Verfassungsmäßigkeit der Rentenabschläge bei vorzeitiger Inanspruchnahme der Altersrente für langjährig Versicherte
Tatbestand
Streitig ist die ungekürzte Zahlung einer Altersrente für langjährig Versicherte.
Der 1942 geborene Kläger beantragte am 28.06.2005 die Gewährung einer Altersrente für langjährig Versicherte.
Mit Bescheid vom 17.08.2005 bewilligte ihm die Beklagte eine Altersrente für langjährige Versicherte mit einem monatlichen
Zahlbetrag vom 1.594,26 EUR. Wegen der vorzeitigen Inanspruchnahme der Rente vor Vollendung des 65. Lebensjahres minderte
sie den Zugangsfaktor für 24 Kalendermonate um jeweils 0,003, also 0,072, so dass sie einen gekürzten Zugangsfaktor von 0,928
und damit persönliche Entgeltpunkte von 67,2313 statt 72,4475 in die Rentenformel einstellte.
Dagegen erhob der Kläger mit Schreiben vom 12.09.2005, eingegangen bei der Beklagten am 13.09.2005 Widerspruch. Im Wesentlichen
begehrte er eine abschlagsfreie Rente und gab an, auch ein Beamter mit 45 Dienstjahren bekomme mit 63 Jahren seine volle Pension.
Mit Widerspruchsbescheid vom 05.12.2005 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Die Altersrente sei richtig berechnet. Die
Vertrauensschutzregelung des §
236 Abs.
2 Satz 1 Nr.
1 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (
SGB VI) finde keine Anwendung, da der Kläger nicht vor dem 01.01.1942 geboren sei. Demzufolge seien die Abschläge richtig errechnet.
Dagegen hat der Kläger durch seinen Bevollmächtigten am 05.01.2006 Klage zum Sozialgericht Bayreuth (SG) unter dem Az. S 2 R 4003/06 erheben lassen. Im Wesentlichen hat dieser vorgetragen, das Abstellen auf den 01.01.1942 als Stichtag erscheine willkürlich
und benachteilige den 1942 geborenen Kläger in unangemessener Weise.
Im Erörterungstermin vom 31.08.2008 hat der Bevollmächtigte des Klägers den Streitgegenstand auf die Frage der Verfassungsmäßigkeit
der Vertrauensschutzregelung des §
236 SGB VI beschränkt. Mit Beschluss vom gleichen Tag hat das SG das Ruhen des Verfahrens angeordnet.
Mit Schriftsatz vom 13.10.2011 hat der Kläger um Wiederaufnahme des Verfahrens ersucht. Das Verfahren wurde unter dem Az.
S 2 R 925/11 fortgeführt.
Die Beklagte hat darauf hingewiesen, dass das Bundesverfassungsgericht den Vorlagebeschluss 1 BvL 5/06 aufgehoben habe. Das Bundessozialgericht habe das Verfahren B 13 R 5/09 R durch Urteil vom 19.11.2009 zurückgewiesen. Die Regelungen seien verfassungsgemäß.
Der Kläger hat erwidert, dass er die Ungleichbehandlung von Beamten, die nach 45 Dienstjahren ohne Einschränkung der Pensionsbezüge
in Pension gehen könnten und die bei ihm vorgenommene Kürzung nicht für berechtigt halte und insoweit eine Ungleichbehandlung
zwischen Arbeitnehmern und Beamten gegeben sei, die in dieser Gestalt nicht hinnehmbar sei. Dies verstoße gegen den Gleichheitsgrundsatz
und damit auch gegen die Gleichheitsrichtlinien der Europäischen Union.
Nach Anhörung hat das SG mit Gerichtsbescheid vom 23.01.2014 die Klage abgewiesen. Der Kläger habe keinen Anspruch auf abschlagsfreie Gewährung von
Altersrente für langjährige Versicherte. Die Beklagte habe die Altersrente des Klägers fehlerfrei unter Zugrundelegung der
Abschlagsregelung berechnet. Unter Hinweis auf die Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 19.11.2009, B 13 R 5/09 R hat es ausgeführt, die Regelung des §
236 SGB VI verstoße nicht gegen das
Grundgesetz (
GG). Die Regelung stelle eine zulässige gesetzliche Inhalts- und Schrankenbestimmung des Art.
14 Abs.
1 Satz 1
GG dar und verletze nicht den allgemeinen Gleichheitssatz des Art.
3 Abs.
1 GG. Insbesondere liege keine Ungleichbehandlung der Versicherten in der gesetzlichen Rentenversicherung mit der Gruppe der Beamten
vor. Zwischen den Alterssicherungssystemen "gesetzliche Rentenversicherung" und "Beamtenversorgung" bestünden grundsätzliche
Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht, dass sie Unterschiede im Zugang zur Altersrente einerseits und zu den Versorgungsbezügen
andererseits in Bezug auf Einzelzugangszeitpunkte rechtfertige.
Dagegen hat der Kläger durch seinen Bevollmächtigten Berufung zum Bayer. Landessozialgericht am 11.02.2014 eingelegt. Im Wesentlichen
hat er das Vorbringen in der ersten Instanz wiederholt. Ergänzend hat er unter Verweis auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofs
(EuGH) vom 06.11.2012, C-286/12 vorgetragen, die Stichtagsregelung des §
236 SGB VI verstoße gegen die Richtlinie 2000/78/EG im Hinblick auf das dort niedergelegte Verbot der Benachteiligung wegen des Alters.
Der Kläger beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Bayreuth vom 23.01.2014 aufzuheben und den Bescheid der Beklagten vom 17.08.2005 in
der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 05.12.2005 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, die Altersrente des Klägers
für langjährig Versicherte unter Berücksichtigung eines Zugangsfaktors von 1,0 festzustellen und ihm entsprechend höhere Altersrente
zu gewähren.
Die Beklagten beantragt,
die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Bayreuth vom 23.01.2014 zurückzuweisen.
Zur Ergänzung des Sachverhalts wird auf die Beklagtenakte und die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung (§§
143,
141,
151 Sozialgerichtsgesetz -
SGG-) ist zulässig, aber nicht begründet. Das SG hat zu Recht entschieden, dass der Kläger keinen Anspruch auf ungekürzte Altersrente für langjährige Versicherte hat.
Maßgeblich für den Rentenanspruch des Klägers ist §
236 SGB VI in der bis zum 31.12.2007 geltenden Fassung, weil Streitgegenstand ein Rentenantrag auf Leistungen ab dem 01.10.2005 ist
(§
300 Abs.
1 SGB VI).
Gemäß §
236 Abs.
1 SGB VI (a.F.) haben Versicherte, die vor dem 01.01.1948 geboren sind, Anspruch auf eine Altersrente, wenn sie das 63. Lebensjahr
vollendet und die Wartezeit von 35 Jahren erfüllt haben. Nach Satz 2 der Vorschrift wird die Altersgrenze von 63 Jahren für
Versicherte, die nach dem 31.12.1936 geboren sind, angehoben. Die vorzeitige Inanspruchnahme der Altersrente ist nach Satz
3 möglich. Die Anhebung der Altersgrenze und die Möglichkeit der vorzeitigen Inanspruchnahme bestimmen sich nach Anlage 21
des
SGB VI.
Der 1942 geborene Kläger konnte nach Anlage 21 die Altersrente für langjährig Versicherte mit Erreichen der Altersgrenze von
63 Jahren vorzeitig in Anspruch nehmen. Der Zugangsfaktor von 1,000 für die Altersrente für langjährig Versicherte ist daher
um 24 Monate zu je 0,003 abzusenken (§§
63 Abs.
5,
77 Abs.
2 SGB VI). Die Altersrente ist zutreffend berechnet worden. Der Zugangsfaktor von 0,928 ergibt sich nach Abzug des Rentenabschlags
für 24 Monate mit dem Faktor 0,003.
Der Kläger fällt nicht unter die Vertrauensschutzbestimmung des §
236 Abs.
2 SGB VI. Danach wird die Altersgrenze von 63 Jahren für Versicherte, die vor dem 01.01.1942 geboren sind und 45 Jahre mit Pflichtbeiträgen
für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben, abweichend von Anlage 21 angehoben. Der Kläger ist jedoch erst nach
dem 01.01.1942 geboren.
Anspruch auf eine Rentenzahlung ohne Abschlag bzw. mit einem geringen Abschlag hätte der Kläger nur dann, wenn die vom Gesetzgeber
vorgenommene Heraufsetzung der Altersgrenze für die Altersrente für langjährig Versicherte mit Abschlägen bei früherer Inanspruchnahme
insgesamt verfassungswidrig wäre. Der Senat schließt sich jedoch in vollem Umfang den Gründen des Bundessozialgerichts in
der Entscheidung vom 19.11.2009, B 13 R 5/09 R an, wonach die Vorschriften über die Bestimmung von Abschlägen bei vorzeitiger Inanspruchnahme für Altersrente für langjährige
Versicherte und insbesondere die Vertrauensschutzregelung nicht gegen das
GG verstoßen. Sie stellen eine zulässige gesetzliche Inhalts- und Schrankenbestimmung des Art.
14 Abs.
1 Satz 1
GG dar und verletzen nicht den allgemeinen Gleichheitssatz des Art.
3 Abs.
1 GG. Das BSG hat insoweit unter Hinweis auf Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts bezüglich der vorzeitigen Inanspruchnahme der
Altersrente wegen Arbeitslosigkeit oder nach Altersteilzeitarbeit (BVerfG vom 11.11.2008, 1 BvL 3/05 ua, vom 05.02.2009, 1 BvR 1631/04) darauf hingewiesen, dass die dortigen Regelungen verfassungsgemäß seien.
