Anspruch auf unentgeltliche Beförderung im öffentlichen Personennahverkehr im Schwerbehindertenrecht; Zulässigkeit einer Eigenbeteiligung
beim Bezug eines monatlichen Taschengeldes im Maßregelvollzug
Gründe:
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob das beklagte Land an den Kläger eine kostenlose Wertmarke zur unentgeltlichen Beförderung
im öffentlichen Personenverkehr auszugeben hat.
Bei dem 1966 geborenen Kläger sind aufgrund körperlicher und seelischer Beeinträchtigungen ein Grad der Behinderung (GdB)
von 100 sowie die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Merkzeichen "G" und "B" festgestellt. Seinen laufenden Lebensunterhalt
bestritt er bis 2006 mit Leistungen der Sozialhilfe bzw Grundsicherungsleistungen.
Seit April 2006 ist der Kläger aufgrund eines Strafurteils des Landgerichts (LG) Hannover vom 9.1.2006 in einem psychiatrischen
Krankenhaus untergebracht. Er erhält gemäß § 11 Niedersächsisches Maßregelvollzugsgesetz (Nds MVollzG) ein monatliches Taschengeld,
das nach den Grundsätzen und Maßstäben bemessen ist, die für den Barbetrag nach § 35 Abs 2 SGB XII in der bis zum 31.12.2010 geltenden Fassung (aF) des Gesetzes vom 27.12.2003 (BGBl I 3022), geändert durch Gesetz vom 2.12.2006
(BGBl I 2670; siehe jetzt § 27b Abs 2 SGB XII idF des Gesetzes vom 24.3.2011, BGBl I 453) gelten.
Nachdem ihm Besuchsausgang bewilligt worden war, beantragte der Kläger im Dezember 2007 bei dem Beklagten die Ausstellung
eines Beiblatts mit kostenloser Wertmarke zur unentgeltlichen Beförderung im öffentlichen Personenverkehr. Dieser Antrag wurde
mit der Begründung abgelehnt, dass der Kläger zu keiner der in §
145 Abs
1 Satz 5
SGB IX aufgezählten Personengruppen gehöre; denn er beziehe keine der dort aufgeführten Sozialleistungen (Bescheid vom 13.3.2008;
Widerspruchsbescheid vom 6.5.2008).
Auf die hiergegen erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG) Hannover den Beklagten unter Aufhebung der angefochtenen Entscheidung verurteilt, dem Kläger eine unentgeltliche Wertmarke
für ein Jahr auszugeben (Urteil vom 29.1.2009).
Die vom SG zugelassene Berufung des Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen durch Urteil vom 22.4.2010 zurückgewiesen
und seine Entscheidung maßgeblich auf eine analoge Anwendung des §
145 Abs
1 Satz 5 Nr
2 SGB IX gestützt. Zwar handele es sich ua aus fiskalischen Gründen um eine abschließende Regelung, in der die begünstigten Personenkreise
eindeutig benannt seien. Eine analoge Anwendung der Norm sei aber nach Sinn und Zweck der Regelung über die Berechtigung Schwerbehinderter
zur Freifahrt im öffentlichen Personenverkehr im Allgemeinen und der Kostenbefreiung einkommensschwacher Behinderter im Besonderen
sowie aus verfassungsrechtlichen Gründen (Art
3 Abs
1 GG) geboten. Denn es bestehe bei denjenigen Schwerbehinderten, die gemäß § 11 Nds MVollzG ein Taschengeld nach den Grundsätzen und Maßstäben erhalten, die für den Barbetrag nach § 35 Abs 2 SGB XII aF gelten, eine Regelungslücke in §
145 Abs
1 Satz 5 Nr
2 SGB IX. Die Interessenlage eines schwerbehinderten Empfängers von Leistungen nach dem Dritten und Vierten Kapitel des SGB XII und eines schwerbehinderten Empfängers von Taschengeld gemäß § 11 Nds MVollzG sei im Wesentlichen die gleiche, soweit letzterer - wie der Kläger - ausgangsberechtigt sei. Insbesondere seien
beide Personengruppen in gleicher Weise auf die finanzielle Hilfe der öffentlichen Hand angewiesen, da § 11 Nds MVollzG nach
den Gesetzesmaterialien des Landesgesetzgebers einen Rechtsgrundverweis enthalte und sich damit die Bedürftigkeitsprüfung
nach den Vorschriften des SGB XII richte. Soweit bedürftig befänden sich in einer Einrichtung iS des § 35 SGB XII lebende und im Maßregelvollzug untergebrachte Schwerbehinderte in exakt der gleichen wirtschaftlichen Lage. Beide Personengruppen
hätten auch das gleiche Interesse an der Sicherstellung ihrer Mobilität und Integration in die Gesellschaft. Insoweit sei
eine Ungleichbehandlung dieser Personen sachlich nicht gerechtfertigt und aufgrund der Überschreitung der Grenze der Willkür
nicht mit der Verfassung (Art
3 Abs
1 GG) zu vereinbaren.
Gegen diese Entscheidung hat der Beklagte die vom LSG zugelassene Revision eingelegt.
Er rügt die Verletzung materiellen Rechts und macht geltend, das LSG habe §
145 Abs
1 Satz 5 Nr
2 SGB IX zu Unrecht analog auf den ein Taschengeld gemäß §
11 Nds MVollzG beziehenden Kläger angewandt. Weder entspreche eine solche Gesetzesanwendung dem Sinn der Vorschrift noch bestehe
eine Regelungslücke, die im Wege der Analogie geschlossen werden dürfe. Die Vorschrift sei abschließend und ihrem Wortlaut
nach eindeutig. §
145 Abs
1 Satz 5 Nr
2 SGB IX privilegiere eine ganz konkrete Gruppe von Menschen, die bestimmte und abschließend genannte unterhaltssichernde Leistungen
beziehen. Dies ergebe sich aus den Gesetzesmaterialien und aus der Entstehungsgeschichte der Norm. Zu diesem Personenkreis
gehöre der Kläger gerade nicht. Die damit einhergehende Ungleichbehandlung sei nicht willkürlich und verstoße nicht gegen
die Verfassung (Art
3 Abs
1 GG), weil sie wegen erheblicher Unterschiede zwischen bedürftigen Menschen mit Behinderung und Schwerbehinderten, die im Anschluss
an Straftaten im Maßregelvollzug untergebracht seien, sachlich gerechtfertigt sei. Die durch eine Behinderung begründeten
Teilhaberechte am Leben in der Gesellschaft und am Arbeitsleben seien nicht vergleichbar mit dem Resozialisierungsanspruch
von Strafgefangenen oder dem Integrationsanspruch von Menschen im Maßregelvollzug.
