Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Kläger einen Anspruch auf Erwerbsminderungsrente hat.
Der in S. geborene und in K. aufgewachsene Kläger lebt seit seinem Zuzug im Jahre 1991 durchgehend in der Bundesrepublik Deutschland.
Er ist anerkannter Spätaussiedler und hat die deutsche Staatsangehörigkeit. Eine Berufsausbildung hat er nicht absolviert.
Zuletzt war er als Staplerfahrer, Kommissionierer und Packer bis zum Jahre 2014 sozialversicherungspflichtig beschäftigt.
Seitdem besteht Arbeitsunfähigkeit. Vom 19.11.2015 bis zum 18.05.2017 bezog er Arbeitslosengeld I von der Agentur für Arbeit.
Ein Grad der Behinderung von 60 ist anerkannt.
Am 03.03.2017 stellte er bei der DRV einen Antrag auf Rente wegen Erwerbsminderung und stützte diesen auf die Gesundheitsstörungen
Veränderungen der Wirbelsäule, Nervenwurzelreizerscheinungen, Bandscheibenvorfall, Schlaganfall, Hirndurchblutungsstörungen,
Gleichgewichtsstörungen, Depression, Bluthochdruck und Herzkrankheit. Seinem Rentenantrag legte er zahlreiche medizinische
Befundunterlagen bei.
Zur weiteren Ermittlung des Sachverhalts wurde durch die DRV ein Gutachten auf internistischem Fachgebiet durch Dr. B. erstellt.
Bei der Begutachtung am 03.04.2017 gelangte der Gutachter zu folgenden Gesundheitsstörungen:
1. Rezidivierende depressive Störung, derzeit mittelgradige Episode mit Somatisierungsneigung.
2. Koronare 3-Gefäßerkrankung, Zustand nach PTCA mit DES-Implantation 11/2015, kein Hinweis auf Progress.
3. Periphere arterielle Verschlusskrankheit beider Beine ohne interventionspflichtige Stenosen.
4. Degeneratives LWS- und HWS-Syndrom ohne wesentliche Funktionseinschränkung, keine radikuläre Symptomatik.
5. Medikamentös unzureichend eingestellter Bluthochdruck.
Zusammenfassend führte der Gutachter aus, der Kläger könne leichte bis mittelschwere Arbeiten ohne besonderen Zeitdruck, ohne
Nachtschichtarbeit, ohne Heben, Tragen und Bewegen von schweren Lasten, ohne einseitige Körperhaltung, ohne häufiges Bücken
sechs Stunden und mehr verrichten. Die zuletzt ausgeübte Tätigkeit als Staplerfahrer und Kommissionierer könne 6 Stunden und
mehr ausgeübt werden. Empfehlenswert seien LTA-Maßnahmen. Eine Rückkehr an den letzten Arbeitsplatz erscheine, auch wenn das
Arbeitsverhältnis formal noch bestehe, nicht mehr möglich, weil ein erheblicher Arbeitsplatzkonflikt bestehe.
Mit Bescheid vom 06.04.2017 wurde die beantragte Rente abgelehnt. Hiergegen legte der Kläger am 28.04.2017 Widerspruch ein
und führte zur Begründung aus, seine Erkrankungen und die damit zusammenhängenden Einschränkungen seien unzureichend bewertet
worden. Er befinde sich seit dem 06.04.2017 in der psychiatrischen K. D. Eine erneute Überprüfung sei angezeigt.
Nachdem die DRV den Bericht über den stationären Aufenthalt des Klägers in der Zeit vom 06.04.2017 bis zum 10.05.2017 in der
K. D. beigezogen hatte, erstellte die Ärztin für Psychiatrie Dr. R. im Auftrag der DRV ein psychiatrisches Gutachten. Bei
ihrer Untersuchung des Klägers am 12.07.2017 gelangte sie zu folgenden Diagnosen:
1. Rezidivierende depressive Störung, jetzt leichtgradige Episode
2. Somatisierungsstörung.
Abschließend führte die Gutachterin aus, sowohl die letzte berufliche Tätigkeit als Kommissionierer/ Arbeiter als auch eine
andere leichte bis mittelschwere Tätigkeit sei aufgrund der psychiatrischen Diagnosen für mindestens sechs Stunden täglich
zumutbar.
Mit Widerspruchsbescheid vom 28.09.2017 wurde der Widerspruch zurückgewiesen.
Deswegen hat der Kläger am 17.10.2017 Klage zum Sozialgericht Heilbronn (SG) erhoben, mit welcher er sein Begehren weiterverfolgt. Zur Begründung hat er ausgeführt, aufgrund seiner zahlreichen Gesundheitsstörungen
sei er in seiner Leistungsfähigkeit sowohl in qualitativer als auch in quantitativer Hinsicht vollständig eingeschränkt. Er
sei nicht mehr in der Lage, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich
erwerbstätig zu sein. Diese eingeschränkte Leistungsfähigkeit sei durch die Beklagte nicht ausreichend gewürdigt worden. Entgegen
deren Feststellungen bestehe ein Leistungsvermögen von nur noch unter drei Stunden täglich. Dies folge bereits aus der Zusammenschau
aller Beeinträchtigungen, begründe sich aber schon alleine wegen der psychischen Gesundheitsstörungen. Zur weiteren Begründung
legte der Kläger den Entlassungsbericht des Klinikums W. vom 03.01.2018 vor, wo er sich im Zeitraum vom 15.11.2017 bis 04.01.2018
stationär aufgehalten hat wegen einer rezidivierenden depressiven Störung, gegenwärtig schwere Episode ohne psychotische Symptome.
