Rente wegen Erwerbsminderung
Voraussetzungen für Katalogfall
Mehrschrittige Prüfung
Besondere spezifische Leistungsbehinderung
Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Klägerin einen Anspruch auf eine Rente wegen Erwerbsminderung hat.
Die 1972 geborene Klägerin ist thailändische Staatsangehörige. Sie ist im März 1993 nach Deutschland zugezogen und verfügt
über einen unbefristeten Aufenthaltstitel in Form einer Niederlassungserlaubnis. In Thailand hatte die Klägerin den Beruf
einer Näherin erlernt und in Deutschland war sie in der Zeit von August 1997 bis Oktober 2009 auch in diesem Beruf tätig.
Zuletzt war sie bei der Firma A. GmbH in E-Stadt beschäftigt gewesen.
Auf einen Rentenantrag vom 02.08.2011 bewilligte die Beklagte - nach Auswertung eines vom Internisten Dr. R. am 12.05.2011
erstellten Gutachtens - der Klägerin mit Bescheid vom 09.08.2011 eine Rente wegen voller Erwerbsminderung zeitlich befristet
bis Ende Juni 2013.
Am 08.03.2013 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die Weiterzahlung der Rente wegen Erwerbsminderung über den Wegfallmonat
hinaus. Die Beklagte holte daraufhin erneut ein ärztliches Gutachten bei Dr. R. ein, der die Klägerin am 12.04.2013 untersuchte
und in seinem Gutachten die bei der Klägerin vorliegenden Gesundheitsstörungen folgendermaßen beschrieb: Zustand nach schwergradiger
thrombotisch-thrombocytopenischer Purpura (TTP) mit Erstdiagnose 12/2009, Zustand nach Frührezidiv 3/2010, mehrfacher Plasmapherese
und Transfusionsbedürftigkeit. Seit 2010 stabiler Verlauf ohne Anhalt für erneutes Rezidiv bei differenzialdiagnostisch systemischem
Lupus erythematodes sowie bekanntem Morbus Basedow mit Zustand nach mehrfachen Rezidiven (Thiamazoltherapie und folgend geplant
Radiojodtherapie) sowie reaktiver Depression. Ein Rezidiv der hämatologischen Grunderkrankung bestehe nicht. Es habe sich
eine deutliche Besserung der Gesamtsituation eingestellt. Aktuell stehe die mutmaßlich reaktiv bedingte Depression im Vordergrund,
wobei eine entsprechende Behandlung jedoch nicht stattfinde. Eine zeitliche Einschränkung der Einsatzfähigkeit der Klägerin
bestehe weder für den zuletzt ausgeübten Beruf der Näherin, noch für den allgemeinen Arbeitsmarkt. Vermieden werden sollten
Tätigkeiten mit starkem Publikumsverkehr und in größeren Menschenansammlungen sowie sonstige Infektionsgefährdungen.
Diese sozialmedizinische Einschätzung wurde vom Prüfarzt der Beklagten geteilt und eine Weitergewährung der Erwerbsminderungsrente
über das Ende der Zeitrente wurde als nicht begründet angesehen. Daraufhin lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 24.04.2013
die Weitergewährung der Rente über den Wegfallzeitpunkt hinaus ab.
Der Widerspruch der Klägerin vom 23.05.2013 wurde mit Widerspruchsbescheid vom 11.07.2013 zurückgewiesen. Aus dem vorgelegten
Bericht des Universitätsklinikums F-Stadt und der geltend gemachten reduzierten Ausdauer- und Leistungsfähigkeit nach Kortikosteroid-Therapie
würden sich keine neuen sozialmedizinischen Einschätzungen ergeben. Auch sei die zuvor limitierte Gehstrecke jetzt nicht mehr
eingeschränkt. Das Heben und Tragen von Lasten sei nach wie vor auf 5 kg zu beschränken.
