Darlehensweise Übernahme der Kosten einer künstlichen Befruchtung
Übernahme des Eigenanteils als unabweisbaren Bedarf
Kosten einer künstlichen Befruchtung kein Regelbedarf
Inhalt der Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums
Tatbestand:
Die Kläger begehren vom Beklagten die darlehensweise Übernahme der Kosten einer künstlichen Befruchtung.
Unter dem 7. September 2012 bewilligte die damals zuständige Krankenkasse den Klägern wegen einer tubaren Sterilität der Frau
(geb. 1978) und einer Hypoteratozoospermie des Mannes (geb.1984) eine intrazytoplasmatische Spermieninjektion. Genehmigt wurden
drei Zyklen, wobei die Kosten pro Zyklusfall mit 4 051,72 Euro für die Frau und 78,17 Euro für den Mann angegeben wurden.
Es wurde darauf hingewiesen, dass nach §
27 a Sozialgesetzbuch/Fünftes Buch (
SGB V) 50 % der entstehenden Kosten als Eigenanteil zu bedienen seien.
Unter dem 13. September 2012 beantragten die Kläger beim Beklagten die Übernahme des Eigenanteils als unabweisbaren Bedarf
im Sinne von § 24 Abs. 1 Sozialgesetzbuch/Zweites Buch (SGB II).
Mit Bescheid vom 17. September 2012 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 30. November 2012 blieb dem Antrag der Erfolg
versagt. Zur Begründung führte der Beklagte aus, dass die Kläger nach einem Umzug nach B seit Oktober 2012 Leistungen nach
dem SGB II bezögen, davor habe das Jobcenter A Leistungen nach dem SGB II bewilligt. Die von den Klägern beantragte Sonderleistung sei durch die gewährte Regelleistung abgedeckt und stelle nach den
vorliegenden Unterlagen keinen unabweisbaren Bedarf zur Sicherung des Lebensunterhalts dar. Ein unabweisbarer Bedarf liege
dann vor, wenn ein Ansparen aus den Regelleistungen unmöglich sei. Dies treffe dann zu, wenn der Bedarf kurz nach dem Eintritt
der Bedürftigkeit bzw. der Bewilligung von Arbeitslosengeld entstehe oder gleichzeitig mehrere unabweisbare Bedarfe zu decken
seien. Ein Bedarf sei dann nicht unabweisbar, wenn er nicht aufschiebbar, daher zur Vermeidung einer akuten Notsituation unvermeidlich
sei und daher nicht erwartet werden könne, dass die Leistungsberechtigten diesen Bedarf mit den nächsten Leistungen zur Deckung
des Regelbedarfs ausgleichen könnten. Mögliche Kosten einer künstlichen Befruchtung seien jedoch vorhersehbar, so dass eine
entsprechende Planung möglich sei.
Die hiergegen gerichtete Klage, mit der die Kläger geltend gemacht haben, dass sie die Krankenkasse gewechselt hätten und
nun Mitglied einer "Kinderwunschkasse" seien, die 75 % der Kosten übernehme, hat das Sozialgericht Berlin mit Gerichtsbescheid
vom 14. September 2015 abgewiesen. Zur Begründung hat das Sozialgericht ausgeführt, die Voraussetzungen für einen Anspruch
nach § 24 Abs. 1 Satz 1 SGB II lägen nicht vor. Denn bei den begehrten Kosten für eine künstliche Befruchtung handele es sich zur Überzeugung der Kammer
nicht um einen vom Regelbedarf umfassten Bedarf. Nach der genannten Vorschrift erbringe die Agentur für Arbeit bei entsprechendem
Nachweis ein Darlehen, wenn im Einzelfall ein vom Regelbedarf zur Sicherung des Lebensunterhalts umfasster und nach den Umständen
unabweisbarer Bedarf nicht gedeckt werden könne. Kosten für eine künstliche Befruchtung seien schon nicht vom Regelbedarf
umfasst, denn dieser umfasse nach § 20 SGB II insbesondere Ernährung, Kleidung, Körperpflege, Hausrat, Haushaltsenergie sowie persönliche Bedürfnisse des täglichen Lebens.
