeschwerde
des Klägers Erfolg beschieden sein könnte.
Im Verfahren der als Rechtsmittel gegen das LSG-Urteil allein statthaften Nichtzulassungsbeschwerde (§§
160,
160a SGG) geht es nicht darum, ob die Entscheidung des LSG richtig oder falsch ist. Vielmehr darf gemäß §
160 Abs
2 SGG die Revision nur zugelassen werden, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat (Nr 1), das Urteil des LSG von einer
Entscheidung des BSG, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung
beruht (Nr 2) oder wenn ein Verfahrensmangel vorliegt, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann (Nr 3).
Ein solcher Zulassungsgrund ist nach Prüfung des Streitstoffs unter Berücksichtigung der Schreiben des Klägers vom 18.6.2014
und 29.7.2014 nicht ersichtlich.
1. Es ist nicht erkennbar, dass eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§
160 Abs
2 Nr
1 SGG) vorliegt. Insbesondere ist geklärt, dass zwar ggf Sachverhalte oder Ereignisse, die in anderen Mitgliedstaaten der Europäischen
Union eingetreten sind, inländischen Sachverhalten gleichgestellt werden können, so dass der in Österreich zuletzt versicherungspflichtig
ausgeübte Beruf des Klägers bei der Beurteilung des inländischen Versicherungsfalls zu berücksichtigen ist (vgl BSG vom 21.9.1988 - 5/5b/1 RJ 114/83 - SozR 2200 § 1246 Nr 159 S 516 = Juris RdNr 14). Dies kann aber in keinem Fall bewirken, dass auch die Rechtsvorschriften des anderen Mitgliedstaats
anwendbar werden (vgl Erwägungsgrund 11 der EGV Nr 883/2004). Insoweit bleiben die Unterschiede zwischen den sozialen Sicherungssystemen der Mitgliedstaaten erhalten (vgl
Senatsbeschluss vom 19.10.2017 - B 13 R 140/14 B - Juris RdNr 9) und können daher auch zu unterschiedlichen Ergebnissen hinsichtlich der Gewährung einer Rente wegen mangelnder
Erwerbsfähigkeit führen.
2. Ebenso wenig ist ersichtlich, dass eine Abweichung des Berufungsurteils von höchstrichterlicher Rechtsprechung (§
160 Abs
2 Nr
2 SGG) mit Erfolg geltend gemacht werden könnte. Das LSG hat sich an der Rechtsprechung des BSG orientiert.
3. Es liegt auch kein Verfahrensmangel (§
160 Abs
2 Nr
3 SGG) vor, auf dem die angefochtene Entscheidung des LSG beruhen könnte.
a) Es entspricht ständiger Rechtsprechung des BSG, dass unabhängig von der nach §
411 Abs
3 ZPO im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts liegenden Möglichkeit, zur weiteren Sachaufklärung von Amts wegen das Erscheinen
des Sachverständigen zur mündlichen Verhandlung anzuordnen, jedem Beteiligten das Recht zusteht, einem Sachverständigen diejenigen
Fragen vorlegen zu lassen, die er zur Aufklärung der Sache für dienlich hält (Senatsbeschluss vom 7.8.2014 - B 13 R 439/13 B - Juris RdNr 10). Das Fragerecht dient der Verwirklichung des rechtlichen Gehörs; insofern muss der Beteiligte alles getan
haben, um die Anhörung des Sachverständigen zu erreichen. Hierzu muss er einen rechtzeitigen Antrag gestellt, objektiv sachdienliche
Fragen angekündigt und das Begehren bis zum Schluss aufrechterhalten haben (vgl BSG Beschluss vom 27.11.2007 - B 5/5a R 60/07 B - SozR 4-1500 § 116 Nr 1 RdNr 7; Senatsbeschluss vom 26.5.2015 - B 13 R 13/15 B - Juris RdNr 9).
Der Kläger hat zwar in seinem Schreiben vom 10.8.2012 rechtzeitig die Ergänzung des Gutachtens der Dr. L. hinsichtlich der
Bestimmung des Zeitpunkts des Leistungsfalls beantragt. Diesen Antrag hat er in den Schriftsätzen vom 10.9.2012 und 10.10.2012
wiederholt und auch zuletzt am 22.1.2013 aufrechterhalten. Dass er zugleich vorbehaltlos sein Einverständnis zum schriftlichen
Verfahren erteilt hat, kann ihm schon deshalb nicht entgegengehalten werden, weil er nicht durch einen Prozessbevollmächtigten
vertreten war. Der Kläger hat jedoch keine sachdienliche Frage geltend gemacht.
Sachdienliche Fragen iS von §
116 S 2
SGG liegen dann vor, wenn sie sich im Rahmen des Beweisthemas halten und nicht abwegig oder bereits beantwortet sind (BSG SozR 4-1500 § 116 Nr 1 RdNr 10). Das LSG hat den Kläger insoweit zutreffend darauf hingewiesen, dass die Sachverständige die Frage nach dem
Eintritt des Leistungsfalls unter Verweis auf die erstmalig am 24.1.2012 dokumentierte Diagnosestellung der schweren Gefäßsklerose
mit den sich daraus ergebenden Komplikationen bereits eindeutig beantwortet hat. Daran änderte auch der klägerische Hinweis
auf den Untersuchungsbefund des Dr. M. vom 29.9.2009 nichts, aus dem der Kläger insbesondere wegen des dort festgehaltenen
Abbruchs der Ergometrie einen Hinweis auf einen früheren Beginn dieser Erkrankung ableiten wollte. Denn die Gutachterin hat
sich ausdrücklich auf die vorliegenden Unterlagen gestützt und den - mehrfach zu den Akten gelangten (zuletzt am 7.2.2012)
- Bericht des Dr. M. gerade auch in dem angesprochenen Punkt der Ergometrie in ihrem Gutachten detailliert wiedergegeben.