Der Beklagte beantragt sinngemäß,
die Urteile des LSG Niedersachsen-Bremen vom 22.4.2010 und des SG Hannover vom 29.1.2009 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§
124 Abs
2 SGG).
II
Die zulässige Revision des Beklagten ist begründet.
1. Die Urteile des LSG Niedersachsen-Bremen vom 22.4.2010 und des SG Hannover vom 29.1.2009 sind aufzuheben. Entgegen der
Auffassung der Vorinstanzen ist die Klage ist abzuweisen. Der Kläger hat gegen den Beklagten gemäß §
145 Abs
1 Satz 5 Nr
2 SGB IX keinen Anspruch auf Ausgabe einer kostenlosen Wertmarke zur unentgeltlichen Beförderung im Personenverkehr für ein Jahr.
2. Rechtsgrundlage für die unentgeltliche Ausgabe der Wertmarke ist hier §
145 Abs
1 Satz 1 bis
3 und
5 Nr
2 SGB IX idF vom 22.12.2008 (BGBl I 2959; die Änderung des §
145 SGB IX durch Gesetz vom 30.7.2009, BGBl I 2495, betrifft Abs 2 der Norm und ist hier unbeachtlich). Maßgeblicher Zeitpunkt für die
Beurteilung der Sach- und Rechtslage bei der auf die Zukunft gerichteten Leistungsklage ist insoweit der Zeitpunkt der letzten
mündlichen Verhandlung (allgM, vgl Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
SGG, 9. Aufl 2008, §
54 RdNr 34 mwN). Nach den genannten Regelungen werden schwerbehinderte Menschen, die infolge ihrer Behinderung in ihrer Bewegungsfähigkeit
im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt oder hilflos oder gehörlos sind, von Unternehmen, die öffentlichen Personenverkehr
betreiben, gegen Vorzeigen eines entsprechend gekennzeichneten Ausweises nach §
69 Abs
5 SGB IX im Nahverkehr unentgeltlich befördert. Voraussetzung ist, dass der Ausweis mit einer gültigen Wertmarke versehen ist. Sie
wird gegen Entrichtung eines Betrages von 60 Euro für ein Jahr oder 30 Euro für ein halbes Jahr ausgegeben. Auf Antrag wird
eine für ein Jahr gültige Wertmarke, ohne dass der Betrag nach §
145 Abs
1 Satz 3
SGB IX zu entrichten ist, ua an schwerbehinderte Menschen ausgegeben, die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem
SGB II oder für den Lebensunterhalt laufende Leistungen nach dem Dritten und Vierten Kapitel des SGB XII, dem SGB VIII oder den §§ 27a und 27d Bundesversorgungsgesetz (BVG) erhalten.
Nach diesen gesetzlichen Vorgaben besteht kein Anspruch des Klägers auf Ausgabe einer kostenlosen Wertmarke. Er gehört zwar
zum Kreis der berechtigten Personen iS des §
145 Abs
1 Satz 1
SGB IX, denn der Beklagte hatte ihm das Merkzeichen "G" erteilt. Der Kläger wird jedoch nicht von der Vergünstigung des §
145 Abs
1 Satz 5 Nr
2 SGB IX erfasst. Die dem Kläger gewährten Leistungen nach §
11 Nds MVollzG fallen insbesondere nicht unter den Begriff "für den Lebensunterhalt laufende Leistungen nach dem Dritten und
Vierten Kapitel des Zwölften Buches" iS des §
145 Abs
1 Satz 5 Nr
2 Alt 2
SGB IX. Dafür sind folgende Erwägungen maßgebend:
a) Um die Bedeutung einer Gesetzesvorschrift zu ermitteln, kommen zunächst die herkömmlichen Auslegungsmethoden zur Anwendung.
Danach ist auf den Wortlaut der Norm (grammatische Auslegung), ihren Zusammenhang (systematische Auslegung), ihren Zweck (teleologische
Auslegung) sowie die Gesetzesmaterialien und die Entstehungsgeschichte (historische Auslegung) abzustellen (vgl aus der Rechtsprechung
des Bundesverfassungsgerichts [BVerfG]: BVerfGE 11, 126, 130; 82, 6, 11; 93, 37, 81; 105, 135, 157; dazu auch Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl 1995,
S 141 ff; 163 ff). Dabei sind die konkret einschlägigen verfassungsrechtlichen Vorgaben zu berücksichtigen. Ist von mehreren
möglichen Auslegungen nur eine mit dem
GG vereinbar, muss diese gewählt werden (verfassungskonforme Auslegung; vgl etwa BVerfGE 88, 145, 166 f; 93, 37, 81; dazu auch Larenz/Canaris, aaO, S 159 ff). Die Grenzen jeder Auslegung ergeben sich daraus, dass einem
nach Wortlaut und Sinn eindeutigen Gesetz nicht durch Auslegung eine entgegengesetzte Bedeutung verliehen werden darf (vgl
BVerfGE 54, 277, 299 f; 59, 330, 334; 93, 37, 81; dazu auch Larenz/Canaris, aaO, S 143).