Das SG hat die Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie K., den Arzt für Orthopädie L. und den Arzt für Allgemeinmedizin Dr.
B. schriftlich als sachverständige Zeugen gehört. Die Fachärztin K. führte am 31.01.2018 aus, der Kläger sei bei ihr seit
September 2014 regelmäßig 1-3 Mal im Quartal wegen einer rezidivierenden depressiven Störung, gegenwärtig mittelgradige bis
schwere Episode, einer Somatisierungsstörung, einer Panikstörung, einer generalisierten Angststörung und einer Alkoholabhängigkeit
in Behandlung. Eine Befundbesserung sei nicht eingetreten. Der Befund sei chronifiziert. Dieser könne auch nicht durch weitere
therapeutische Maßnahmen verbessert werden. Die Verzweiflung des Klägers sei eindeutig größer geworden und somit parallel
auch die Gefahr für suizidale Handlungen. Er sei deutlich eingeschränkt hinsichtlich seiner psychischen Belastbarkeit, diese
sei nahezu aufgehoben. Die kognitive Flexibilität sei deutlich vermindert. In sozialen Interaktionen sei er emotional instabil.
Die Stress- und Frustrationstoleranz sei absolut unzureichend. Die Selbstbehauptung und das Durchhaltevermögen, sowie die
Anpassungs- und Umstellungsfähigkeit im Alltag seien deutlich eingeschränkt. Aus psychiatrischer Sicht sei er nicht erwerbsfähig.
Sein Leistungsvermögen liege unter 3 Stunden. Der Orthopäde L. berichtete am 30.01.2018 von chronifizierten Lumbalbeschwerden
bei Bandscheibenvorfall L5/S1 und HWS-Beschwerden bei kernspintomographisch nachgewiesenen Bandscheibenprotrusionen. Auf orthopädischem
Fachgebiet könne eine leichte körperliche Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch 6 Stunden täglich verrichtet werden.
Der Allgemeinmediziner Dr. B. führte am 26.03.2018 aus, der Kläger sei bei ihm seit 1995 in Behandlung, zuletzt am 13.02.2018.
Es würden eine schwere depressive Störung, eine Somatisierungsstörung, eine koronare Herzerkrankung, eine periphere arterielle
Verschlusskrankheit, eine Verkalkung der Halsschlagadern, eine Durchblutungsstörung des Gehirns mit Schädigungszeichen, ein
Zustand nach Kleinhirninfarkt, eine obstruktive Lungenerkrankung, eine Verschleißerkrankung der Wirbelsäule mit knöchernen
Brüchen und Bandscheibenschäden und Krampfadern an den Beinen vorliegen. Der Kläger könne auf gar keinen Fall einer Tätigkeit
nachgehen. Aufgrund der schweren depressiven Erkrankung mit völligem Verlust des Antriebs sei von keinem Restleistungsvermögen
auszugehen.
Sodann hat das SG von Amts wegen ein Gutachten bei dem Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. W. in Auftrag gegeben. In seinem Gutachten
vom 28.07.2018 gelangte Dr. W. zu dem Ergebnis, dass der Kläger unter einer organisch affektiven Störung und einer Alkoholabhängigkeit
(derzeit abstinent) leide. Die Symptomatik sei sehr komplex, sie zeige Merkmale depressiver Elemente bis hin zur Schwergradigkeit,
deutlich sozial phobische Elemente, Antriebsdefizit, verstärkte Reizbarkeit sowie auch eine ausgeprägt gestörte affektive
Modulationsbreite, auch ein angedeuteter Eifersuchtswahn sei erkennbar wie auch das Erleben synthymparanoider Fremdwahrnehmung.
Eine erhebliche hirnorganische Komponente müsse ursächlich zugeordnet werden. Der Kläger sei nicht mehr in der Lage, seinen
zuletzt ausgeübten Beruf zumindest 3 Stunden täglich auszuüben. Auch auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt und unter Definition
weitreichender qualitativer Einschränkungen seien dem Kläger Tätigkeiten von mindestens 3 Stunden täglich nicht möglich. Dies
sei seit Januar 2015 anzunehmen.