Zu den persönlichen Bedürfnissen des täglichen Lebens gehöre zwar auch in vertretbarem Umfang eine Teilhabe am sozialen und
kulturellen Leben in der Gemeinschaft. Hiervon seien die Kosten für eine künstliche Befruchtung aber nicht umfasst, denn es
seien nicht gleiche Teilhaberechte wie für Nichtleistungsbezieher zu gewährleisten. Teilhaberechte seien vielmehr an einen
"vertretbaren Umfang" geknüpft. Die Aufwendungen für eine künstliche Befruchtung gehörten in Anbetracht der Kosten für eine
Behandlung von über 4 000,00 Euro pro Zyklus (und einem Eigenanteil von über 1 000,00 bis 2 000,00 Euro) nicht mehr zu einem
vertretbaren Umfang.
Darüber hinaus bestehe keine Unabweisbarkeit des geltend gemachten Bedarfes. Unabweisbar könne im Sinne des Grundsicherungsrechtes
wegen der Subsidiarität dieses Leistungssystems ein medizinischer Bedarf grundsätzlich nur dann sein, wenn nicht die gesetzliche
Krankenversicherung oder Dritte zur Bedarfsdeckung verpflichtet seien. Würden Aufwendungen für eine medizinisch notwendige
Behandlung aus dem Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung ausgeschlossen, könne grundsätzlich ein Anspruch
auf eine Mehrbedarfsleistung entstehen (Urteil des Bundessozialgerichts vom 12. Dezember 2013 - B 4 AS 6/13 -, Rn. 22). Vorliegend handele es sich aber schon nicht um eine medizinisch notwendige Behandlung im Sinne des §
27 SGB V. Die Kostentragung der Krankenkasse zu 50 % sei daher gesondert in §
27 a Abs.
3 Satz 3
SGB V geregelt. Die gegen diese beschränkte Kostenübernahme der Krankenkassen gerichtete Verfassungsbeschwerde sei mit Beschluss
vom 27. Februar 2009 nicht zur Entscheidung angenommen worden (Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 27. Februar 2009
- 1 BvR 2982/07). Nach dieser Entscheidung liege eine Verletzung des Rechts auf Familiengründung und eines Rechts auf Nachkommenschaft unter
Berufung auf Art.
6 und Art.
1 Grundgesetz (
GG) bei nur begrenzter Kostenübernahme nicht vor. Das Bundesverfassungsgericht habe bereits dargelegt, dass aus der staatlichen
Pflicht zum Schutz von Ehe und Familie keine verfassungsrechtliche Verpflichtung des Gesetzgebers entnommen werden könne,
die Entstehung einer Familie durch medizinische Maßnahmen der künstlichen Befruchtung mit den Mitteln der gesetzlichen Krankenversicherung
zu fördern. Nichts anderes könne für den Träger von Grundsicherungsleistungen gelten.
Unabweisbar sei ein Bedarf außerdem immer nur dann, wenn es sich um einen unaufschiebbaren Bedarf handele, der nicht durch
Mittelumschichtungen finanziert werden könne. Der geltend gemachte Bedarf sei nicht unaufschiebbar. Die anteiligen Kosten
für eine künstliche Befruchtung durch die Krankenkassen würden bis zum 40. Lebensjahr für weibliche Versicherte übernommen.
Bei erstmaliger Antragstellung beim Beklagten hätten die Kläger damit mehr als sechs Jahre - zum Zeitpunkt der Entscheidung
mehr als drei Jahre - Zeit gehabt, um die begehrten Leistungen anzusparen. Wenn das Darlehen - wie beantragt - vom Beklagten
gewährt worden wäre, wären die Darlehensansprüche nach § 42 a Abs. 2 Satz 1 SGB II ab dem Monat, der auf die Auszahlung folge, durch monatliche Aufrechnung in Höhe von 10 % der maßgebenden Regelleistung getilgt
worden. Hätten die Kläger diesen Betrag monatlich zurückgelegt, wäre der mit der Klage geltend gemachte Betrag längst angespart
und die Fortführung der Klage entbehrlich.
Gegen den am 21. September 2015 zugestellten Gerichtsbescheid haben die Kläger am 6. Oktober 2015 Berufung eingelegt und sich
zur Begründung im Wesentlichen auf verfassungsrechtliche Fragen bezogen.
Die Kläger beantragen,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 14. September 2015 und den Bescheid der Beklagten vom 17. September 2012
in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. November 2012 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, ihnen ein Darlehen
für die Durchführung einer künstlichen Befruchtung zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Der Senat hat mit Schreiben vom 9. Dezember 2015 noch einmal auf zwei Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts vom 9.
Februar 2010 (1 BvL 1/09; 1 BvL 3/09; 1 BvL 4/09 zitiert nach juris) und 27. Februar 2009 (1 BvR 2982/07 zitiert nach juris) hingewiesen.
Wegen der weiteren Einzelheiten der Rechtsausführungen und der Sachdarstellung wird auf den Inhalt der Verwaltungsakten des
Beklagten und der Gerichtsakte Bezug genommen. Diese haben im Termin vorgelegen und waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung der Kläger ist unbegründet. Die Voraussetzungen für die Gewährung eines Darlehens zur Durchführung
einer künstlichen Befruchtung liegen nicht vor (§ 24 Abs. 1 Satz 1 SGB II).
Zunächst wird zur Vermeidung von Wiederholungen nach §
153 Abs.
2 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) auf die ausführlichen und zutreffenden Entscheidungsgründe des Sozialgerichts Berlin verwiesen, denen sich der Senat nach
eigener Prüfung unter Hinweis auf die mit Richterbrief vom 9. Dezember 2015 aufgezeigte Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
anschließt.
Ergänzend ist Folgendes auszuführen:
Erste Voraussetzung einer Darlehensgewährung nach § 24 Abs. 1 SGB II ist, dass ein grundsätzlich vom Regelbedarf umfasster Bedarf nicht gedeckt werden kann. Zutreffend hat das Sozialgericht
im Ergebnis ausgeführt, dass die Kosten einer künstlichen Befruchtung nicht zum Regelbedarf gehören. Dies folgt u. a. daraus,
dass das Bundesverfassungsgericht im Nichtannahmebeschluss vom 27. Februar 2009, 1 BvR 2982/07, in Rn. 13 und 14 ausgeführt hat, dass die Leistung der künstlichen Befruchtung nicht eine notwendige medizinische Therapie
sei, sondern vorrangig die Wünsche eines Versicherten für seine individuelle Lebensgestaltung betreffe.
Dagegen richtet sich der unmittelbar verfassungsrechtliche Leistungsanspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums
nur auf diejenigen Mittel, die zur Aufrechterhaltung eines menschenwürdigen Daseins unbedingt erforderlich sind. Neben der
rein physischen Existenz des Menschen ist auch ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen
Leben umfasst. Daraus folgt, dass nicht jeder Wunsch - auch wenn er nachvollziehbar ist - eines Leistungsbeziehers im Hinblick
auf die soziale Teilhabe an der Gesellschaft vom Beklagten erfüllt werden muss.
Es kann auch nicht ernsthaft behauptet werden, dass nur durch Geburt und Erziehung eines eigenen Kindes das Mindestmaß an
gesellschaftlicher Teilhabe erfüllt sei. Dies gilt schon deshalb, weil eine Vielzahl von Menschen in der Bundesrepublik aus
den verschiedensten Gründen kinderlos bleiben, sei es, dass sie keinen geeigneten/geeignete Partner/Partnerin finden, sei
es aus Gründen der persönlich bevorzugten Lebensgestaltung. In diesem Zusammenhang ist der zitierten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
auch in aller Eindeutigkeit zu entnehmen, dass keine staatliche Verpflichtung des Gesetzgebers besteht, die Entstehung einer
Familie mit den Mitteln der gesetzlichen Krankenversicherung zu fördern.
