Zulässigkeit der Ablehnung eines Antrags auf nachträgliche Urteilsergänzung durch Beschluss im sozialgerichtlichen Verfahren
Gründe:
I
Mit Beschluss vom 21.12.2015 nach §
153 Abs
4 SGG hat das LSG Baden-Württemberg den Antrag des Klägers auf Ergänzung seines Berufungsurteils vom 21.10.2015 (L 5 KR 902/13; BSG vom 23.6.2015 - B 3 KR 65/15 B) abgelehnt, mit dem das LSG den Anspruch des Klägers auf Zahlung weiteren Krankengelds (Krg) über den 2.6.2010 hinaus, auch
im Zugunstenverfahren verneint hatte.
Das LSG hat die Ablehnung damit begründet, dass der Urteilsergänzungsantrag einen abtrennbaren Anspruch, über den das LSG
im Urteil vom 21.10.2015 zusätzlich hätte entscheiden müssen, nicht enthalte. Der Kläger habe mit seinem Berufungsantrag -
nach teilstattgebendem Urteil des SG - den Anspruch auf Bewilligung von Krg über den 8.11.2010 hinaus begehrt. Der Vortrag im Urteilsergänzungsverfahren sei nichts
anderes als die vom Kläger wiederholt geäußerte Ansicht, dass Krg ohne zeitliche Begrenzung als Dauerverwaltungsakt gewährt
werden müsse. Nach entgegenstehender Rechtsauffassung des BSG sei Krg aber abschnittsweise und nicht über die gesetzliche zeitliche Grenze hinaus zu bewilligen (stRspr, Hinweis auf BSG vom 16.12.2014 - B 1 KR 25/14 R - Juris). Eine vom LSG unbeabsichtigte Entscheidungslücke liege dem Berufungsurteil daher nicht zugrunde.
Gegen die Nichtzulassung der Revision im Beschluss des LSG Baden-Württemberg hat der Kläger Beschwerde beim BSG eingelegt. Er beruft sich auf Verfahrensfehler (§
160 Abs
2 Nr
3 SGG).
II
Die Nichtzulassungsbeschwerde ist unbegründet, soweit sie den Darlegungsanforderungen an die Bezeichnung eines Verfahrensmangels
genügt (§
160a Abs
2 Satz 3
SGG). Der angefochtene Beschluss des LSG beruht nicht auf einem Verfahrensmangel nach §
160 Abs
2 Nr
3 SGG.
Wird eine Nichtzulassungsbeschwerde darauf gestützt, dass ein Verfahrensmangel iS von §
160 Abs
2 Nr
3 SGG vorliegt, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann, müssen für die Bezeichnung des Verfahrensmangels (§
160a Abs
2 Satz 3
SGG) die den Verfahrensmangel (vermeintlich) begründenden Tatsachen substantiiert dargetan werden. Darüber hinaus ist die Darlegung
erforderlich, dass und warum die Entscheidung des LSG - ausgehend von dessen materieller Rechtsansicht - auf dem Mangel beruhen
kann, dass also die Möglichkeit einer Beeinflussung der Entscheidung besteht. Gemäß §
160 Abs
2 Nr
3 Halbsatz 2
SGG kann der geltend gemachte Verfahrensmangel allerdings nicht auf eine Verletzung der §§
109 und
128 Abs
1 Satz 1
SGG und auf eine Verletzung des §
103 SGG nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt
ist.
1. Nach §
140 Abs
1 Satz 1
SGG wird das Urteil auf Antrag nachträglich ergänzt, wenn es einen von einem Beteiligten erhobenen Anspruch ganz oder teilweise
übergangen hat. Über den Antrag wird nach §
140 Abs
2 Satz 1
SGG in einem gesonderten Verfahren entschieden. Grundvoraussetzung für eine Urteilsergänzung ist stets, dass das Gericht über
den Rechtsstreit in vollem Umfang entscheiden wollte, versehentlich aber nicht erschöpfend entschieden hat (vgl BSGE 9, 80, 83 = SozR Nr 17 zu §
55 SGG; BSG SozR 4-1500 § 160a Nr 4; BSG SozR 4-1500 § 140 Nr 2 RdNr 8; BSG SozR 3-1500 § 96 Nr 9 S 20 f mwN; vgl auch zur stRspr BVerwGE 95, 269 - Juris mwN). Ein solches Versehen des LSG liegt hier nicht vor.
Wenn der Kläger meint, das LSG habe versäumt, über den Krg-Bewilligungsbescheid vom 20.8.2009 - der ein nicht aufgehobener
Verwaltungsakt mit Dauerwirkung sei - und den Widerspruchsbescheid vom 26.8.2010 zu entscheiden (Beschwerdebegründung [BB]
S 3, 23 bis 27), stehen dieser Rüge schon die vom Kläger selbst wiedergegebenen Gründe (BB S 23 und S 50 ff) des angefochtenen
Beschlusses des LSG entgegen. Dort hat das LSG (S 8) unter Berücksichtigung der angegriffenen Bescheide zutreffend ausgeführt,
dass ein abtrennbarer Anspruch, über den es im Berufungsurteil vom 21.10.2015 hinaus hätte entscheiden müssen, nicht vorgelegen
hat. Der Kläger habe lediglich die von ihm als "Vorfrage" formulierte Ansicht zum Ausdruck gebracht, dass Krg unbefristet
bewilligt werde, nicht aber einen gesonderten Anspruch auf Gewährung von Krg. Eine unbeabsichtigte Entscheidungslücke liegt
daher nicht vor.
Wenn der Kläger im Übrigen meint, das Außerachtlassen des von ihm geltend gemachten Anspruchs (§
123 SGG) sei nicht versehentlich, sondern "aus schwerwiegenden Gründen" erfolgt (BB S 24 ff, 25) bzw sein Krg-Anspruch sei unter
Verstoß gegen das Willkürverbot (Art
3 Abs
1 GG) völlig übergangen worden (BB S 48), so sind dies Rügen, die Gegenstand der Nichtzulassungsbeschwerde gegen das Berufungsurteil
vom 21.10.2015 sind (vgl BSG Beschluss vom 23.6.2016 - B 3 KR 65/15 B).
2. Soweit der Kläger bemängelt, das Berufungsgericht hätte über seinen Antrag auf Urteilsergänzung gemäß §
140 SGG nur durch Urteil und nicht durch Beschluss nach §
153 Abs
4 SGG entscheiden dürfen, ergibt sich hieraus kein Verfahrensfehler. Grundsätzlich hat eine Entscheidung über einen Urteilsergänzungsantrag
gemäß §
140 Abs
2 Satz 2 Halbsatz 2
SGG durch Urteil zu erfolgen, unabhängig davon, ob der Antrag erfolgreich ist oder nicht. Nach §
140 Abs
3 SGG hat die mündliche Verhandlung nur den nicht erledigten Teil des Rechtsstreits zum Gegenstand.
Ausgehend von diesem Grundsatz besteht aber nach der Rechtsprechung des BSG gleichwohl die Möglichkeit, über den Urteilsergänzungsantrag durch Beschluss nach §
153 Abs
4 SGG zu entscheiden, wenn zuvor die Berufung durch urteilsersetzenden Beschluss gemäß §
153 Abs
4 SGG zurückgewiesen worden ist (so BSG Beschluss vom 9.10.2014 - B 13 R 157/14 B - Juris RdNr 5; vgl auch Pawlak in Hennig, Stand September 1996,
SGG, §
140 RdNr 32). Darüber hinausgehend ist das LSG an einer Entscheidung des Urteilsergänzungsantrags im Beschlusswege nach §
153 Abs
4 SGG auch dann nicht gehindert, wenn die zuvor ergangene Zurückweisung der Berufung durch Urteil ergangen ist (vgl Peters/Sautter/Wolff,
4. Aufl,
SGG, Stand 06/2015 §
140 RdNr 70; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
SGG, 11. Aufl 2014, §
140 RdNr 3a; Harks in Roos/Wahrendorf,
SGG, 2014, §
140 RdNr 11; enger hingegen: Bolay in Lüdtke (Hrsg),
SGG, 4. Aufl 2012, §
140 RdNr 8; Wolff-Dellen in Breitkreuz/Fichte (Hrsg), 2. Aufl 2014,
SGG, §
140 RdNr 19). Hält das LSG den Urteilsergänzungsantrag für unbegründet, weil es keinen prozessualen Anspruch im Berufungsverfahren
versehentlich übergangen hat und daher kein Teil des Rechtsstreits unerledigt geblieben ist, so schließt §
140 Abs
2 Satz 2 Halbsatz 2
SGG die Anwendung der Entlastungsvorschrift von §
153 Abs
4 Satz 1
SGG nicht aus. Nach dieser Vorschrift kann - außer in den Fällen des §
105 Abs
2 Satz 1
SGG - die Berufung nach Anhörung der Beteiligten durch Beschluss zurückgewiesen werden, wenn das LSG sie einstimmig für unbegründet
und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Dieser Rechtsgedanke kann auf einen unbegründeten Antrag auf nachträgliche
Ergänzung des Berufungsurteils übertragen und daher §
153 Abs
4 SGG entsprechend angewandt werden. Denn ein Beteiligter, dessen Berufung aufgrund mündlicher Verhandlung (§
124 Abs
1 SGG) bzw mit dessen Einverständnis ohne mündliche Verhandlung (§
124 Abs
2 SGG) zurückgewiesen worden ist, muss im Fall eines behaupteten, aber nicht übergangenen Klageanspruchs im Urteilsergänzungsverfahren
nicht besser gestellt werden als ein Beteiligter, dessen unbegründete Berufung einstimmig durch Beschluss zurückgewiesen wurde.
Dafür spricht auch, dass nach §
140 Abs
3 SGG die mündliche Verhandlung nur den nicht erledigten Teil des Rechtsstreits zum Gegenstand hat. Jedenfalls wenn der Antrag
auf Urteilsergänzung einstimmig abgelehnt wird, weil kein Klageanspruch übergangen wurde, bedarf es danach keiner mündlichen
Verhandlung. Ansonsten könnte ein Beteiligter allein aufgrund der Behauptung eines Urteilsergänzungsanspruchs eine Entscheidung
aufgrund (erneuter) mündlicher Verhandlung (§
140 Abs
3 SGG) im Urteilsergänzungsverfahren erreichen. Dies aber stünde der mit Einführung von §
153 Abs
4 SGG beabsichtigten Entlastung der Rechtspflege (vgl Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
SGG, 11. Aufl 2014, §
153 RdNr 4, 13) durch Entscheidungen im schriftlichen Verfahren nur durch die Berufsrichter in Fällen einstimmig unbegründeter
Berufungen entgegen. Darin liegt weder ein Verstoß gegen den Grundsatz der Mündlichkeit (§
124 Abs
1 SGG) noch liegt eine fehlerhafte Besetzung des Gerichts vor (§
202 SGG iVm §
547 Nr 1
ZPO).
3. Wenn der Kläger meint, das LSG habe ermessensfehlerhaft nach §
153 Abs
4 SGG entschieden, liegt kein Verfahrensmangel vor. Die Entscheidung, die Berufung ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss gemäß
§
153 Abs
4 S 1
SGG zurückzuweisen, steht im pflichtgemäßen Ermessen des Berufungsgerichts und kann nur auf fehlerhaften Gebrauch, dh sachfremde
Erwägungen und grobe Fehleinschätzungen überprüft werden (stRspr vgl BSG SozR 3-1500 § 153 Nr 13 S 38; BSG SozR 4-1500 § 153 Nr 7 RdNr 27). Für die Ablehnung des Urteilsergänzungsantrags gilt dieser Maßstab entsprechend. Für die Behauptung des Klägers
(BB S 42), dass die Entscheidung nach §
153 Abs
4 SGG auf einem Ermessensfehlgebrauch beruhe, liegen keine Anhaltspunkte vor. Hierfür ist es nicht ausreichend, dem Rechtsstreit
eine besondere Bedeutung zuzuschreiben, weil ein "immer noch fortbestehender Irrtum offenbar aller drei Berufsrichter des
Senats über die prozessualen Streitgegenstände" bestanden habe (BB S 32). Schon nach den vom Kläger mitgeteilten Gründen des
angefochtenen Beschlusses (BB S 50 ff) hat das LSG nicht nur ausführlich die Verfahrensweise der Entscheidung des Urteilsergänzungsantrags
erläutert, sondern sich erneut mit dem Vortrag zum vermeintlich übergangenen Klageanspruch auseinandergesetzt und eine Entscheidungslücke
zutreffend verneint.
4. Sofern der Kläger eine unzureichende Anhörung gemäß §
153 Abs
4 Satz 2
SGG rügt, liegt kein Verfahrensmangel vor. Dass die Anhörung den gesetzlichen Anforderungen von §
153 Abs
4 Satz 2
SGG entsprach, belegt das vom Kläger mitgeteilte Anhörungsschreiben des LSG (BB S 33). Aus seiner Stellungnahme zum Anhörungsschreiben
vom 30.11.2015 (BB S 34 ff) ergeben sich keine Anhaltspunkte dafür, dass eine neue wesentlich geänderte, entscheidungserhebliche
Prozesssituation eingetreten wäre, die eine erneute Anhörung notwendig gemacht hätte (vgl dazu BSG SozR 4-1500 § 153 Nr 11 RdNr 13). Es ist nicht ersichtlich, dass das LSG seine gegenüber den Beteiligten in einem entscheidungserheblichen
Punkt geäußerte Rechtsauffassung geändert hätte (vgl auch BSG SozR 4-1500 § 153 Nr 11 RdNr 14 mwN). Daher liegt entgegen der Ansicht des Klägers (BB S 43) in der Entscheidung durch Beschluss ohne Beteiligung
der ehrenamtlichen Richter weder eine Verletzung der vorschriftsmäßigen Besetzung der Richterbank und des gesetzlichen Richters
(Art
101 Abs
1 Satz 2
GG) noch ein absoluter Revisionsgrund gemäß §
202 SGG iVm §
547 Nr 1
ZPO.
