Überprüfung berufungsgerichtlicher Auslegungen durch das Revisionsgericht, Verordnungen im Rahmen von Sprechstundenbedarf
Gründe:
I. Die klagende Gemeinschaftspraxis, die schwerpunktmäßig reproduktionsmedizinisch tätig ist, wendet sich gegen einen Arzneikostenregress
für das Quartal IV/1998 wegen unzulässiger Sprechstundenbedarfsverordnungen in Höhe von ca 61.400 EUR.
Zwischen den Beteiligten war umstritten, ob die im Rahmen der reproduktionsmedizinischen Behandlung erforderlichen "Progesteron-Vaginal-Kapseln"
über den Sprechstundenbedarf verordnet werden dürfen. Obwohl diese Kapseln in der seit dem 1. Juli 1995 geltenden Sprechstundenbedarfs-Vereinbarung
(SSB-Vereinbarung) nicht in der Liste der verordnungsfähigen Mittel aufgeführt worden waren, verordnete die Klägerin entsprechend
einer zwischen ihr und den Krankenkassen getroffenen Vereinbarung die entsprechenden Präparate über den Sprechstundenbedarf
und bezog sie von einer bestimmten Apotheke in E..
Nachdem die zu 2. beigeladene Kassenärztliche Vereinigung (KÄV) in ihrem Mitteilungsblatt "KV Nordrhein aktuell" (Ausgabe
5/1997) unter Hinweis auf eine Neufassung der SSB-Vereinbarung darauf hingewiesen hatte, dass künftig abweichende Vereinbarungen
über die Verordnung von Sprechstundenbedarf nicht mehr zulässig seien, forderte die zu 1. beigeladene Krankenkasse, die für
die Abrechnung von Sprechstundenbedarf im Bezirk der Beigeladenen zu 2. zuständig ist, die Klägerin mit Schreiben vom 7. September
1998 auf, sich an die Sprechstundenbedarfsvereinbarung zu halten. Im Falle einer Fortsetzung der bisherigen Verordnungspraxis
sei mit Regressfestsetzungen zu rechnen.
Die Klägerin beachtete diesen Hinweis nicht und verordnete auch für das Quartal IV/1998 Progesteron-Vaginal-Kapseln als Sprechstundenbedarf.
Dem daraufhin von der Beigeladenen zu 1. gestellten Regressantrag gaben die Prüfgremien statt und setzten einen Regress in
Höhe von 120.080,-- DM (61.395,93 EUR) wegen der Verordnung von Mitteln fest, die nicht als Sprechstundenbedarf hätten verordnet
werden dürfen.
Widerspruch zum beklagten Beschwerdeausschuss, Klage und Berufung sind erfolglos geblieben. Das Landessozialgericht (LSG)
hat ausgeführt, die Progesteron-Vaginal-Kapseln hätten nicht über den Sprechstundenbedarf verordnet werden dürfen. Die SSB-Vereinbarung
folge dem Enumerativprinzip, was zur Folge habe, dass Präparate oder Stoffe, die dort nicht ausdrücklich aufgeführt seien,
nicht über den Sprechstundenbedarf, sondern nur einzelfallbezogen verordnet werden dürften. Auf Vertrauensschutz könne die
Klägerin sich nicht berufen, weil ihr durch die Information der beigeladenen KÄV deren Standpunkt bekannt gewesen und sie
im Übrigen von der zuständigen Krankenkasse ausdrücklich aufgefordert worden sei, ihre Verordnungspraxis umzustellen. Soweit
die Klägerin einwende, die Krankenkassen hätten die Kosten für die Verordnung von Progesteron-Vaginal-Kapseln unabhängig von
der Verordnung über den Sprechstundenbedarf tragen müssen, könne damit ein Schadensersatzanspruch, wie ihn der Regress wegen
unzulässiger SSB-Verordnungen darstelle, nicht in Frage gestellt werden (Urteil vom 21. Dezember 2005).
Mit ihrer Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision macht die Klägerin einen Verfahrensmangel geltend (Zulassungsgrund
gemäß §
160 Abs
2 Nr
3 Sozialgerichtsgesetz [SGG]) und beruft sich auf die grundsätzliche Bedeutung der zu entscheidenden Rechtsfragen (Zulassungsgrund gemäß §
160 Abs
2 Nr
1 SGG).
II. Die Beschwerde ist nicht begründet.
Zunächst rügt die Klägerin als verfahrensfehlerhaft, das LSG habe in den Entscheidungsgründen eine Erklärung ihres Bevollmächtigten
entgegen dem Protokoll nicht richtig wiedergegeben und eine Erklärung des Bevollmächtigten der beigeladenen Krankenkasse augenscheinlich
ihr - der Klägerin - zugeordnet. Dieser Vorwurf ist nicht gerechtfertigt. Insbesondere setzt sich das LSG auf Seite 7 am Ende
des ersten Abschnitts der Urteilsausfertigung durch die Berufung auf "ihren (gemeint: der Klägerin) Vortrag in der mündlichen
Verhandlung" nicht in Widerspruch zum Wortlaut des Protokolls der Sitzung vom 21. Dezember 2005. In der Sitzungsniederschrift
werden ua Erklärungen des Vertreters der zu 1. beigeladenen Krankenkasse und Erklärungen des Bevollmächtigten der Klägerin
wiedergegeben. Die Erklärungen, die der Bevollmächtigte der Klägerin ausweislich der Niederschrift abgegeben hat, beziehen
sich nicht auf die auf Seite 7 des Urteils wiedergegebene Wendung, die Klägerin habe die Kapseln "schon seit Quartalsbeginn
laufend als SSB bezogen und diese dann am Quartalsende verordnet". Die wiedergegebene Erklärung des Bevollmächtigten der Klägerin
in der Niederschrift bezieht sich nur auf die Verordnungspraxis der Gemeinschaftspraxis ab dem 1. Januar 1999. Bei der im
Urteil sinngemäß wiedergegebenen Darstellung der Klägerin zur Verordnung von SSB im Quartal IV/1998 handelt es sich ersichtlich
um Äußerungen, die das Berufungsgericht dem Rechtsgespräch in der mündlichen Verhandlung entnommen und nicht ausdrücklich
protokolliert hat. Im Übrigen kann sich ein eventuelles Missverständnis des Berufungsgerichts hinsichtlich der Unterscheidung
des "Bezugs" von Sprechstundenbedarf und dem Zeitpunkt der "Verordnung" von Sprechstundenbedarf im Laufe bzw am Ende des Quartals
IV/1998 nicht auf das Urteil ausgewirkt haben. Insofern würde die Entscheidung nicht auf einem - unterstellten - Verfahrensmangel
iS des §
160 Abs
2 Nr
3 SGG beruhen.
Soweit die Klägerin geltend macht, es sei von grundsätzlicher Bedeutung, ob die SSB-Vereinbarung für den Bezirk der zu 2.
beigeladenen KÄV Nordrhein analogiefähig sei oder nicht, fehlt es an der Klärungsbedürftigkeit. In seinem Urteil vom 20. Oktober
2004 (BSG SozR 4-2500 § 106 Nr 6 RdNr 13) hat der Senat ausgeführt, dass die Auslegung von SSB-Vereinbarungen durch das LSG
der Überprüfung durch das Revisionsgericht nach §
162 SGG entzogen ist. Er hat weiter dargelegt, dass vieles darauf hinweise, dass die damals zu beurteilende SSB-Vereinbarung funktions-
und wirkungsbezogene Analogien habe ausschließen wollen, um Unklarheiten und Streitigkeiten im Anschluss an die Verordnungen
zu vermeiden. Soweit der Senat die Frage der generellen Analogiefeindlichkeit von SSB-Vereinbarungen im angeführten Urteil
vom 20. Oktober 2004 nicht abschließend entschieden hat, beruht das darauf, dass bei Auslegung und Anwendung der nach §
162 SGG nicht revisiblen SSB-Vereinbarungen angesichts der Vielzahl von verordnungsfähigen und nicht verordnungsfähigen Materialien
nicht schlechthin ausgeschlossen werden kann, dass in einem besonders gelagerten Einzelfall ggf eine Stoff- oder Präparatebezeichnung
in einer SSB-Vereinbarung analog angewandt werden darf. Ob und ggf unter welchen engen Voraussetzungen eine solche analoge
Anwendung in Betracht kommt, entzieht sich einer generellen Festlegung. Soweit das Berufungsgericht im Hinblick auf die hier
betroffenen Vaginal-Kapseln Ziff IV 7 Buchst d der SSB-Vereinbarung dahin ausgelegt hat, dass diese Kapseln nicht "Mittel
der Geburtshilfe" sind, ist das der Nachprüfung durch den Senat entzogen und lässt im Übrigen einen Verstoß gegen revisible
Auslegungsgrundsätze oder Bundesrecht nicht erkennen.