Für die Einschränkung der Rentenanwartschaft bei vorzeitiger Inanspruchnahme der Altersrente gelte nichts anderes. Diese Abschläge
dienten dem Ziel des gesamten Reformvorhabens, namentlich der Kostenneutralität vorgezogener Rentenleistungen und dem Gemeinwohlzweck
der Stabilisierung der Finanzen in der gesetzlichen Rentenversicherung. Die Belastung der Bezieher vorzeitiger Altersrenten
sei auch nicht unverhältnismäßig, den Abschlägen stünden doch die Vorteile eines früheren Ruhestandes gegenüber. Auch die
Vertrauensschutzregelung sei verfassungsgemäß. Ein schutzwürdiges Vertrauen in den Bestand von Modalitäten des im Jahr 1992
angelegten langfristigen Übergangskonzepts zur Anhebung der Altersgrenzen bei der Altersrente für langjährig Versicherte habe
nicht entstehen können. Für rentennahe Jahrgänge (vor dem 01.01.1942 geborene) sei dem Vertrauensschutz durch den zum 01.01.2000
durch das Rentenreformgesetz 1999 eingeführten §
236 Abs.
2 SGB VI Rechnung getragen worden.
Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Nichtannahmebeschluss vom 05.02.2009, 1 BvR 1631/04 bezüglich der Verfassungsbeschwerden wegen Kürzung der gesetzlichen Altersrente bei vorzeitiger Inanspruchnahme wegen Arbeitslosigkeit
bzw. nach Altersteilzeit zur Stichtagsregelung des §
237 Abs.
4 Satz 1 Nr.
1 Buchst. b
SGB VI ausgeführt, dass zur Regelung bestimmter Lebenssachverhalte Stichtage eingeführt werden dürften, obwohl jeder Stichtag unvermeidlich
gewisse Härten mit sich bringe (vgl. auch BVerfG vom 11.01.2011, 1 BvR 3588/08). Dies gelte auch bei der Einführung von neuen Vorschriften, die einzelne Personengruppen begünstigten und wegen des Stichtages
andere von der Begünstigung ausnähmen. Allerdings sei zu prüfen, ob der Gesetzgeber den ihm bei der Stichtagsregelung zukommenden
Gestaltungsfreiraum in sachgerechter Weise genutzt habe, ob er die für die zeitliche Anknüpfung in Betracht kommenden Faktoren
hinreichend gewürdigt habe und ob sich die gefundene Lösung im Hinblick auf den gegebenen Sachverhalt und das System der Gesamtregelung
durch sachliche Gründe rechtfertigen lasse oder als willkürlich erscheine. Mit Absatz 2 sollte sichergestellt werden, dass
es hinsichtlich der Anhebung der Altersgrenze bei der Altersrente der langjährig Versicherten der Jahrgänge vor 1942 bei der
im Rentenreformgesetz 1992 vorgesehenen Regelung verbleibe (BT-Drs. 13/8011, S. 62). Bei Erlass des Rentenreformgesetzes 1999
waren die vor dem 01.01.1942 geborenen 58 Jahre und jünger, dies ergebe also 5 Jahre bis zum Eintritt in die Altersrente mit
Vollendung des 63. Lebensjahres. Die Festsetzung dieser Altersgrenze erscheint keineswegs willkürlich.
Das Bundessozialgericht hat in seiner Entscheidung vom 19.11.2009 (aaO) weiter ausgeführt, die dauerhaften Abschläge verstießen
auch nicht gegen den allgemeinen Gleichheitssatz aus Art.
3 Abs.
1 GG. Art.
3 Abs.
1 GG gebietet, alle Menschen vor dem Gesetz gleich zu behandeln. Damit ist dem Gesetzgeber allerdings nicht jede Differenzierung
verwehrt. Er verletzt das Grundrecht vielmehr nur, wenn er eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten
verschieden behandelt, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass
sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen könnten. Die Ungleichbehandlung der Versicherten in der gesetzlichen Rentenversicherung
mit der Gruppe der Beamten verletzt Art.
3 GG nicht. Zwischen den Alterssicherungssystemen "gesetzliche Rentenversicherung" und "Beamtenversorgung" bestehen grundsätzliche
Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht, dass sie Unterschiede im Zugang zur Altersrente einerseits und zu den Versorgungsbezügen
andererseits jedenfalls im Bezug auf einzelne Zugangszeitpunkte rechtfertigen (vgl. LSG Baden-Württemberg vom 05.03.2003,
L 13 R 2511/02; BSG vom 11.10.2011, B 12 KR 19/00 R).
Soweit der Kläger unter Bezugnahme auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 06.11.2012, C-286/12 vorträgt, die Stichtagsregelung des §
236 SGB VI verstoße gegen die Richtlinie 2000/78/EG im Hinblick auf das dort niedergelegte Verbot der Benachteiligung wegen des Alters, ist dem nicht zu folgen.
Der Anwendungsbereich der Richtlinie ist nicht eröffnet. Art 3 Abs. 3 EGRL78/2000 lautet: "Diese Richtlinie gilt nicht für
Leistungen jeder Art seitens der staatlichen Systeme oder der damit gleichgestellten Systeme einschließlich der staatlichen
Systeme der sozialen Sicherheit oder des sozialen Schutzes". Die Bestimmungen der Voraussetzungen über Art und Umfang einer
Altersrente nach dem
SGB VI regeln gerade solche staatliche Leistungen sozialrechtlicher Art.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG.
Gründe, die Revision gemäß §
160 SGG zuzulassen, liegen nicht vor.