b) Das BSG hat bereits zu den Vorgängervorschriften des §
145 Abs
1 Satz 5
SGB IX entschieden, dass der Gesetzgeber nur einem bestimmten Personenkreis, der nach der damaligen Rechtslage eindeutig benannt
war, den kostenlosen Erwerb der zur Freifahrt berechtigenden Wertmarke zubilligen wollte (vgl BSG Urteil vom 8.10.1987 - 9a RVs 6/87 - SozR 3870 § 57 Nr 1 [zu § 57 Abs 1 Satz 4 SchwbG idF vom 22.12.1983, BGBl I 1532]; BSG Urteil vom 13.12.1994 - 9 RVs 7/93 - RdLH 1996 Nr 1, 35 [zu § 59 Abs 1 Satz 5 Nr 2 SchwbG idF vom 18.7.1985, BGBl I 1516]), und an dieser Rechtsprechung auch seit Inkrafttreten des
SGB IX festgehalten (BSG Urteil vom 17.7.2008 - B 9/9a SB 11/06 R - SozR 4-3250 §
145 Nr
1 [zu §
145 Abs
1 Satz 5 Nr
2 SGB IX idF vom 21.3.2005, BGBl I 818, und idF vom 2.12.2006, BGBl I 2742]). Danach besteht keine Veranlassung für eine den Wortlaut
des §
145 Abs
1 Satz 5 Nr
2 Alt 2
SGB IX erweiternde Auslegung, die zu einer Erstreckung auf Personen führt, die nicht Bezieher laufender Leistungen zum Lebensunterhalt
nach dem SGB XII sind. Denn die Mobilitätsförderung von schwerbehinderten Menschen nach §
145 Abs
1 Satz 1
SGB IX wird durch den zu leistenden Eigenanteil nur moderat relativiert. Die kostenlose Ausgabe der Wertmarke stellt systematisch
eine Ausnahme von der Pflicht zur Entrichtung des Eigenanteils dar. Die Regelung ist abschließend (BSG Urteil vom 17.7.2008 - B 9/9a SB 11/06 R - SozR 4-3250 §
145 Nr 1 RdNr 27-29; vgl auch Vogl in jurisPK-
SGB IX, 1. Aufl 2010, §
145 RdNr 47).
c) Hieran anknüpfend hält der Senat - innerhalb der Wortlautgrenze - eine weite Auslegung des Begriffs "für den Lebensunterhalt
laufende Leistungen nach dem Dritten und Vierten Kapitel des Zwölften Buches" iS des §
145 Abs
1 Satz 5 Nr
2 SGB IX für richtig. Von diesem Begriff sind nicht nur Leistungen umfasst, die ihren Rechtsgrund allein im SGB XII haben, sondern auch für den Lebensunterhalt laufende Leistungen, die in entsprechender Anwendung des Dritten und Vierten
Kapitels des SGB XII an Personen erbracht werden, die Sozialhilfeempfängern im Wesentlichen gleichstehen.
Einem weiten Verständnis des Begriffs "für den Lebensunterhalt laufende Leistungen nach dem Dritten und Vierten Kapitel des
Zwölften Buches" iS des §
145 Abs
1 Satz 5 Nr
2 Alt 2
SGB IX steht nicht entgegen, dass es sich bei dieser Norm gegenüber dem Regelfall der Freifahrtberechtigung unter Zahlung einer
Eigenbeteiligung nach §
145 Abs
1 Satz 1 bis
3 SGB IX um eine Ausnahmevorschrift handelt (vgl hierzu BSG Urteil vom 17.7.2008 - B 9/9a SB 11/06 R - SozR 4-3250 § 145 Nr 1 RdNr 29). Die Regel, dass Ausnahmevorschriften grundsätzlich
eng auszulegen sind, gilt nicht allgemein. Entscheidend ist vielmehr der Grund, warum der Gesetzgeber eine bestimmte Gruppe
von Fällen aus dem Anwendungsbereich der Regelvorschrift herausgenommen hat (vgl Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft,
5. Aufl 1983, S 337, 339 f).
aa) Zwar lässt der Wortlaut der Norm sowohl eine enge als auch eine weite Auslegung des Begriffs der für den Lebensunterhalt
laufenden Leistungen nach dem Dritten und Vierten Kapitel des SGB XII zu, im sprachlichen Zusammenhang betrachtet legt §
145 Abs
1 Satz 5 Nr
2 SGB IX jedoch bereits ein weites Begriffsverständnis nahe.
Nach anerkannten Auslegungsgrundsätzen richtet sich die Wortlautinterpretation zunächst nach dem allgemeinen Sprachgebrauch
eines Ausdrucks bzw einer Wortverbindung. Haben Ausdrücke in der Rechtssprache eine spezifische Bedeutung erhalten, geht der
besondere Sprachgebrauch des Gesetzes vor (vgl Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 5. Aufl 1983, S 305 ff). Nach
diesen Grundsätzen kann der Befreiungstatbestand für Personen, die "für den Lebensunterhalt laufende Leistungen nach dem Dritten
und Vierten Kapitel des Zwölften Buches" beziehen, im Rahmen des §
145 Abs
1 Satz 5 Nr
2 Alt 2
SGB IX so verstanden werden, dass von diesem Begriff auch nach den gleichen Voraussetzungen zu gewährende Leistungen umfasst sind.
Das Wort "nach" kann im allgemeinen Sprachgebrauch unterschiedliche Bedeutungen einnehmen, etwa "gemäß", "entsprechend" oder
"im Sinne von". Es ist auch nach dem juristischen Sprachgebrauch keineswegs zwingend, dass mit der Wortverbindung "nach dem
Dritten und Vierten Kapitel des SGB XII" nur Leistungen gemeint sind, die ihren Rechtsgrund allein im SGB XII haben bzw im engeren Rechtssinne Leistungen der Sozialhilfe darstellen. Vielmehr können auch Leistungen umfasst sein, die
in entsprechender Anwendung der Regelungen des Dritten und Vierten Kapitels des SGB XII gewährt werden.