Hiergegen hat die Klägerin mit Telefax-Schreiben am 02.08.2013 Klage zum Sozialgericht Würzburg erhoben. In einem Versicherungsverlauf
vom 09.08.2013 sind im Anschluss an den Rentenbezug mit Zurechnungszeit bis zum 30.06.2013 keine neuen rentenrechtlichen Zeiten
vermerkt. Das Sozialgericht hat einen Befundbericht der behandelnden Ärzte Dr. E. und Dr. K. sowie ärztliche Unterlagen vom
Universitätsklinikum F-Stadt beigezogen.
Vor der mündlichen Verhandlung am 13.03.2014 hat das Gericht ein Gutachten durch den Internisten und Sozialmediziner Dr. G.
erstellen lassen. Die Klägerin hat dort eine starke Infektneigung angegeben. Aktuell werde sie mit Asthma-Spray und Thiamazol
behandelt. Eine neurologische oder psychiatrische Behandlung finde nicht statt. Die Gesundheitsstörungen der Klägerin wurden
von Dr. G. folgendermaßen diagnostiziert: 1. Thrombotisch-thrombzytopenische Purpura, derzeit unter laufender Kontrolle, jedoch
in Remission. 2. Hyperthyreose unter thyreostatischer Behandlung. 3. Vorbeschriebene hämolytische Anämie. 4. Asthma bronchiale
kompensiert. Die Klägerin sei trotz qualitativer Einschränkungen aktuell fähig, einer leichten körperlichen Tätigkeit überwiegend
im Sitzen oder in wechselnder Körperhaltung in geschlossenen Räumen mindestens sechs Stunden täglich nachzugehen. Auszuschließen
seien ungünstige äußere Witterungsbedingungen, erhöhter Publikumsverkehr, Einwirkung von Bronchialreizstoffen und übermäßige
nervliche Belastungen.
Die Hausärzte der Klägerin haben in einem undatierten Attest Stellung genommen, dass bei der Klägerin ein erneuter akuter
und lebensbedrohlicher Schub der sehr seltenen Erkrankung durch eine simple Infektion ausgelöst werden könne. Eine Ablehnung
der Berentung sei nicht nachvollziehbar. Kein Arbeitsplatz könne so angepasst werden, dass die Klägerin nicht einem erhöhten
Risiko ausgesetzt sein würde.
Ein Antrag der Klägerin auf Einholung eines Gutachtens nach §
109 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) ist vom Sozialgericht dem Grunde nach zugelassen worden, jedoch unter der Bedingung, einen Kostenvorschuss einzuzahlen,
eine Kostenübernahmeerklärung vorzulegen und einen Sachverständigen zu benennen. Nachdem dies die Klägerin nicht gemacht hat,
hat das Sozialgericht die Beteiligten dazu angehört, dass es beabsichtige durch Gerichtsbescheid zu entscheiden.
Am 13.05.2014 hat das Sozialgericht die Klage mit Gerichtsbescheid abgewiesen. Eine rentenrelevante Leistungseinschränkung
sei von den ärztlichen Sachverständigen nicht festgestellt worden. Das Gericht schließe sich der überzeugenden Einschätzung
des Dr. G. ausdrücklich an.
Gegen diesen Gerichtsbescheid hat die Klägerin mit Telefax am 11.06.2014 Berufung zum Bayer. Landessozialgericht eingelegt.
Die Entscheidung habe die Infektsituation der Klägerin nicht hinreichend berücksichtigt. Im häuslichen Bereich könne die Infektvermeidung
durch die Klägerin weitgehend gewährleistet werden; an einem Fremdarbeitsplatz sei dies nicht der Fall.
Der Senat hat einen Befundbericht des behandelnden Allgemeinmediziners Dr. E. eingeholt. Sodann hat er ein Gutachten durch
den Facharzt für Innere Medizin und Hämatologie Dr. D. erstellen lassen. Dieser hat die Klägerin am 12.06.2015 untersucht
und folgende Diagnosen gestellt: 1. Thrombotisch-thrombozytopenische Purpura = Morbus Moschcowitz, Erstdiagnose 12/2009 mit
Plasmapherese 12/2009, rezidiv mit Thrombozytopenie und einmalige Kopfschmerz-Episode ohne Rezidiv im Jahr 2014. 2. Vorbeschriebene
hämolytische Anämie. 3. Unklare Transaminasen-Erhöhung. 4. Verdacht auf systemische Lupus erythematodes. 5. Asthma bronchiale.