Für die Beklagte hat unter dem 17.08.2018 der Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. N. Stellung genommen. In dem Gutachten
von Dr. W. sei eine Depressivität auf dem Boden einer Alkoholabhängigkeit diagnostisch festgestellt und ein aufgehobenes Leistungsvermögen
postuliert worden. Nachdem das Erkrankungsbild "auf dem Boden einer Alkoholabhängigkeit und Hirngefäßveränderungen" bestehen
soll, müsse sich Dr. W. darauf verweisen lassen, dass die Kriterien einer Alkoholabhängigkeit nicht belegt seien oder nicht
erfragt worden seien, wobei auffalle, dass aus der sachverständigen Zeugenaussage der behandelnden Psychiaterin K. zwar eine
Alkoholabhängigkeit bestanden habe, nämlich vor dem Erstkontakt 2014, wobei aber unklar sei, auf welcher Basis diese Einschätzung
beruhe, zumal auch formuliert worden sei, dass der Kläger seit 2013 abstinent sei. Das Gutachten lasse sich deswegen nicht
mit der zu fordernden Sicherheit nachvollziehen. Es seien keine entsprechenden Laboruntersuchungen vorgelegt worden. Aber
auch wenn man die Depressivität als solche heranzieht falle auf, dass aus den subjektiven Beschwerdeangaben eine depressive
Störung überhaupt nicht zweifelsfrei abgeleitet werden könne. Es sei nicht plausibel, dass der Kläger selbst überhaupt keine
Depressionssymptome nenne, wenn dieser nach dem Gutachter schwer depressiv sein solle. Dies könne aus fachpsychiatrischer
Sicht nicht nachvollzogen werden. Des Weiteren falle auf, dass die entsprechende Medikation, so ein entsprechender Leidensdruck
oder Krankheitsschwere vorgelegen hätte, nicht ausdosiert worden sei. Es sei eine Behandlung durchgeführt worden, die einem
Placebo-Effekt gleichkomme. Wo eine schwere Depressivität vorliegen soll, erschließe sich nicht. Das beschriebene Bild entspreche
einer leichtgradigen Depressivität im Sinne einer Dysthymia oder Anpassungsstörung oder vielleicht auch einer leichten depressiven
Episode. In keinem Fall nachvollziehbar sei eine wesentliche Depressivität. Der sozialmedizinischen Schlussfolgerung in Bezug
auf die Leistungsminderung könne so nicht gefolgt werden. Insgesamt ergebe sich kein Beleg dafür, dass das quantitative Leistungsvermögen
gemindert sein soll.
In seiner ergänzenden Stellungnahme vom 12.09.2018 führte Dr. W. aus, nicht die Alkoholabhängigkeit sei begründend für die
postulierte Leistungsminderung, sondern die Folgen der organischen affektiven Störung. Dies könne sehr viele Ursachen haben.
Zwar sei die Alkoholabhängigkeit eine übernommene Diagnose, die jedoch die relevante Diagnose der organisch affektiven Störung
und die daraus zu ziehenden Konsequenzen nicht beeinträchtige. Dass depressive Symptome überhaupt nicht aus subjektiven Beschwerdeangaben
abzuleiten gewesen wären, könne nicht verstanden werden. Die vom Kläger angegebenen Beschwerden seien schlichtweg typisch
für schwere depressive Störungen mit einer angenommenen Somatisierungsstörung. Zusammenfassend gebe es keine sachlich medizinisch
begründbare Möglichkeit, die im Gutachten getroffene Einschätzung zu revidieren.
Mit Urteil vom 10.05.2019 hat das SG die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 06.04.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28.09.2018 verurteilt,
dem Kläger eine Rente wegen voller Erwerbsminderung ab dem 01.03.2017 zu gewähren. Das SG hat sich im Wesentlichen auf das Gutachten von Dr. W. gestützt und ausgeführt, angesichts der erhobenen Befunde und der Aktenlage
habe der Gutachter nachvollziehbar auf ein unter dreistündiges Leistungsvermögen geschlossen. Die Bewertung biete eine überzeugende
Einordnung des komplexen Beschwerdebildes des Klägers. Auch sein Tagesablauf spiegele glaubhaft eine nicht mehr vorhandene
Gestaltungsfähigkeit im Alltag wider. Trotz intensiver Therapiebemühungen habe sich sein Zustand nicht wesentlich gebessert,
was von allen behandelnden Ärzten bestätigt worden sei. Aus den Befunden der Begutachtung ergebe sich überzeugend eine so
tiefgreifende Einschränkung des Klägers, dass ihm auch leichte Tätigkeiten nicht mehr zugemutet werden könnten. Die Einwendungen
des Dr. N. hätten hingegen nicht überzeugt. Insofern werde auf die zutreffenden Ausführungen in der ergänzenden Stellungnahme
von Dr. W. verwiesen.
Gegen das ihr am 21.05.2019 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 21.06.2019 Berufung eingelegt. Das Gutachten von Dr. W.
überzeuge nicht, die darauf aufbauende Entscheidung der Vorinstanz könne daher nicht akzeptiert werden. Aufgrund des medizinischen
Sachverhalts könne nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass beim Kläger gesundheitliche
Einschränkungen vorliegen würden, die sein Leistungsvermögen in zeitlicher Hinsicht einschränken würden. Zur weiteren Begründung
bezieht sie sich auf die sozialmedizinische Stellungnahme des Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. N. vom 03.06.2019.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des SG Heilbronn vom 10.05.2019 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.
Er trägt zur Begründung vor, es sei von der Beklagten kein neuer Sachvortrag erfolgt, welcher nicht bereits Gegenstand der
Erörterung im erstinstanzlichen Verfahren gewesen sei. Das Urteil des SG Heilbronn sei in tatsächlicher und rechtlicher Sicht
nicht zu beanstanden.