Ein solches Verständnis wird auch bei den ebenfalls von §
145 Abs
1 Satz 5 Nr
2 Var 4
SGB IX erfassten Beziehern von Leistungen "nach" den §§ 27a und 27d BVG vertreten (Heinz in Ernst/Adlhoch/Seel,
SGB IX, Stand April 2010, §
145 RdNr 33; Winkler in Müller-Wenner/Winkler,
SGB IX, 2. Aufl 2011, §
145 RdNr 14). Danach sollen nicht nur Empfänger von Leistungen der Kriegsopferfürsorge (in unmittelbarer Anwendung des BVG), sondern auch Berechtigte nach den sog "Nebengesetzen" zum BVG von der Zuzahlungspflicht befreit sein, auch wenn das BVG nach diesen Gesetzen nur entsprechend anzuwenden ist (vgl etwa § 80 Abs 1 Satz 1 Soldatenversorgungsgesetz; §
47 Abs
1 Satz 1
Zivildienstgesetz; § 60 Abs 1 Satz 1 Infektionsschutzgesetz; §
1 Abs
1 Satz 1
Opferentschädigungsgesetz).
Schließlich spricht auch der Aufbau der Wortverbindung dafür, dass von §
145 Abs
1 Satz 5 Nr
2 Alt 2
SGB IX auch Leistungen umfasst sind, die in entsprechender Anwendung des Dritten und Vierten Kapitels des SGB XII gewährt werden. Der Gesetzgeber hat die Leistungen zunächst näher umschrieben als "für den Lebensunterhalt laufende Leistungen";
die nachfolgende Nennung der materiell-rechtlichen Bezugsnorm ("nach dem Dritten und Vierten Kapitel des Zwölften Buches") kann dann allein dazu dienen, die Abgrenzung der begünstigten Personenkreise - ungeachtet des genaueren Rechtsgrunds der
erhaltenen Leistungen - "nach dem System des Sozialhilferechts" vorzunehmen, welches für sich bereits zu berücksichtigendes
Einkommen und Vermögen (11. Kap SGB XII) sowie relevante Sonderbedarfe regelt (vgl hierzu bereits BSG Urteil vom 17.7.2008 - B 9/9a SB 11/06 R - SozR 4-3250 § 145 Nr 1 RdNr 34).
bb) Ein weites Verständnis des Begriffs "für den Lebensunterhalt laufende Leistungen nach dem Dritten und Vierten Kapitel
des Zwölften Buches" iS des §
145 Abs
1 Satz 5 Nr
2 Alt 2
SGB IX steht mit der Entstehungsgeschichte der Norm im Einklang.
Die Vorschrift über die Freifahrtsberechtigung schwerbehinderter Menschen geht auf § 57 Abs 1 SchwbG idF des Art 20 des Haushaltsbegleitgesetzes (HBegleitG) 1984 vom 22.12.1983 (BGBl I 1532) zurück, durch den der Kreis der berechtigten Personen eingeschränkt und grundsätzlich
eine Kostenbeteiligung in Höhe von damals 120 DM jährlich bzw 60 DM halbjährlich eingeführt wurde. Nach der ersten Fassung
des § 57 Abs 1 Satz 4 Nr 2 SchwbG erhielten ua "Bezieher von laufenden Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem BSHG" eine kostenlose Wertmarke. Diesen Wortlaut änderte der Gesetzgeber bereits mit der ersten Korrektur des HBegleitG 1984 durch das Gesetz zur Erweiterung der unentgeltlichen Beförderung Schwerbehinderter im öffentlichen Personenverkehr vom
18.7.1985 (BGBl I 1516), um auch bedürftige Heimbewohner eindeutig von der Eigenbeteiligung zu befreien. Denn einige Länder
hatten bei der Durchführung des Gesetzes nach der damaligen Systematik des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) ein enges Verständnis der Norm zu Grunde gelegt und unter "Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt" nicht Hilfen in besonderen
Lebenslagen für bedürftige Heimbewohner verstanden, obwohl bei der Gewährung dieser Leistungen in einer Einrichtung gemäß
§ 27 Abs 3 BSHG idF vom 24.5.1983 (BGBl I 613) auch Leistungen zum Lebensunterhalt umfasst waren (vgl hierzu Cramer, VersorgB 1985, 87, 89
mwN). Dieser engen Auslegung trat der Gesetzgeber entgegen. Mit der Gesetzesänderung führte er den Begriff "für den Lebensunterhalt
laufende Leistungen" ein und bekundete das Anliegen, durch diesen Befreiungstatbestand "alle Personen zu erfassen, die zur
Deckung ihres notwendigen Lebensunterhaltes Leistungen der öffentlichen Fürsorge erhalten" (BT-Drucks 10/3138 S 40). Ähnlich
der heutigen Fassung des §
145 Abs
1 Satz 5 Nr
2 Alt 2
SGB IX waren nach der damals geltenden Fassung des § 57 Abs 1 Satz 5 Nr 2 Alt 2 SchwbG Berechtigte, die "für den Lebensunterhalt laufende Leistungen nach dem BSHG erhalten", von der Entrichtung des Eigenanteils befreit.
Dieser Befreiungstatbestand ist inhaltlich sowohl mit Einführung des
SGB IX durch Gesetz vom 19.6.2001 (BGBl I 1046) als auch mit Einführung des SGB XII durch Gesetz vom 27.12.2003 (BGBl I 3022) im Wesentlichen unverändert geblieben. Er hat gleichwohl seine letzte Fassung erst
durch die Änderungsgesetze vom 13.12.2007 (BGBl I 2904) und 22.12.2008 (BGBl I 2959) erhalten, die nach den Gesetzesmaterialien
vornehmlich redaktionelle Änderungen betrafen (vgl BT-Drucks 16/6985 S 5; BT-Drucks 16/10487 S 11). Die Aufnahme des Tatbestandsmerkmals
der für den Lebensunterhalt laufenden Leistungen nach dem "Dritten und Vierten Kapitel" des SGB XII ist wiederum auf die Eingliederung des Gesetzes über die bedarfsorientierte Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung
vom 26.6.2001 (BGBl I 1310) in das SGB XII (Viertes Kapitel) und die systematische Trennung der Hilfe zum Lebensunterhalt (Drittes Kapitel) und der Hilfen in besonderen
Lebenslagen (nun Fünftes bis Neuntes Kapitel) zurückzuführen (vgl zur neueren Gesetzhistorie auch Spiolek in GK-