6. Reaktive Depression. 7. Hyperthyreose mit Carbimazol-Therapie 2014. 8. Allergien gegen Obst mit Luftnot und Konjunktivitis.
9. Kaiserschnitt (Sectio caesarea) 1994. 10. Entfernung Muttermal am Rücken 2007. In sozialmedizinischer Hinsicht ist ausgeführt
worden, dass im Vordergrund das Infektionsrisiko stehe. Eine Vermeidung aller in der Literatur erwähnten Gefährdungspotentiale
könne jedoch nicht durchgeführt werden. Das allgemeine Lebensrisiko im Umgang mit der Familie, den Freunden und Bekannten
sei genauso hoch einzuschätzen, wie das im normalen Arbeitsleben. Die Klägerin könne mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig
sein, unter Vermeidung von hochinfektionsgefährdeten Tätigkeitsbereichen. Es müsse sich um leichte körperliche Arbeiten im
Sitzen, Stehen oder in wechselnder Stellung im Freien oder in geschlossenen Räumen handeln.
Auf Antrag der Klägerin nach §
109 SGG ist ein Gutachten von ihrem behandelnden Arzt Prof. Dr. C. von der Universitätsklinik F-Stadt erstellt worden. Dieser hat
eine ambulante Untersuchung am 16.12.2015 durchgeführt und in seinem Gutachten vom 14.03.2016 ausgeführt: Im Vergleich zu
den Vorgutachten seien bei der Klägerin keine neuen Erkrankungen aufgetreten. Besonders zu würdigen seien die von der Klägerin
beschriebenen, aber schwer zu objektivierenden Beschwerden und Leistungsminderungen. Als Erklärung hierfür würden in der Fachliteratur
durch die Erkrankung bedingte mikroangiopathische Störungen angenommen. Es sei nicht auszuschließen, dass es sich hierbei
um Spätfolgen der TTP handele. In der Zusammenschau sei von einer deutlich erwerbsmindernden Auswirkung der beschriebenen
Erkrankung auszugehen. Der mit einer Arbeitstätigkeit verbundene Stress könne das Risiko eines erneuten Schubs einer TTP erhöhen.
Die Klägerin könne daher aktuell maximal drei Stunden täglich erwerbstätig sein und alle infektionsgefährdeten Tätigkeitsbereiche
und ungünstige Witterungsbedingungen müssten gemieden werden. Gehstrecken von länger als 300 m erschienen nicht zumutbar.
Zu dem Gutachten hat sich Dr. S. vom Sozialmedizinischen Dienst der Beklagten dahingehend geäußert, dass sich aus dem Gutachten
keine neuen Erkenntnisse ergeben würden. Die laborchemischen Parameter würden im Normbereich liegen. Das vermindert angegebene
Leistungsvermögen werde mit der Sorge vor erneuten Schüben begründet.
Der Senat hat bei Dr. C. nachgefragt, welche mikroangiopathischen Störungen bei der Klägerin konkret festgestellt worden seien
und in welchem Ausmaß sie vorliegen würden. Dr. C. hat am 21.07.2016 geantwortet, dass die TTP zu den sogenannten thrombotischen
Mikroangiopathien zähle, die mit Schäden der kleinen Blutgefäße einhergingen. Davon könnten alle Organe betroffen sein. Eine
exakte Diagnosestellung sei jedoch schwierig und zeige sich häufig erst in der Langzeitbeobachtung. Die Klägerin beschreibe
eine schnell auftretende Erschöpfung bereits nach einer Gehstrecke von ca. 300 m und eine früh am Tag einsetzende Müdigkeit.
Diese Beschwerden seien leider schwer objektivierbar, könnten jedoch im Rahmen von mikroangiopathischen Veränderungen als
Folge der TTP gedeutet werden. Differenzialdiagnostisch käme auch eine depressive Erkrankung oder ein rheumatologisches Geschehen
in Frage. Laborchemisch seien bisher keine mikroangiopathischen Störungen an der Niere festgestellt worden. Auch weitere Organschädigungen
seien gegenwärtig nicht manifest.