Der Senat hat ein Gutachten auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet bei Dr. O. in Auftrag gegeben. Mit Schreiben vom 02.10.2019
beantragte der Kläger, die Anwesenheit seiner Ehefrau und der Prozessbevollmächtigten bei der Begutachtung zu gestatten. Da
die Gutachterin die Anwesenheit der Prozessbevollmächtigten bei der Untersuchung des Klägers verweigerte, beantragte der Kläger
am 28.10.2019 Frau Dr. O. wegen Besorgnis der Befangenheit abzulehnen. Nachdem Dr. O. zum Ablehnungsgesuch am 14.11.2019 schriftlich
Stellung genommen hatte, wurde der Antrag, die gerichtliche Sachverständige wegen Besorgnis der Befangenheit abzulehnen, mit
Beschluss vom 12.12.2019 abgelehnt.
In ihrem Gutachten vom 24.03.2020 beruhend auf einer ambulanten Untersuchung des Klägers am 14.10.2019 gelangte die Gutachterin
Dr. O. zu dem Ergebnis, dass beim Kläger eine Dysthymia vorliege, auf die sich in der Vergangenheit verstärkte depressive
Momente aufgepfropft hätten, wobei von einer eigentlichen abgrenzbaren depressiven Episode nicht ausgegangen werden könne.
In der Vorgeschichte formuliert sei ein Alkoholabusus, welchem weder durch Befunde noch durch entsprechende anamnestische
Darstellung Rechnung getragen werde. Es finde sich eine Somatisierungsstörung mit im Vordergrund stehender chronischer Schmerzstörung
mit somatischen und psychischen Faktoren, welcher sich auch die gefundenen Wurzelreizzeichen C6 und L5 unterordnen ließen.
Außerdem würden sich Zeichen einer peripheren Polyneuropathie finden, welche bisher nicht weiter vordiagnostiziert und abgeklärt
worden sei. Die Störungen seien nicht vorgetäuscht worden und seien auch nicht nur in der Untersuchungssituation zu beobachten
gewesen. Unter ärztlicher Mithilfe könne eine weitere Besserung erreicht werden. Bisher sei er in antidepressiver Weise eher
niedrig dosiert behandelt worden. Die Schmerzstörung sei nicht spezifisch behandelt, sei keinem multimodalen Behandlungsprogramm
zugeführt worden. Ambulante Psychotherapie werde nur noch extensiv in Anspruch genommen. Auch weitere strukturierende Maßnahmen
seien nicht umgesetzt worden. Der Kläger sei körperlich als auch psychisch beeinträchtigt. Er sei noch in der Lage, leichte
körperliche Arbeiten zu verrichten. Dies sei ohne unmittelbare Gefährdung der Gesundheit mit entsprechenden qualitativen Einschränkungen
noch sechs Stunden und mehr an fünf Tagen in der Woche zumutbar. Die so festgestellte Leistungseinschränkung sei auch seit
dem 01.03.2017 so festzustellen. Im Verlauf ergebe sich keine wesentliche Änderung.
Der Kläger trägt vor, das Gutachten von Dr. O. überzeuge nicht. Es beruhe auf einer einmaligen neurologisch-psychiatrischen
Untersuchung am 14.10.2019. Das schriftliche Gutachten sei erst fast ein halbes Jahr später erfolgt. Die lange Dauer zwischen
Untersuchung und Abfassung des Gutachtens stelle die Aussagekraft des Gutachtens in jeder Hinsicht in Frage. Insbesondere
könne der persönliche Eindruck in der Gutachtenssituation nicht über einen so langen Zeitraum aufrechterhalten werden. Auch
die Feststellungen der Gutachterin würden nicht überzeugen. Bereits die Anamnese sei unvollständig. Es seien keine Fragen
zur Alkoholkrankheit erfolgt. Über derzeitige gesundheitliche Beschwerden sei ebenfalls keine Befragung erfolgt. Im Übrigen
sei nicht korrekt dargestellt, dass er keinen Aktivitäten mehr nachgehe. Insofern sei es unverständlich, wie die Gutachterin
zu dem Ergebnis kommen könne, er habe soziale Kontakte und sei in der Lage, seinen Tagesablauf zu strukturieren. Er biete
insoweit Zeugenbeweis seiner Ehefrau und seiner Kinder an. Er habe schon immer vorgetragen, dass die Medikation gerade keine
Erleichterung verschaffe. Gleiches gelte für die Psychotherapie. Als Gesundheitsstörung handele es sich lediglich um eine
Dysthymia. Dieses Ergebnis sei insoweit nicht nachvollziehbar, als im Rahmen der Psychopathometrie ein Punktwert von 43 Punkten
erreicht worden sei und dies dem signifikanten Bereich entspreche. Wie der Gutachter Dr. W. hingegen zu Recht dargestellt
habe, bestehe seit mehreren Jahren eine schwere depressive Störung. Insgesamt sei das Gutachten von Dr. O. widersprüchlich.
Zu Recht habe das SG die Beklagte verurteilt, ihm eine Rente ab dem 01.03.2017 zu gewähren.
Für die Beklagte hat unter dem 27.05.20 der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. N. Stellung genommen. Die Gutachterin
Dr. O. habe glaubhaft und nachvollziehbar das Krankheitsbild als Alltagsverstimmung im Sinne einer Dysthymia diagnostiziert.
Eine Hirnorganik habe nicht bestanden und auch paranoid-sensitive Züge hätten sich nicht finden lassen. Auf den polypragmatischen
Einsatz niedrig dosierter Psychopharmaka sei bereits in erster Instanz eingegangen worden. Die gleiche niedrige Dosierung
sei auch im jetzigen Gutachten bekannt. Eine wesentliche Änderung der Therapie habe in der Folgezeit nicht stattgefunden,
sodass von einem wesentlichen Leidensdruck nicht ausgegangen werden könne. Nach wie vor sei aus sozialmedizinischer Sicht
eine Minderung des quantitativen Leistungsvermögens als nicht hinreichend belegt zu betrachten.
Bezüglich des weiteren Vorbringens der Beteiligten und der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakten
beider Rechtszüge sowie die beigezogene Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen.
Entscheidungsgründe
I. Die gemäß §
151 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Beklagten, über die der Senat im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche
Verhandlung entschieden hat (§§
124 Abs.
2,
153 Abs.
1 SGG), ist gemäß §§
143,
144 SGG zulässig und begründet. Das angefochtene Urteil des SG vom 10.05.2019 ist aufzuheben. Der Bescheid der Beklagten vom 06.04.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28.09.2017
ist nicht rechtswidrig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Er hat keinen Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen
voller oder teilweiser Erwerbsminderung.
1. Versicherte haben nach §
43 Abs.
2 Satz 1
SGB VI Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze, wenn sie voll erwerbsgemindert
sind (Nr. 1), in den letzten 5 Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung 3 Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung
oder Tätigkeit haben (Nr. 2) und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben (Nr.
3). Voll erwerbsgemindert sind nach §
43 Abs.
2 Satz 2
SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen
des allgemeinen Arbeitsmarkts mindestens 3 Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Eine volle Erwerbsminderung liegt nach der
ständigen Rechtsprechung des BSG auch dann vor, wenn der Versicherte täglich mindestens 3 bis unter 6 Stunden erwerbstätig sein kann und er damit nach dem
Wortlaut des §
43 Abs.
1 Satz 2
SGB VI ohne Berücksichtigung der Arbeitsmarktlage an sich nur teilweise erwerbsgemindert ist (sog. abstrakte Betrachtungsweise),
ihm aber der Teilzeitarbeitsmarkt tatsächlich verschlossen ist (sog. konkrete Betrachtungsweise). Der Eintritt einer rentenberechtigenden
Leistungsminderung muss im Wege des Vollbeweises festgestellt sein, vernünftige Zweifel am Bestehen der Einschränkungen dürfen
nicht bestehen.
2. Gemessen daran ist der Kläger weder voll noch teilweise erwerbsgemindert, da er unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen
Arbeitsmarktes mindestens 6 Stunden täglich erwerbstätig sein kann. Dies steht zur Überzeugung des Senats aufgrund der von
der Beklagten und im gerichtlichen Verfahren durchgeführten Beweiserhebung, insbesondere aufgrund des bereits im Rentenverfahren
erstellten Gutachtens von Dr. R. sowie des vom Senat in Auftrag gegebenen Gutachtens der Sachverständigen Dr. O. fest.
a. Beim Kläger im Vordergrund stehen Gesundheitsstörungen auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet. Der Kläger leidet unter
einer anhaltend ängstlich-depressiven Symptomatik, dem Begriff der Dysthymia sich unterordnend. Demgegenüber ließ sich eine
auch phasenhaft auftretende depressive Symptomatik nicht feststellen. Daneben besteht sich eine neurasthenische Symptomatik
mit einem schnellen Erschöpfungserleben, eine Spannungskopfschmerz-symptomatik und eine aufgezeigte Reizbarkeit. Dies stellt
der Senat aufgrund des Gutachtens von Dr. O. fest, welches überzeugend und schlüssig ist. In der Begutachtungssituation bei
Dr. O. gab es keinen Anhalt für ein schwerwiegendes hirnorganisches Psychosyndrom, weder im Befund noch im EEG. Die vorbeschriebene Alkoholabhängigkeit konnte nicht nachgewiesen werden. Die Befunde zeigten mikroangiopathische Veränderungen
und einen kleinen Apoplex in der Vorgeschichte, ohne dass sich hier hirnorganische Einschränkungen von den Vorbehandlern dokumentiert
wurden. Neben der Dysthymia zeigte sich eine Somatisierungsstörung mit im Vordergrund stehender chronischer Schmerzstörung
mit somatischen und psychischen Faktoren. Außerdem fanden sich Zeichen einer peripheren Polyneuropathie.
Beim Kläger bestehen daneben Gesundheitsstörungen auf orthopädischem Fachgebiet, was der Senat der Auskunft des Orthopäden
L. entnimmt. Diesbezüglich erfolgte im Juni 2016 eine Kernspintomographie der Halswirbelsäule. Es fand sich eine multisegmentale
Osteochondrose der mittleren und unteren Halswirbelsäule. Ein Bandscheibenvorfall sowie eine Spinalkanalstenose konnten jedoch
ausgeschlossen werden. Außerdem bestehen degenerative Veränderungen der Lendenwirbelsäule.
Schließlich liegen beim Kläger Gesundheitsstörungen auf kardiologischem Fachgebiet vor. Bei koronarer 3-Gefäßerkrankung erfolgte
am 11.11.2015 eine Stentimplantation in der Klinik H. Die ärztliche Kontrolle durch den Kardiologen Dr. W. zeigte am 11.08.2016
keinen Hinweis auf eine Progredienz der KHK. Die Ergometrie zeigte keine Belastungskoronarinsuffizienz. Der Kläger konnte
bis 125 Watt belastet werden. Auch die Echokardiographie zeigte eine normale Ventrikelfunktion ohne regionale Motilitätsstörungen.
Außerdem zu erwähnen ist ein durch MRT im Jahre 2014 festgestellter Defekt im Kleinhirn links und mikroangiopathische Veränderungen.
Duplexsonographisch konnte eine relevante Stenose der hirnversorgenden Gefäße ausgeschlossen werden.
b. Die beim Kläger bestehenden Gesundheitsstörungen führen jedoch nicht dazu, dass er nicht mehr in der Lage ist, leichte
Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarkts unter Beachtung qualitativer Leistungseinschränkungen arbeitstäglich unter den üblichen
Bedingungen des Arbeitsmarktes 6 Stunden und mehr auszuüben. Zu dieser Überzeugung gelangt der Senat aufgrund des bereits
im Rentenverfahren erstellten Gutachtens von Dr. R., welches der Senat im Wege des Urkundenbeweises verwertet, insbesondere
aber durch das Gutachten auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet von Dr. O. Dem Kläger ist es daher noch möglich leichte
körperliche Arbeiten zu verrichten, ohne Zwangshaltung, mit der Möglichkeit zur Wechselhaltung, ohne inhalative Belastung
mit Berücksichtigung auch der internistischen Erkrankung, möglichst in Tages-, Früh- oder Spätschicht. Nachtdiensttätigkeit
ist wegen der depressiogenen Wirkung auszunehmen. Tätigkeiten auf Leitern und Gerüsten sind auszunehmen, mit Berücksichtigung
der peripheren Polyneuropathie. Bei ungünstigen Temperaturbedingungen sollte entsprechende Schutzkleidung getragen werden,
mit Berücksichtigung der Schmerzstörung. Tätigkeiten, die eine erhöhte Konfliktfähigkeit beinhalten, sollten bei neurasthenem
Bild und anamnestischem Bericht über vermehrte Reizbarkeit im Kontakt ausgenommen werden. Auch emotionale Belastungen sollten
nicht abverlangt werden. Fahrdiensttätigkeiten sind ebenfalls auszunehmen. Unter Beachtung dieser qualitativen Einschränkungen
ist es dem Kläger möglich, einer Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch mindestens 6 Stunden täglich im Rahmen einer
Fünf-Tage-Woche nachzugehen.
Bei der Beurteilung durch Dr. O. ist zu berücksichtigen, dass die bestehende Schmerzerkrankung keiner Behandlung zugeführt
wird. Eine Schmerzmedikation wird nicht eingenommen. Eine entsprechende Schmerztherapie wird nicht durchgeführt. Die Gutachterin
hat außerdem Diskrepanzen zwischen der Beschwerdeschilderung und tatsächlicher körperlicher und psychischer Beeinträchtigung
festgestellt. Es fehlen erweiterte Therapiemaßnahmen und Eigenaktivität zur Beschwerdelinderung trotz ausgeprägt beschriebener
Beschwerden, insbesondere fehlt eine sachliche Diskussion über eine mögliche alternative Tätigkeit zum bisher ausgeübten Beruf.
Dabei fanden in der Vergangenheit mehrere stationäre Behandlungen statt, die jeweils zu einer Verbesserung der Symptomatik
führten. Der Senat entnimmt den vorliegenden medizinischen Unterlagen, dass bereits im Jahre 2014 wegen der Diagnosen schwere
depressive Episode ohne psychotische Symptome und Somatisierungsstörung eine stationäre psychiatrische Behandlung in der Klinik
von Dr. D. erfolgt ist. Vom 29.12.2014 bis zum 26.01.2015 erfolgte dann unter den Diagnosen rezidivierende depressive Störung
(mittelgradige Episode) mit Somatisierungsstörung ein psychosomatisches Heilverfahren in der Klinik G. Die Entlassung erfolgte
in Anbetracht der ausgeprägten Arbeitsplatzkonfliktsituation für den letzten Arbeitsplatz als arbeitsunfähig. Perspektivisch
ging man aber von einer vollschichtigen Leistungsfähigkeit für leichte körperliche Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt
aus. Im Frühjahr 2017 erfolgte eine erneute stationäre Behandlung in der Klinik Dr. D., was sich dem vorliegenden Bericht
entnehmen lässt. Die Aufnahme erfolgte wegen einer schweren depressiven Episode ohne psychotische Symptome und ohne akute
Suizidalität und einem Schmerzsyndrom. Die medikamentöse Therapie mit Escitalopram wurde auf 20 mg erhöht und sodann durch
Venlafaxin 150 mg ersetzt. Zur Nacht wurden zusätzlich Mirtazapin 30 mg und Quetiapin 150 mg eingesetzt. Die vom Kläger berichteten
Ängste wurden mit Pregabalin 150 mg behandelt. Im Verlauf des stationären Aufenthalts kam es zu einer Besserung der Stimmung,
der Schlaf besserte sich, die Ängste gingen zurück. In der Zeit vom 15.11.2017 bis zum 04.10.2018 wurde der Kläger stationär
in der Klinik P. behandelt. Dem entsprechenden Bericht entnimmt der Senat, dass eine rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig
schwere Episode ohne psychotische Symptome und ein Folsäuremangel diagnostiziert wurden. Im Verlauf zeigte der Kläger eine
Symptomatik mit deprimierter Stimmung, reduzierter affektiver Schwingungsfähigkeit, Insuffizienzgefühlen, Zukunftsängsten,
Interessenverlust und Anhedonie, Grübelneigung, sozialem Rückzug und vermindertem Antrieb. Insgesamt zeigte sich im stationären
Verlauf unter medikamentöser Behandlung eine Verbesserung der depressiven Symptomatik. Damit zeigt sich, dass die Erkrankung
des Klägers durchaus einer Therapie zugänglich ist. Die Ausführungen der Gutachterin werden durch die Verläufe und Ergebnisse
der stationären Aufenthalte des Klägers gestützt.