SGB IX, Stand Februar 2011, §
145 RdNr 25).
Zusammenfassend ist festzustellen, dass sich aus den Gesetzmaterialien zu den jeweiligen Änderungen der Befreiungstatbestände
für einkommensschwache schwerbehinderte Menschen bei der unentgeltlichen Beförderung im Personenverkehr kein Anhaltspunkt
dafür ergibt, dass der Gesetzgeber sein ursprüngliches Anliegen, "alle Personen zu erfassen, die zur Deckung ihres notwendigen
Lebensunterhaltes Leistungen der öffentlichen Fürsorge erhalten" (BT-Drucks 10/3138 S 40), aufgegeben haben könnte.
cc) Für die vom Senat vertretene Auslegung des §
145 Abs
1 Satz 5 Nr
2 Alt 2
SGB IX sprechen auch systematische Erwägungen, insbesondere in Bezug auf das Verhältnis dieser sozialen Vergünstigung zu den existenzsichernden
Systemen des Fürsorgerechts (SGB II/SGB XII).
Die Privilegierung einkommensschwacher schwerbehinderter Menschen stellt eine von den Systemen des Fürsorgerechts abgegrenzte
soziale Vergünstigung des Schwerbehindertenrechts dar. Der Gesetzgeber hat diese Vergünstigung nicht allen einkommensschwachen
Personen, die das Merkzeichen "G" besitzen, zukommen lassen wollen, sondern dabei eine systembezogene Zuordnung vorgenommen.
Der Senat hat bereits entschieden, dass selbst dann kein Verstoß gegen das Grundrecht auf Gewährung eines menschenwürdigen
Existenzminimums nach Art
1 Abs
1 GG iVm Art
20 Abs
1 GG (vgl hierzu BVerfG Urteil vom 9.2.2010 - 1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09 - BVerfGE 125, 175 = SozR 4-4200 § 20 Nr 12) vorliegt, wenn dem Berechtigten, der die Eigenbeteiligung aufzubringen hat, das vom Gesetzgeber
in Höhe des Regelbedarfs normativ bestimmte (vgl § 27 Abs 1 SGB XII) soziokulturelle Existenzminimum zur Verfügung steht (Urteil vom 17.7.2008 - B 9/9a SB 11/06 R - SozR 4-3250 § 145 Nr 1 RdNr
36). Konsequenterweise ist eine entsprechende soziale Vergünstigung (kostenfreie Wertmarke) bzw die Deckung eines entsprechenden
Bedarfs bei Schwer- oder Gehbehinderung grundsätzlich kein Regelungsgegenstand der existenzsichernden Systeme nach dem SGB II und SGB XII (vgl zum SGB II etwa BSG Urteil vom 18.2.2010 - B 4 AS 29/09 R - BSGE 105, 279 = SozR 4-1100 Art 1 Nr 7, RdNr 39; BSG Urteil vom 6.5.2010 - B 14 AS 3/09 R - SozR 4-4200 § 28 Nr 3 RdNr 24). Der Gesetzgeber hat vielmehr im Rahmen der Nr 2 nur bestimmte Gruppen von Leistungsbeziehern
nach dem SGB XII, SGB II, SGB VIII und BVG in den Befreiungstatbestand des §
145 Abs
1 Satz 5
SGB IX aufgenommen. Dementsprechend ist insoweit die Zuordnung von Freifahrtberechtigten nach §
145 Abs
1 Satz 1
SGB IX zu diesen Systemen der öffentlichen Fürsorge von entscheidender Bedeutung.
Dem System des SGB XII sind dabei nicht nur Personen zuzurechnen, die für den Lebensunterhalt laufende Leistungen in unmittelbarer Anwendung des
Dritten und Vierten Kapitels des SGB XII beziehen, sondern auch Personen, die diese Leistungen (nur) in entsprechender Anwendung dieser Vorschriften erhalten, aber
materiell-rechtlich weitgehend Sozialhilfeempfängern gleichgestellt sind. Anders verhält es sich dagegen mit Personen, deren
laufender Lebensunterhalt durch eigene Mittel oder ein anderes Sicherungssystem gewährleistet wird. Bei diesen sieht der Gesetzgeber
ersichtlich keine Veranlassung für eine Befreiung vom Eigenanteil nach §
145 Abs
1 Satz 5
SGB IX. Im Fall der Zuordnung zu einem anderen Sicherungssystem geht er nachvollziehbar davon aus, dass ein etwa erforderlicher
Ausgleich - zB durch Erstattung des Eigenanteils - ggf im Rahmen dieses Systems erfolgen kann.
Auf die "Zweckidentität" einer Leistung hinsichtlich der Gewährleistung des Existenzminimums kommt es mithin bei der Auslegung
des Begriffs "für den Lebensunterhalt laufende Leistungen nach dem Dritten und Vierten Kapitel des Zwölften Buches" nicht entscheidend an, vielmehr auf die Zuordnung des Personenkreises zum "System des Sozialhilferechts". Folglich hält
es der Senat aus systematischen Gründen für notwendig, dass es sich dabei nicht nur um Leistungen handelt, die zumindest in
entsprechender Anwendung des Dritten und Vierten Kapitels des SGB XII gewährt werden, sondern auch um Leistungsbezieher, die Sozialhilfeempfängern im Wesentlichen gleichstehen, also nicht unbedingt
formal, aber materiell-rechtlich dem "System des Sozialhilferechts" zugewiesen sind.