Auch die von der Klägerin aufgeworfenen Fragen des Vertrauensschutzes bzw der Auslauffrist zur Fortsetzung einer schon immer
mit der geltenden SSB-Vereinbarung in Widerspruch stehenden Verordnungspraxis haben keine über den Einzelfall hinausgehende
Bedeutung. Insbesondere bedarf es in diesem Verfahren keiner Entscheidung, ob Mitteilungen der zu 2. beigeladenen KÄV in dem
Mitteilungsblatt "KV Nordrhein aktuell" Veröffentlichungen im amtlichen Mitteilungsblatt der KÄV Nordrhein "Rheinisches Ärzteblatt"
gleichstehen. Das Berufungsgericht hat aus der Zusammenschau der Veröffentlichung des entsprechenden Hinweises im Mitteilungsblatt
"KV Nordrhein aktuell" im Jahre 1997 und eines Schreibens der beigeladenen Krankenkasse vom 7. September 1998 unter Verwertung
der Antwort der Klägerin auf dieses Schreiben vom 30. Oktober 1998 abgeleitet, dass die Klägerin zu Beginn des Quartals IV/1998
hinreichend deutlich gewusst hat, dass die Träger der vertragsärztlichen Versorgung die Verordnung der Vaginal-Kapseln als
Sprechstundenbedarf ab dem Quartal IV/1998 nicht mehr dulden würden. Die Richtigkeit dieser Beurteilung ist der Nachprüfung
durch das Revisionsgericht entzogen.
Schließlich verleiht auch die Auffassung der Klägerin, der Regressbetrag sei zu verringern, weil die Krankenkassen der behandelten
Patientinnen Aufwendungen erspart hätten, die sie im Falle der Einzelverordnung der Vaginal-Kapseln gehabt hätten, dem Rechtsstreit
keine grundsätzliche Bedeutung. In der Rechtsprechung des Senats zu SSB-Regressen ist seit Jahrzehnten geklärt, dass es dem
Vertragsarzt nicht freisteht, Materialien oder Arzneimittel, die nach den einschlägigen Regelungen der SSB-Vereinbarungen
patientenbezogen verordnet werden müssen, über Sprechstundenbedarf zu verordnen. Bereits in dem vom Berufungsgericht zutreffend
herangezogenen Urteil vom 8. Mai 1985 (BSG SozR 2200 § 368n Nr 36 S 117) hat der Senat ausgeführt, dass der Vertragsarzt nicht
nach eigenem Belieben Verordnungen über den Sprechstundenbedarf ausstellen darf, die nach den maßgeblichen rechtlichen Vorschriften
den einzelnen Patienten hätten zugeordnet werden dürfen. Daran hat sich seitdem nichts geändert. Es bedarf keiner erneuten
Durchführung eines Revisionsverfahrens, um entscheiden zu können, dass Ärzte, die entgegen einer ihnen bekannten Beurteilung
der für den Sprechstundenbedarf zuständigen Krankenkasse bestimmte Präparate gleichwohl als Sprechstundenbedarf verordnen,
sich nicht darauf berufen könnten, die einzelnen Krankenkassen hätten für die entsprechenden Verordnungskosten aufkommen müssen.
Neben den im Urteil vom 8. Mai 1985 angeführten Gesichtspunkten sprechen auch die durch das Gesundheitsstrukturgesetz eingeführten
wettbewerblichen Elemente im Verhältnis der Krankenkassen untereinander (ua Kassenwahlrecht der Versicherten, Kündigungsrecht
bei Beitragssatzerhöhungen) gegen eine beliebige Austauschbarkeit von Einzelverordnungen und Verordnungen über den Sprechstundenbedarf.
Die Kosten des Sprechstundenbedarfs, den alle Vertragsärzte im Bezirk jeder KÄV zu Lasten einer einzigen, gesamtvertraglich
bestimmten Krankenkasse ohne Bezug zu den einzelnen Patienten verordnen, werden nach einem bestimmten Schlüssel von allen
Krankenkassen getragen. Die patientenbezogenen Verordnungskosten fallen dagegen bei derjenigen Krankenkasse an, bei der der
jeweilige Patient versichert ist (vgl zuletzt BSG SozR 4-2500 § 106 Nr 7 RdNr 12). Ärzte, die durch ihr Verordnungsverhalten
diese rechtlich vorgegebene Zuordnung vereiteln bzw stören, können sich nicht darauf berufen, insgesamt den Krankenkassen
keinen Mehraufwand verursacht bzw Mehrausgaben erspart zu haben. Das hat der Senat im Urteil vom 20. Oktober 2004 im Zusammenhang
mit der fehlerhaften Zuordnung von Sprechstundenbedarf zu einer Primär- und einer Ersatzkasse bekräftigt (SozR aaO RdNr 14).
Der erneuten Durchführung eines Revisionsverfahrens zur Klärung der damit verbundenen Rechtsfragen bedarf es deshalb nicht.