Darüber hinaus lassen sich dem Gutachten von Dr. O. keine krankheitswerten hirnorganischen Veränderungen entnehmen, weder
kognitive Einschränkungen noch eine psychische motorische Hemmung. Soziale Kontakte bestehen. Er ist auch in der Lage, seinen
Tagesablauf zu strukturieren. Er zeigt Verantwortungsbewusstsein gegenüber seiner Familie. Dass der Kläger im Beck'schen Depressionsinventar
einen signifikanten Wert erreicht hat, steht dem nicht entgegen, da es sich bei dieser Testpsychologie um eine Selbstbeurteilung
des Probanden handelt und diese nicht zwangsläufig mit den objektiv erhobenen Befunden übereinstimmen muss.
Das Gutachten stimmt auch mit der Leistungsbeurteilung durch Dr. R. überein. Auch Dr. R. diagnostizierte nur eine leichtgradige
depressive Episode sowie eine Somatisierungsstörung und gelangte zu einem Leistungsvermögen von 6 Stunden und mehr unter Beachtung
qualitativer Einschränkungen.
Der Überzeugungskraft des Gutachtens von Dr. O. steht auch nicht entgegen, dass dieses erst ein knappes halbes Jahr nach der
ambulanten Untersuchung schriftlich angefertigt wurde. Wie bereits in der richterlichen Verfügung vom 02.07.2020 ausgeführt
wurde, hegt das Gericht keine Bedenken gegen die Verwertung des Gutachtens von Dr. O., auch wenn zwischen dem Termin zur Untersuchung
am 14.10.2019 und der schriftlichen Abfassung des Gutachtens 5 Monate verstrichen sind. Übereinstimmend mit dem 6. Senat des
LSG Baden-Württemberg in seiner Entscheidung vom 12.08.2014 (Az.: L 6 VH 5821/10 ZVW, juris) ist ein Zeitraum von mehr als einem Jahr grundsätzlich zu lang. Ein Zeitraum von 2,5 Monaten zwischen durchgeführter
Untersuchung und schriftlicher Abfassung des Gutachtens ist demgegenüber auch bei einem psychiatrischen Sachverständigengutachten
in der Regel noch nicht zu beanstanden (Thüringer LSG v. 24.08.2017 - L 1 U 121/14 - juris Rn. 62). Ein Zeitraum von 5 Monaten ist sicherlich ein Grenzfall. In einem solchen Grenzfall kann darauf abgestellt
werden, ob sich der Sachverständige aufgrund besonderer Umstände noch genau an die Person des Untersuchten erinnern kann und
deswegen sein Gutachten noch auf der stattgehabten Untersuchung beruht (vgl. LSG, a.a.O). Die Besonderheit im hier vorliegenden
Verfahren ist darin zu sehen, dass die Gutachterin wegen Besorgnis der Befangenheit durch den Kläger abgelehnt worden ist,
weil sie die Anwesenheit der Bevollmächtigten während der gutachterlichen Untersuchung nicht geduldet hat. Dies ist ausreichend
dafür, dass dieser Fall bei der Gutachterin auch noch im März präsent war. Im Übrigen ist es auch diesem Umstand geschuldet,
dass sich die Absetzung des Gutachtens zeitlich verzögert hat.
Demgegenüber kann sich der Senat der Beurteilung durch Dr. W. in seinem Gutachten vom 28.07.2018 nebst ergänzender Stellungnahme
vom 12.09.2018 nicht anschließen. Dr. W. gelangte zu dem Ergebnis, dass beim Kläger eine hirnorganisch bedingte affektive
Störung (mit überwiegend depressiver Symptomatik) auf dem Boden einer Alkoholabhängigkeit und Hirngefäßveränderungen vorliegt.
Aufgrund dieser Diagnose sah Dr. W. das Leistungsvermögen als aufgehoben an. Das Gutachten von Dr. W. überzeugt nicht. Zum
einen ist eine relevante Alkoholabhängigkeit beim Kläger nicht nachgewiesen. Zwar wird eine Alkoholabhängigkeit in den vorliegenden
medizinischen Unterlagen genannt, insbesondere auch von der behandelnden Fachärztin für Psychiatrie K. in ihrer sachverständigen
Zeugenauskunft vom 31.01.2018. Woher diese Diagnose stammt, bleibt unklar. Von ihr selbst kann sie nicht stammen, da Behandlungsbeginn
am 19.09.2014 war und der Kläger wohl anamnestisch seit dem Jahr 2013 abstinent gelebt hat. Überdauernde von einer Alkoholabhängigkeit
resultierende Schädigungsfolgen sind nicht durch entsprechende Berichte belegt. Auch für die Hirnorganik gibt es in den vorliegenden
medizinischen Unterlagen keine psychopathologischen Anknüpfungstatsachen. Das Gutachten von Dr. W. ist in diesen Punkten nicht
nachvollziehbar.