Der Senat verkennt nicht, dass bei einer solchen Auslegung der ausdrücklichen Nennung der Bezieher von ergänzender Hilfe zum
Lebensunterhalt iS des § 27a BVG in §
145 Abs
1 Satz 5 Nr
2 Var 4
SGB IX kaum eigenständige Bedeutung zukommt, da nach § 27a Satz 2 BVG bereits eine entsprechende Anwendung der Regelungen des Dritten Kapitels des SGB XII unter Berücksichtigung der besonderen Lage der Beschädigten und Hinterbliebenen vorgesehen ist. Gerade im Zusammenhang mit
der Begünstigung der Leistungsbezieher nach § 27d BVG kann die Nennung des § 27a BVG immerhin eine sinnvolle Klarstellung bedeuten, zumal eine Gleichstellung des von § 27a BVG erfassten Personenkreises - auch im Hinblick auf die angeordnete Berücksichtigung der besonderen Lage der Betroffenen - zweifelhaft
sein könnte.
dd) Ein weites Begriffsverständnis entspricht auch am ehesten dem Sinn und Zweck des §
145 Abs
1 Satz 5 Nr
2 Alt 2
SGB IX.
Durch die jetzt in §
145 Abs
1 Satz 5 Nr
2 SGB IX vorgesehene soziale Vergünstigung sollen - wie schon seit Einführung des Eigenanteils bei der ermäßigten Beförderung eines
Kreises schwerbehinderter Menschen im Jahre 1984 (vgl § 57 Abs 1 Satz 4 Nr 2 SchwbG idF vom 22.12.1983, BGBl I 1532) - die "Belange typischer Gruppen einkommensschwacher Freifahrtsberechtigter" berücksichtigt
werden (BT-Drucks 10/335 S 89; vgl auch BSG Urteil vom 17.7.2008 - B 9/9a SB 11/06 R - SozR 4-3250 § 145 Nr 1 RdNr 34). Dabei ist es ein Anliegen des Gesetzgebers, "alle
Personen zu erfassen, die zur Deckung ihres notwendigen Lebensunterhaltes Leistungen der öffentlichen Fürsorge erhalten" (BT-Drucks
10/3138 S 40). Durch die Anknüpfung ua an den Bezug von Grundsicherungsleistungen nach dem SGB XII macht der Gesetzgeber die Befreiung vom Unterschreiten einer Einkommensgrenze abhängig, die sich aus dem System des Sozialhilferechts
(11. Kap SGB XII) ergibt (vgl hierzu bereits BSG Urteil vom 17.7.2008 - B 9/9a SB 11/06 R - SozR 4-3250 § 145 Nr 1 RdNr 34). Bei dieser Zweckrichtung macht es keinen wesentlichen
Unterschied, ob die für den Lebensunterhalt laufenden Leistungen in unmittelbarer oder entsprechender Anwendung des Dritten
und Vierten Kapitels des SGB XII gewährt werden.
Hierbei ist aber auch das weitere Ziel des Gesetzgebers zu berücksichtigen, die verwaltungspraktische Arbeit der zuständigen
Behörden dadurch zu erleichtern, dass die Hilfebedürftigkeit des Berechtigten durch andere Träger - mittels Verwaltungsakt
- festgestellt worden ist (vgl BT-Drucks 10/335 S 89; vgl auch BSG Urteil vom 17.7.2008 - B 9/9a SB 11/06 R - SozR 4-3250 § 145 Nr 1 RdNr 35). Dieser hatte insoweit offensichtlich das sozialhilferechtliche
Verwaltungsverfahren vor Augen. Nicht nur aus systematischen Gründen, sondern auch im Hinblick auf diese Zweckrichtung liegt
es nahe, ein weites Verständnis des Befreiungstatbestands auf Leistungsbezieher zu beschränken, die - auch verfahrensmäßig
- Sozialhilfeempfängern im Wesentlichen gleichstehen.
ee) Auch mit Rücksicht auf höherrangiges Rechts ist das vom Senat für zutreffend gehaltene Verständnis des Befreiungstatbestands
nach §
145 Abs
1 Satz 5 Nr
2 Alt 2
SGB IX angebracht.
Das BSG hat bereits entschieden, dass die Umwandlung von einer unentgeltlichen Freifahrt in eine "Freifahrt" mit Kostenbeteiligung
den Gesetzgeber nicht berechtigt, in unbeschränktem Ermessen Personenkreise von der Kostenbeteiligung auszunehmen. Der Gleichbehandlungsgrundsatz
des Art
3 Abs
1 GG gebietet es vielmehr, den begünstigten Personenkreis nach sachgemäßen Erwägungen zu bestimmen (BVerfGE 39, 148, 153). Allgemein ist Art
3 Abs
1 GG verletzt, wenn eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders behandelt wird, obgleich zwischen
beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen
können (vgl BVerfG Urteil vom 7.7.1992 - 1 BvL 51/86, 50/87 und 1 BvR 873/90, 761/91 - BVerfGE 87, 1, 36 = SozR 3-5761 Allg Nr 1 S 7; BVerfG Beschluss vom 8.4.1998 - 1 BvL 16/90 - BVerfGE 98, 1, 12 = SozR 3-5755 Art 2 § 27 Nr 1 S 5). Für die verfassungsrechtliche Rechtfertigung der sozialen Vergünstigung iS des §
145 Abs
1 Satz 5 Nr
2 SGB IX gilt als Maßstab das Willkürverbot (vgl BSG Urteil vom 17.7.2008 - B 9/9a SB 11/06 R - SozR 4-3250 § 145 Nr 1 RdNr 30 ff, 36; BSG Urteil vom 8.10.1987 - 9a RVs 6/87 - SozR 3870 § 57 Nr 1).