Die Klägerin beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Würzburg vom 13.05.2014 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides
vom 24.04.2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11.07.2013 dazu zu verurteilen, der Klägerin über den 30.06.2013
hinaus Versichertenrente wegen voller Erwerbsminderung, hilfsweise zu einem späteren Zeitpunkt, zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Würzburg vom 13.05.2014 zurückzuweisen.
Zur Ergänzung des Tatbestands wird auf den Inhalt beider Instanzen sowie der beigezogenen Akte der Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung (§§
143,
144,
151 SGG) ist zulässig, aber nicht begründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Weitergewährung der Rente wegen voller Erwerbsminderung
und auch nicht sonst auf eine Erwerbsminderungsrente.
Gemäß §
43 Abs.
2 Satz 1 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (
SGB VI) haben Versicherte bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung, wenn sie 1.
voll erwerbsgemindert sind, 2. in den letzten 5 Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung 3 Jahre Pflichtbeiträge für eine
versicherte Tätigkeit oder Beschäftigung haben und 3. vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben.
Die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen, die in gleicher Weise für eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung gelten,
hat die Klägerin zum Zeitpunkt des Endes des Zeitrentenbezuges unproblematisch erfüllt. Für einen eventuell nach Unterbrechung
wieder erneut eingetretenen Leistungsfall würde es nach Juli 2015 an der Voraussetzung des §
43 Abs.
2 Satz 1 Nr.
2 SGB VI fehlen, da nach dem Rentenbezug keine weiteren rentenrechtlich relevanten Zeiten vorliegen.
Eine Anwendung von §
241 Abs.
2 SGB VI kommt nicht in Betracht, da die Klägerin zum 01.01.1984 erst 11 Jahre alt gewesen war und damit damals offensichtlich die
allgemeine Wartezeit (5 Jahre Pflichtbeiträge - §
50 Abs.
1 Satz 1
SGB VI) nicht erfüllt gehabt haben konnte.
Voll erwerbsgemindert sind gemäß §
43 Abs.
2 Satz 2
SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen
des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 3 Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Die medizinischen Anspruchsvoraussetzungen
für eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung nach §
43 Abs.
1 SGB VI erfordern, dass ein Versicherter nicht mindestens 6 Stunden täglich einsatzfähig ist. Ergänzend führt §
43 Abs.
3 SGB VI aus, dass nicht erwerbsgemindert ist, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 6 Stunden
täglich erwerbstätig sein kann, wobei die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen ist.
Eine volle Erwerbsminderung im Sinne von §
43 Abs.
2 Satz 2
SGB VI liegt bei der Klägerin zur Überzeugung des Senats ab Juli 2013 nicht mehr vor. Die Klägerin ist nach dem Abklingen ihrer
Krankheitssymptome wieder in der Lage, wenigstens 6 Stunden täglich Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu verrichten,
wobei es sich um leichte Tätigkeiten überwiegend im Sitzen oder mit der Möglichkeit zu wechselnder Körperhaltung handeln soll.
Ausgeschlossen sind ungünstige äußere Witterungsbedingungen - insbesondere Arbeit im Freien - und die Einwirkung von Bronchialreizstoffen,
ferner mehr als gelegentlicher Publikumsverkehr und übermäßige nervliche Belastungen. In diesem zeitlichen Rahmen ist der
Klägerin eine Erwerbstätigkeit auch ohne gesundheitliche Gefährdung möglich, wenn die Arbeitsplätze kein erhöhtes Infektionsrisiko
aufweisen. Der Senat entnimmt dies den Feststellungen des Dr. R., des Dr. G. und des Dr. D ... Entgegen der Auffassung der
behandelnden Ärzte der Klägerin, wobei sich Dr. C. auch gutachterlich geäußert hat, ist es nicht zwangsläufig, dass an jedem
Arbeitsplatz ein erhöhtes Infektionsrisiko oder Stresspotential vorliegen muss. Vielmehr lassen sich durch entsprechende Arbeitsplatzgestaltung
diese Risiken auf dem Level eines ubiquitären Rückfallrisikos halten.
Die Ausführungen des Dr. C., wonach als Folge von Mikroangiopathien ein Leistungsvermögen von weniger als 3 Stunden zu begründen
sei, vermögen nicht zu überzeugen. Dr. C. räumt auf Nachfrage selbst ein, dass das Vorliegen derartiger Mikroangiopathien
bei der Klägerin objektiv nicht belegt ist und die Annahme der Einschränkungen derzeit letztlich ausschließlich auf die subjektiven
Angaben der Klägerin zur erlebten Leistungsschwäche gestützt ist. Ein hinreichender Nachweis einer aktuell vorliegenden quantitativen
Leistungsminderung ist damit nicht geführt.
Das unmittelbare Vorliegen von teilweiser Erwerbsminderung (§
43 Abs.
1 Satz 2
SGB VI) ist ebenfalls nicht belegt, da eine Einsatzfähigkeit von zwar zumindest 3 Stunden, aber weniger als 6 Stunden täglich von
keinem der im Verfahren gehörten Ärzte für den fraglichen Zeitraum beschrieben worden ist.
Somit ist es auch unerheblich, dass eine Rente wegen voller Erwerbsminderung nach der Rechtsprechung des BSG (Beschl. v. 11.12.1969 - Az. GS 4/69; Beschl. v. 10.12.1976 - Az. GS 2/75, GS 3/75, GS 4/75, GS 3/76 - jeweils zitiert nach [...]) zusätzlich in Betracht kommt, wenn eine teilweise Erwerbsminderung vorliegt, eine Teilzeitbeschäftigung
nicht ausgeübt wird und der Teilzeitarbeitsmarkt als verschlossen anzusehen ist (Gürtner in: Kasseler Kommentar, Stand August
2012, §
43 SGB VI Rn 30 mwN).
Allerdings kann in bestimmten Ausnahmefällen eine Rentengewährung wegen voller Erwerbsminderung selbst dann erfolgen, wenn
- wie im Fall der Klägerin - eine relevante quantitative Einschränkung ihres Leistungsvermögens an geeigneten Arbeitsplätzen
nicht nachgewiesen ist. Dazu müssten jedoch die Voraussetzungen für einen von der Rechtsprechung des BSG entwickelten sog. Katalogfall erfüllt sein, was bei der Klägerin aus Sicht des Senates im strittigen Zeitraum ab Juli 2013
nicht der Fall ist. Nach der aktuellen Rechtsprechung des BSG (Urt. v. 09.05.2012, B 5 R 68/11 R - zitiert nach [...]) ist bei der Prüfung, ob ein Ausnahmefall vorliegt, mehrschrittig vorzugehen. Zunächst ist festzustellen,
ob mit dem Restleistungsvermögen Verrichtungen erfolgen können, die bei ungelernten Tätigkeiten üblicherweise gefordert werden,
wie Zureichen, Abnehmen, Transportieren, Reinigen, Maschinenbedienung, Kleben, Sortieren, Verpacken, Zusammensetzen von Teilen.
Wenn sich solche abstrakten Handlungsfelder nicht oder nur unzureichend beschreiben lassen und ernste Zweifel an der tatsächlichen
Einsatzfähigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt unter dessen üblichen Bedingungen aufkommen, stellt sich im zweiten Schritt
die Frage nach der besonderen spezifischen Leistungsbehinderung oder der Summierung ungewöhnlicher Einschränkungen und, falls
eine solche Kategorie als vorliegend angesehen wird, wäre im dritten Schritt von der Beklagten eine Verweisungstätigkeit konkret
zu benennen und die Einsatzfähigkeit dann hinsichtlich dieser Tätigkeit abzuklären (vgl. Gürtner a.a.O. Rn 37 mwN).