In diesem Zusammenhang ist nach Auffassung des Senats auch nicht zu verkennen, dass sich eine Familie (mit Kindern) jedenfalls
grundsätzlich auch ohne die Geburt eines eigenen Kindes verwirklichen lässt. Auf die Möglichkeit der Adoption bei Vorliegen
der Voraussetzungen und der Betreuung von Pflegekindern sei hingewiesen. Vor diesem Hintergrund ist die klägerische Behauptung
im Grundsatz unzutreffend, Hartz-IV-Bezieher seien ohne die hier begehrte Förderung von der Gründung einer Familie ausgeschlossen.
Damit steht fest, dass die Leistungen der künstlichen Befruchtung nicht vom Regelbedarf umfasst sind und schon deshalb kein
Darlehen gewährt werden kann.
Weiterhin fehlt es an der zweiten Voraussetzung des § 24 Abs. 1 Satz 1, da der Bedarf nach den Umständen unabweisbar sein
muss. Eine Unabweisbarkeit ist aber dann nicht gegeben, wenn die Entstehung der Kosten vorhersehbar ist und der Leistungsberechtigte
sich rechtzeitig darauf einstellen kann (Lehr- und Praxiskommentar, SGB II, 5. Auflage, § 24, Rn. 10 m. w. N.). Auch insoweit hat das Sozialgericht zutreffend erkannt, dass eine Unabweisbarkeit in diesem Sinne nicht
vorliegt. Denn bei einem dringenden Kinderwunsch, der durch die Inanspruchnahme einer künstlichen Befruchtung gefördert werden
soll, hätten die Kläger den notwendigen Betrag für zumindest eine Zyklusbehandlung ohne weiteres ansparen können. Bei der
bezeichneten "Kinderwunschkasse" (BKK VBU) hätte die Eigenbeteiligung unter Bezugnahme auf den vorgelegten Behandlungsplan
rund 1 000,00 Euro betragen.
Hätten die Klägerin und der Kläger nur etwa einen Betrag um 10 % der Regelleistung monatlich zurückgelegt (der Einfachheit
halber sei insgesamt mit 60,00 Euro gerechnet), hätte sich bereits nach rund 1 ½ Jahren ein ausreichender Betrag ergeben.
Die Ansparung wäre den Klägern auch zumutbar, da im Falle des Prozesserfolges wirtschaftlich kein anderes Ergebnis im Raum
stünde. Denn nach § 42 a SGB II wäre das Darlehen ab dem Monat nach Auszahlung mit 10 v. H. der Regelleistung zu tilgen gewesen.
Soweit die Kläger im Termin vorgetragen haben, ein Ansparen sei deshalb nicht möglich gewesen, da bereits die berufliche Rehabilitation
des Klägers zu 1) mit eigenen Mitteln zu fördern gewesen wäre, da der Beklagte die gewünschte berufliche Teilhabemaßnahme
nicht bewilligt habe, bestätigt dies die Einschätzung des Bundesverfassungsgerichts, dass es nicht um die Finanzierung einer
medizinisch notwendigen Maßnahme, sondern um die Erfüllung von Wünschen zur Lebensgestaltung geht. Hier haben die Kläger der
beruflichen Rehabilitation des Klägers zu 1. den Vorrang vor ihrem Kinderwunsch eingeräumt.
Abschließend ist daher darauf hinzuweisen, dass die Behauptung der Kläger, sie seien wegen ihrer Bedürftigkeit grundsätzlich
und auf Dauer von Leistungen für die künstliche Befruchtung ihrer gesetzlichen Krankenversicherung ausgeschlossen, unzutreffend
ist.
Ob insoweit überhaupt eine Verletzung des Art.
3 Grundgesetz vorgelegen hätte, kann im Raum stehen, denn, wie eben aufgezeigt, ist die Situation vor Darlehensgewährung wirtschaftlich
betrachtet keine wesentlich andere als die nach Darlehensgewährung. Damit zeigt sich, dass die Kläger entgegen ihrer Behauptung
nicht von der grundsätzlichen Inanspruchnahme von Leistungen nach §
27 a SGB V ausgeschlossen sind.
Die Berufung war daher zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus §
193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision nach §
160 Abs.
2 Nr.
1 und
2 SGG liegen nicht vor.