Diesen Vorgaben wird eine Auslegung des §
145 Abs
1 Satz 5 Nr
2 Alt 2
SGB IX am ehesten gerecht, die auch Personen erfasst, die für den Lebensunterhalt laufende Leistungen in entsprechender Anwendung
des Dritten und Vierten Kapitels des SGB XII erhalten, und Sozialhilfeempfängern im Wesentlichen gleichstehen. Maßstab für die sachliche Rechtfertigung einer Gleich-
oder Ungleichbehandlung ist es danach, ob die betreffende Person dem Fürsorgesystem der Sozialhilfe zuzuordnen ist.
d) Nach diesen Maßgaben erhält der Kläger nicht "für den Lebensunterhalt laufende Leistungen nach dem Dritten und Vierten
Kapitel des Zwölften Buches" iS des §
145 Abs
1 Satz 5 Nr
2 Alt 2
SGB IX. Zunächst liegt der Rechtsgrund der Gewährung des Taschengeldes nach § 11 Nds MVollzG nicht im SGB XII, es ist also keine Leistung nach dem SGB XII im engeren Sinne. Zudem ist es nach dem vom Senat vertretenen Verständnis des Befreiungstatbestands auch keine für den Lebensunterhalt
laufende Leistung nach dem Dritten und Vierten Kapitel des SGB XII. Denn es wird weder in entsprechender Anwendung dieser Vorschriften gewährt, noch erhalten es Berechtigte, die im Wesentlichen
Sozialhilfeempfängern gleichstehen.
aa) §
11 Nds MVollzG stellt irrevisibeles Landesrecht iS des §
162 SGG dar, so dass das BSG die in der Entscheidung des Berufungsgerichts enthaltene Aussage über das Bestehen und den Inhalt der Rechtsnorm gemäß §
202 SGG iVm §
560 ZPO seiner Entscheidung zu Grunde zu legen hat (vgl BSG etwa Urteil vom 30.10.1990 - 4 RK 1/89 - juris RdNr 12 f; BSG Urteil vom 18.10.1995 - 6 RKa 52/94 - SozR 3-2500 § 95 Nr 7 S 30 f; May, Die Revision, 1995, S 322 RdNr 59). Insoweit hat das LSG ausgeführt, dass in Niedersachsen im Maßregelvollzug
Untergebrachte gemäß § 11 Nds MVollzG ein Taschengeld nach den Grundsätzen und Maßstäben erhalten, die für den Barbetrag nach
§ 35 Abs 2 SGB XII aF gelten. Zum einen richte sich damit die Höhe dieser Leistung nach den Grundsätzen des § 35 Abs 2 SGB XII aF. Zum anderen enthalte § 11 Nds MVollzG einen Rechtsgrundverweis auf § 35 Abs 2 SGB XII aF, so dass das Taschengeld bedürftigkeitsabhängig nach den maßgeblichen Regelungen des SGB XII gewährt werde.
Bei dem Barbetrag nach § 35 Abs 2 SGB XII aF handelt es sich zwar um eine Leistung nach dem Dritten Kapitel des SGB XII. Auch dürfte das Taschengeld nach § 11 Nds MVollzG regelmäßig die gleiche Leistungshöhe wie der Barbetrag nach § 35 Abs 2 SGB XII aF aufweisen. § 11 Nds MVollzG ordnet aber - auch nach der vom LSG vertretenen Auslegung - keine entsprechende Anwendung des § 35 Abs 2 SGB XII aF an, sondern - ggf weitergehend - die Gewährung eines Taschengeldes nach den Grundsätzen und Maßstäben, die für den Barbetrag
nach § 35 Abs 2 SGB XII aF gelten.
bb) Im Maßregelvollzug Untergebrachte stehen Sozialhilfeempfängern nicht im Wesentlichen gleich. Die Unterbringung im Maßregelvollzug
- hier in einem psychiatrischen Krankenhaus - ist eine freiheitsentziehende Maßregel der Besserung und Sicherung iS des §
61 Strafgesetzbuch (
StGB). Sie beruht auf einer richterlichen Anordnung nach §§
63 ff
StGB aus Anlass und als Rechtsfolge einer rechtswidrigen Tat (zum zweispurigen Sanktionensystem des
StGB vgl jüngst BVerfG Urteil vom 4.5.2011 - 2 BvR 2333/08, 2 BvR 2365/09, 2 BvR 571/10, 2 BvR 740/10, 2 BvR 1152/10 - NJW 2011, 1931, RdNr 100 ff [Sicherungsverwahrung]; Volckart/Grünebaum, Maßregelvollzug, 6. Aufl 2003, S 1 f). Der Maßregelvollzug richtet
sich nach uneinheitlichem Landesrecht (vgl hierzu BVerfG Beschluss vom 24.7.2008 - 2 BvR 840/06 - juris 21). Anders als die auf die Rehabilitation des Behinderten gerichtete Sozialhilfe zielt er auf die Resozialisierung
des Betroffenen ab. Dieser Dualismus der Aufgabenstellung schließt ein nebeneinander von Sozialhilfe und Versorgung im Rahmen
des Maßregelvollzugs nach bisheriger Rechtsprechung nicht aus (vgl zum BSHG bereits BVerwG Urteil vom 13.1.1971 - V C 70.70 - BVerwGE 37, 87; zum SGB XII jüngst BVerfG Beschluss vom 24.7.2008 - 2 BvR 840/06 - juris RdNr 25 ff mwN; Luthe in Hauck/Noftz, SGB XII, Stand Juni 2011, K § 2 RdNr 56). Die Versorgung der im Maßregelvollzug Untergebrachten wird insoweit zum ganz überwiegenden Teil von den Vollzugseinrichtungen
gewährleistet, so dass der Sozialhilfeträger allenfalls für bestimmte "Restbedarfe" aufzukommen hat (vgl Schlette in Hauck/Noftz,
SGB XII, Stand Juni 2011, K § 98 RdNr 91). Wenngleich sich die Leistungen für den Lebensunterhalt im Maßregelvollzug - insbesondere die Taschengeldgewährung
- mitunter nicht wesentlich von den entsprechenden Sozialhilfeleistungen unterscheiden, sind die Berechtigten materiell dem
Maßregelvollzugsrecht und damit einem eigenständigen und von dem Grundsicherungsrecht (SGB II/SGB XII) auch inhaltlich abgegrenzten
Sicherungssystem zugewiesen. Die Sicherung ihres Lebensunterhalts richtet sich grundsätzlich nicht nach dem "System des Sozialhilferechts".