5. Soweit der Kläger eine Verletzung seines rechtlichen Gehörs (Art
103 Abs
1 GG, §
62 SGG) rügt, liegt kein Verfahrensmangel vor. Hierzu trägt er vor, das LSG habe seinen im Urteilsergänzungsverfahren gestellten
Antrag und sein darauf bezogenes Vorbringen vollständig übergangen (BB S 43). Das LSG habe es unterlassen, diesen Streitstoff
überhaupt zur Kenntnis zu nehmen (BB S 44). Hätte das LSG sein Vorbringen berücksichtigt, wäre das LSG zu dem Ergebnis gekommen,
dass der Krg-Bewilligungsbescheid ein unbefristet bewilligender Verwaltungsakt mit Dauerwirkung sei, der nur nach Anhörung
und unter den Voraussetzungen des § 48 SGB X aufzuheben sei. Zugleich lägen hierin Verstöße gegen das Gebot des effektiven Rechtsschutzes (Art
19 Abs
4 GG), des Rechtsstaatsprinzips und des Rechts auf ein faires Verfahren (Art
19 Abs
4, Art
2 Abs
1 iVm Art
20 Abs
3 GG).
Der Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs umfasst, dass Gerichte das von ihnen entgegengenommene Vorbringen der Beteiligten
zur Kenntnis nehmen und in ihre Erwägungen einbeziehen (stRspr, vgl nur BVerfGE 47, 182; BSG SozR 1500 § 62 Nr 13 S 12). Dass das LSG den Vortrag des Klägers in diesem Sinne hinlänglich berücksichtigt hat, ergibt sich aus den Gründen
des angefochtenen Beschlusses. Dort hat das LSG nicht nur über den Urteilsergänzungsantrag (BB S 43) entschieden, sondern
hat sich erneut ausführlich mit der Ansicht und Argumentation des Klägers zum Vorliegen eines Dauerverwaltungsakts und dessen
Aufhebung auseinandergesetzt (BB S 49 ff). Eine Verletzung von Prozessgrundrechten ergibt sich hieraus nicht.
6. Wenn der Kläger meint, dem angefochtenen Beschluss mangele es an hinreichenden Entscheidungsgründen, liegt kein Verfahrensfehler
vor. Der Kläger übersieht, dass einer Entscheidung nicht schon dann die Gründe iS des §
128 Abs
1 Satz 2 iVm §
136 Abs
1 Nr
6 SGG fehlen, wenn das Gericht sich unter Beschränkung auf den Gegenstand der Entscheidung kurz fasst und nicht jeden Gesichtspunkt,
der erwähnt werden könnte, behandelt hat (stRspr BSGE 76, 233, 234 = SozR 3-1750 § 945 Nr 1 S 3; BSG Beschluss vom 18.12.2012 - B 13 R 305/11 B - Juris RdNr 7). Das Gericht muss nicht zu jedem Beteiligtenvorbringen Stellung nehmen, wenn es offensichtlich unerheblich
ist oder sich aus dem Urteil zweifelsfrei ergibt, dass das Gericht das Vorbringen auch ohne ausdrückliche Erwähnung für unerheblich
gehalten hat (vgl Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
SGG, 11. Aufl 2014, §
136 RdNr 7a). Dass die angefochtene Entscheidung mit ausreichenden Gründen in diesem Sinne versehen war, ergibt sich auch aus
den Darlegungen des Klägers (BB S 49 ff), der die maßgeblichen Gründe der Entscheidung des LSG mitgeteilt hat.
7. Schließlich liegt auch kein Verfahrensmangel wegen der Verletzung des allgemeinen Gleichheitssatzes und des Willkürverbots
(Art
3 Abs
1 GG) vor. Auch insofern fokussiert der Kläger seinen Vortrag zum wiederholten Mal darauf, dass das LSG seiner Rechtsansicht zur
verfahrensrechtlichen Behandlung der Krg-Bewilligung bzw -einstellung nicht gefolgt ist. Anhaltspunkte für eine willkürliche
Behandlung des Klägers im Urteilsergänzungsverfahren liegen nicht vor.
8. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des §
193 SGG.