Für den Senat ergeben sich bereits keine ernsthaften Zweifel an der Einsatzfähigkeit der Klägerin auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt,
da die Arbeitsfelder Zureichen, Abnehmen, Transportieren, Maschinenbedienung, Sortieren, Verpacken, Zusammensetzen von Teilen
und bedingt auch Reinigen und Kleben als grundsätzlich geeignet anzuführen wären. Hierbei sind jeweils Anforderungen an die
Gestaltung der Arbeitsbedingungen hinsichtlich Infektionsgefahr, Stressbelastung und Atemwegsreizung zu beachten. Es ist jedoch
nicht notwendig, dass die Klägerin keinerlei Publikumsverkehr ausgesetzt ist.
Und selbst wenn man - entgegen der Auffassung des Senats - das Vorliegen von ernstlichen Zweifeln annehmen wollte, so stellen
die bei der Klägerin vorliegenden Gesundheitsstörungen sich nicht als schwere spezifische Behinderung wie etwa eine - ggf.
funktionale - Einarmigkeit und auch nicht als Summierung von ungewöhnlichen Einschränkungen dar. Es ist ein hinreichendes
körperliches Restleistungsvermögen, eine hinreichende Sinneswahrnehmung und eine zwar geschwächte, aber nicht aufgehobene
psychische Stabilität vorhanden. Ein Ausschluss jeglichen Publikumsverkehrs oder weitere ungewöhnliche Einschränkungen der
Arbeitsbedingungen sind nicht erforderlich.
Die Klägerin ist auch nicht gehindert, einen eventuellen Arbeitsplatz zu erreichen. Eine Einschränkung der Gehfähigkeit der
Klägerin unter den von der Rechtsprechung geforderten Umfang (Zurücklegen von 4 mal täglich mehr als 500 Metern in jeweils
weniger als 20 Minuten - vgl. BSG, Urt. v. 21.03.2006, Az. B 5 RJ 51/04 R - nach [...]) liegt nicht vor. Der Gutachter Dr. C., der Gehstrecken über 300 m als nicht zumutbar ansieht, übernimmt hier
ohne jegliche Begründung und zudem ohne eine Spur von kritischem Hinterfragen Angaben der Klägerin. Die Benutzung öffentlicher
Verkehrsmittel wird von den ärztlichen Sachverständigen nicht als eingeschränkt beschrieben und erscheint zur Überzeugung
des Senats nicht ausgeschlossen. Zwar könnte zu den Hauptverkehrszeiten mit einer erhöhten Fahrgastfrequenz auch das Infektionsrisiko
steigen, so dass ggf. besondere Vorkehrungen wie Mundschutz und Handdesinfektion erforderlich sein können. Alternativ käme
auch die Benutzung individueller Verkehrsmittel in Betracht. Ohne dass es darauf ankommen würde, weist der Senat ergänzend
darauf hin, dass für die Tätigkeit von Näherinnen Heimarbeit branchentypisch relativ stark verbreitet ist.
Dementsprechend sind die Entscheidungen der Beklagten, die einen Rentenanspruch der Klägerin in der Zeit ab Juli 2013 nicht
als belegt ansehen, nicht zu beanstanden.
Auch der Hilfsantrag der Klägerin ist nicht begründet. Zunächst ist es schon strittig, ob mit einem Antrag auf Weitergewährung
einer Zeitrente automatisch hilfsweise die Gewährung von Erwerbsminderungsrente für einen späteren Zeitpunkt mitbeantragt
wird. Das kann aber dahingestellt bleiben, da die Klägerin nach den ärztlichen Feststellungen auch nicht zu einem späteren
Zeitpunkt als Juli 2013 erneut voll oder teilweise erwerbsgemindert im Sinne der gesetzlichen Regelungen geworden ist. Zudem
würden für ein erneutes Auftreten von Erwerbsminderung nach August 2015 die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen
(§
43 Abs.
2 Satz 1 Nr.
2 SGB VI) nicht mehr vorliegen.
Die Gewährung einer Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit (§
240 SGB VI) ist nicht beantragt worden und ist auch eindeutig ausgeschlossen, da die Klägerin aufgrund ihres Geburtsdatums nicht zu
dem von dieser Vorschrift erfassten Personenkreis gehört.
Nach alledem war die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Würzburg vom 13.05.2014 als unbegründet
zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG.
Gründe, die Revision gemäß §
160 SGG zuzulassen, liegen nicht vor.