Der Einschätzung der behandelnden Fachärztin für Psychiatrie K. kann ebenfalls nicht gefolgt werden. Ihrer sachverständigen
Zeugenauskunft entnimmt der Senat, dass sich der Kläger dort seit September 2014 1-3 Mal im Quartal in Behandlung befindet.
Sie behandelt den Kläger wegen einer rezidivierenden depressiven Störung, einer Somatisierungsstörung und einem Abhängigkeitssyndrom
bei Alkoholabhängigkeit. Im Gegensatz zu ihren Diagnosen und ihrer Leistungsbeurteilung steht die Tatsache, dass die möglichen
Therapiemöglichkeiten beim Kläger bislang nicht ausgeschöpft sind. Eine medikamentöse Therapie mit Escitalopram 10 mg wurde
eingeleitet, außerdem erfolgte eine ambulante psychotherapeutische Behandlung durch Dr. K. Die antidepressive Medikation ist
damit eher niedrig dosiert und eine Schmerztherapie findet bislang gar nicht statt. Dies hat sich im Verlauf der Behandlung
auch nicht wesentlich verändert. Die aktuelle Therapie besteht aus Sertralin 50 mg am Morgen sowie Quetiapin 50 mg, Mirtazapin
30 mg und Amitritylin 10 mg am Abend. Die ambulante Richtlinien-Psychotherapie erfolgt weiterhin durch Dr. K. Ein aufgehobenes
Leistungsvermögen ist vor diesem Hintergrund nicht nachvollziehbar.
Der Allgemeinmediziner Dr. B. hat sich in seiner Auskunft vom 26.03.2018 fachfremd geäußert, weswegen seiner Beurteilung ebenfalls
nicht gefolgt werden kann.
Darüber hinaus liegen beim Kläger keine Funktionsstörungen vor, die zu einer rentenberechtigenden quantitativen Leistungsminderung
führen könnten. Der Orthopäde L. führte aus, beim Kläger bestünden chronifizierte Lumbalbeschwerden aufgrund eines Bandscheibenvorfalls
L5/S1 sowie HWS-Beschwerden bei nachgewiesenen Bandscheibenprotrusionen. Diese Funktionsstörungen bedingen allenfalls qualitative,
aber keine quantitativen Einschränkungen. Dies wurde auch von dem sachverständigen Zeugen L. so gesehen.
c. Ein Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit gemäß §
240 SGB VI steht dem Kläger ebenfalls nicht zu. Für die Annahme der Berufsunfähigkeit reicht es nämlich nicht aus, wenn ein Versicherter
seinen bisherigen Beruf nicht mehr ausüben kann. Vielmehr sind Versicherte nur dann berufsunfähig, wenn auch die Verweisung
auf andere Berufstätigkeiten aus gesundheitlichen Gründen oder sozial nicht mehr zumutbar ist. Da es nicht möglich ist, die
Fülle der nicht durch Ausbildung und/oder Berufserfahrung qualifizierten Tätigkeiten kurz und charakterisierend zu nennen,
ist bei Ungelernten und einfachen Angelernten, zu denen der Kläger zu zählen ist, die konkrete Benennung einer Verweisungstätigkeit
grundsätzlich nicht erforderlich. Ein Sonderfall im Sinne der Summierung ungewöhnlicher Leistungsbeschränkungen oder einer
spezifischen Leistungsbehinderung liegt bei dem Kläger nicht vor.
d. Soweit der Kläger mit Schriftsatz vom 10.06.2020 beantragt hat, sowohl seine Ehefrau als auch die beiden Söhne als Zeugen
zu seiner Aggressivität, seiner Tagesstrukturierung, seiner nicht vorhandenen Konfliktfähigkeit und die emotionale Belastung
der Familie sowie zu dem Umgang der vom Kläger eingenommenen Schmerzmitteln und den Alkoholkonsum, ist diesem Antrag nicht
stattzugeben. Zum einen wird es als wahr unterstellt, dass der Kläger in seinem Alltag aggressiv ist und in seiner Tagesstruktur
durch seine Gesundheitsstörungen beeinträchtigt ist. Dies lässt sich den vorliegenden medizinischen Unterlagen entnehmen.
Dass dies zu einer emotionalen Belastung der Familie führt ist nachvollziehbar, aber nicht relevant. Der Umfang der Schmerzmitteleinnahme
wird durch die sachverständige Zeugin K. dargestellt, ebenso wird nicht in bezweifelt, dass in der Vergangenheit ein erheblicher
Alkoholkonsum vorgelegen hat. Zum anderen sind die genannten Zeugen aber auch nicht geeignet, zu der hier streitigen Frage
der Erwerbsminderung des Klägers objektiv beizutragen, da es sich um medizinische Fragen handelt, die nur durch einen Arzt
beantwortet werden können (vgl. B. Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt,
SGG, 13. Auflage 2020, §
103 Rdnr. 8).
Auf die Berufung der Beklagten war daher das Urteil des SG aufzuheben und die Klage abzuweisen.
II. Die Entscheidung hinsichtlich der Kosten beruht auf §
193 SGG.
III. Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.