Entsprechendes gilt für die anderen vom Kläger im Schriftsatz vom 10.10.2012 angegebenen Berichte. Insoweit sind keine Gesichtspunkte
ersichtlich, die noch nicht von der Gutachterin einbezogen worden wären. Dies gilt nicht nur in Bezug auf die in den vorliegenden
Befundberichten enthaltenen Diagnosen sondern auch für die darin dokumentierten Leistungseinschränkungen. Die Gutachterin
hat diese Befundlage ersichtlich berücksichtigt und ausdrücklich als umfassend und ausreichend angesehen.
b) Auch wenn das Begehren des Klägers nicht nur als Frage an die Sachverständige sondern auch als Beweisantrag verstanden
worden wäre, hätte sich das Berufungsgericht nicht zu weiterer Aufklärung gedrängt fühlen müssen (vgl dazu Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt,
SGG, 12. Aufl 2017, §
160 RdNr 18d mwN). Voraussetzung hierfür wäre, dass sich das LSG bei der Feststellung des Leistungsvermögens des Klägers nicht
auf die von ihm erhobenen Beweise hätte stützen dürfen, weil etwa die vorliegenden Gutachten grobe Mängel oder unlösbare Widersprüche
enthalten oder von unzutreffenden sachlichen Voraussetzungen ausgehen oder Anlass zu Zweifeln an der Sachkunde des Gutachtens
besteht oder wenn die in verschiedenen Gutachten enthaltenen sich widersprechenden Schlussfolgerungen mit entsprechenden Feststellungen
einhergehen (vgl Senatsbeschluss 12.12.2003 - B 13 RJ 179/03 B - SozR 4-1500 § 160a Nr 3 RdNr 9 mwN).
Soweit der Kläger sinngemäß geltend macht, die Gutachterin habe bei ihrer zeitlichen Einordnung des Versicherungsfalls nicht
beachtet, dass ihr Untersuchungsbefund nicht von Unterlagen aus früheren Jahren abweiche, liegt kein grober Mangel des Gutachtens
vor. Denn anhand der von der Sachverständigen zitierten Unterlagen lässt sich durchaus eine Dynamik der gesundheitlichen Beeinträchtigungen
nachvollziehen. Dr. S. stellte am 18.3.2008 eine Hypästhesie am rechten Bein noch ohne wesentliche Bewegungseinschränkung
fest. Dr. M. referierte am 29.9.2009 Probleme des Klägers bei längerem Gehen und nahm unverändert eine "Einschränkung der
Arbeitsbelastung für mittelschwere und schwere Tätigkeiten" an. Der Hausarzt Dr. K. berichtete am 20.10.2011 über eine mäßige
Verschlechterung mit zuletzt stabilem Zustand bei Dauerdiagnosen. Bei der stationären Aufnahme im Hospital am 27.1.2012 wurde
von Kältegefühlen und ClaudicatioBeschwerden bereits nach ca 300 Metern berichtet. Nach der operativen Versorgung eines Geschwürs
der Bauchaorta im Februar wurde ein Eingriff in die Becken- und Beinarterien noch nicht für notwendig erachtet und ein Kontrolltermin
für September 2012 vorgesehen. Dr. L. attestierte demgegenüber eine rasche Verschlechterung. Bei ihrer Untersuchung am 30.5.2012
gab der Kläger an, dass er erstmals Anfang des Jahres Kältegefühl und Schmerzen in der rechten Wade beim Gehen in der Ebene
bemerkt habe. Nunmehr träten starke Schmerzen beidseits spätestens nach 200 Metern auf mit der Erforderlichkeit von Sitzpausen.
Außerdem gab er ein in den letzten Monaten wiederkehrendes neuartiges Schwindelgefühl an. Die Wertung der Gutachterin, dass
der Versicherungsfall erst im Januar 2012 eingetreten sei, steht damit nicht in Widerspruch zu der vorhandenen Dokumentation.
Dass sich die Gutachterin vor dem Hintergrund der Befundlage auf die Diagnosestellung als objektiven Nachweis des Leistungsfalls
bezieht, entspricht der Beweislastverteilung und gibt keinen Anlass, an der Sachkunde der Sachverständigen zu zweifeln.
c) Mit der Einschätzung, der Leistungsfall sei schon vor dem Januar 2012 eingetreten, gibt der Kläger im Kern seine eigene
Auffassung und Würdigung wieder. Dass er mit der Auswertung und Würdigung der vorliegenden Sachverständigengutachten und Befundberichte
nicht einverstanden ist, ist für das Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren aber unbeachtlich. Denn nach dem eindeutigen Wortlaut
des §
160 Abs
2 Nr
3 SGG kann ein Verfahrensmangel nicht auf eine Verletzung von §
128 Abs
1 S 1
SGG (Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung) gestützt werden.
d) Soweit der Kläger sinngemäß geltend macht, dass Zeiten im Versicherungsverlauf nicht aufgeklärt worden seien, ist schon
nicht ersichtlich, dass dies für das vorliegende Verfahren entscheidungserheblich hätte sein können. Der Antrag des Klägers
ist mit Schriftsatz vom 27.12.2012 ausdrücklich auf die Gewährung einer schon früher einsetzenden Rente wegen Erwerbsminderung
beschränkt worden. Fragen des Versicherungsverlaufs, die für die Rentenberechnung eine Rolle spielen können, sind insoweit
nicht von Bedeutung.
4. Da nach alledem die Bewilligung von PKH abzulehnen ist, entfällt zugleich die Beiordnung eines Rechtsanwalts durch das
Gericht (§
73a Abs
1 S 1
SGG iVm §
121 Abs
1 ZPO).