e) Eine Erstreckung des Inhalts des §
145 Abs
1 Satz 5 Nr
2 SGB IX auf den Fall des Klägers lässt sich auch nicht durch richterliche Rechtsfortbildung, insbesondere mittels eines Analogieschlusses
erreichen. Es fehlt an einer erkennbaren Unvollständigkeit des Gesetzes. §
145 Abs
1 Satz 5
SGB IX ist - auch im Hinblick auf zur Freifahrt Berechtigte, die im Maßregelvollzug untergebracht sind und ein Taschengeld nach
den Vollzugsgesetzen erhalten - abschließend (so allg schon BSG Urteil vom 8.10.1987 - 9a RVs 6/87 - SozR 3870 § 57 Nr 1 S 2 f; BSG Urteil vom 17.7.2008 - B 9/9a SB 11/06 R - SozR 4-3250 § 145 Nr 1 RdNr 29). Weder die Entstehungsgeschichte der Norm noch
die systematischen Zusammenhänge sprechen für eine Ausweitung der sozialen Vergünstigung nach §
145 Abs
1 Satz 5 Nr
2 SGB IX auf im Maßregelvollzug Untergebrachte, die nach dem einschlägigen Vollzugsrecht ein Taschengeld erhalten. Der Gesetzgeber
hat neben den existenzsichernden Fürsorgesystemen (SGB II/SGB XII) auch andere Leistungssysteme (SGB VIII/BVG) ausdrücklich
in §
145 Abs
1 Satz 5 Nr
2 SGB IX aufgenommen. Angesichts der häufigen Änderungen des Befreiungstatbestands seit Einführung der Kostenbeteiligung Berechtigter
an der unentgeltlichen Beförderung im Personenverkehr im Jahr 1984 ist nicht davon auszugehen, dass der Gesetzgeber bedürftigkeitsabhängige
Leistungen für den Lebensunterhalt nach dem Maßregelvollzugsrecht nur versehentlich nicht berücksichtigt hat. Vielmehr dient
§
145 Abs
1 Satz 5 Nr
2 Alt 2
SGB IX erkennbar dazu, den begünstigten Personenkreis nach dem "System des Sozialhilferechts" zu bestimmen, nicht hingegen nach
anderen Sicherungssystemen, wie zB dem Maßregelvollzug.
3. Dass der Kläger nach §
145 Abs
1 Satz 5 Nr
2 SGB IX keinen Anspruch auf Ausgabe einer kostenlosen Wertmarke für die unentgeltliche Beförderung im Personenverkehr hat, verstößt
nicht gegen die Verfassung, insbesondere nicht gegen Art
3 Abs
1 GG.
Nach den bereits dargelegten verfassungsrechtlichen Vorgaben aus Art
3 Abs
1 GG ist Maßstab für die Rechtfertigung der Auswahl der von der sozialen Vergünstigung iS des §
145 Abs
1 Satz 5 Nr
2 SGB IX betroffenen Personenkreise das Willkürverbot (vgl BSG Urteil vom 17.7.2008 - B 9/9a SB 11/06 R - SozR 4-3250 § 145 Nr 1 RdNr 30 ff, 36; BSG Urteil vom 8.10.1987 - 9a RVs 6/87 - SozR 3870 § 57 Nr 1). Danach ist Art
3 Abs
1 GG nicht verletzt.
Soweit das LSG in diesem Zusammenhang diejenigen zur unentgeltlichen Beförderung im Personenverkehr Berechtigten (§
145 Abs
1 Satz 1
SGB IX), die ihren laufenden Lebensunterhalt einerseits durch das Taschengeld nach § 11 Nds MVollzG und andererseits durch den Barbetrag iS des § 35 Abs 2 SGB XII aF bestreiten, heranzieht, bestehen für die Ungleichbehandlung hinreichend sachliche Gründe. Die Personengruppen sind nämlich
unterschiedlichen Sicherungssystemen zugewiesen. Insoweit kommt es entgegen der Auffassung des LSG bei §
145 Abs
1 Satz 5
SGB IX gerade nicht auf die gleiche wirtschaftliche Lage an bzw auf die "Zweckidentität" der Leistungen, ein menschenwürdiges Existenzminimum
zu gewährleisten. Der Gesetzgeber des
SGB IX konnte vielmehr davon ausgehen, dass den Bedürfnissen der Personen, die sich im Maßregelvollzug befinden, im Rahmen dieses
Systems hinreichend Rechnung getragen werden kann. Im Übrigen wäre eine bundeseinheitliche Regelung, die allen landesrechtlichen
Maßregelvollzugsgesetzen Rechnung trägt, unter Beibehaltung der Struktur der Befreiungstatbestände nur unter besonderen Schwierigkeiten
möglich: Entweder durch komplexe Bezugnahmen auf die einzelnen Landesvorschriften oder durch eine eigenständige Bedürftigkeitsprüfung
der Leistungsträger nach dem
SGB IX oder aber - einfacher - durch eine Härtefallklausel (vgl etwa zur Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht für Personen
im Maßregelvollzug nach § 6 Abs 3 Rundfunkgebührenstaatsvertrag Oberverwaltungsgericht Lüneburg Beschluss vom 26.5.2011 -
4 LC 59/10 - juris RdNr 33 ff; Volckart/Grünebaum, Maßregelvollzug, 6. Aufl 2003, S 105 f). Dies alles ist aber aus verfassungsrechtlichen
Gründen nicht geboten. Denn die Mobilitätsförderung von schwerbehinderten Menschen nach §
145 Abs
1 Satz 1
SGB IX wird durch den zu leistenden Eigenanteil nur moderat relativiert (vgl hierzu bereits BSG Urteil vom 17.7.2008 - B 9/9a SB 11/06 R - SozR 4-3250 § 145 Nr 1 RdNr 28).
4. Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG.