Beurteilung eines Impfschadens im Impfschadensrecht unter Berücksichtigung des neuesten medizinischen Erkenntnisstandes
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger wegen eines Impfschadens Anspruch auf Versorgungsleistungen hat.
Der Kläger wurde in der 33. Schwangerschaftswoche 1985 geboren. Vor und unter der Geburt kam es zu einer Asphyxierung, d.h.
Sauerstoffmangel und Säureüberladung.
Am 17. April 1986 wurde der Kläger gegen Diphtherie, Tetanus und (oral) Poliomyelitis geimpft. Hierbei handelte es sich um
eine im Land Berlin empfohlene Schutzimpfung. Zwei Wochen danach sackte der Kläger nach den Beschreibungen seiner Mutter in
ihrem Arm schlaff zusammen; sein Gesicht war blass, die Augen halb geschlossen. Nach einigen Minuten setze die Erholung ein.
Fieber und Krämpfe traten nicht auf. Die beiden weiteren Impfungen gegen Diphtherie, Tetanus und Poliomyelitis wurden am 12.
und 30. April 1987 vorgenommen.
Ende 1986 wurde bei dem Kläger eine spastische Tetraplegie mit statomotorischer Entwicklungsverzögerung diagnostiziert. Er
ist als Schwerbehinderter mit einem Grad der Behinderung von nunmehr 100 anerkannt.
Der Kläger stellte bei dem Beklagten im April 2002 den Antrag auf Versorgung wegen eines Impfschadens. Im versorgungsärztlichen
Gutachten vom 20. Februar 2002 kam der Nervenarzt Dr. D zu dem Ergebnis, dass ein Zusammenhang der Impfung mit der infantilen
spastischen Cerebralparese zwar möglich, aber nicht wahrscheinlich sei. Dieser Einschätzungen folgend lehnte der Beklagte
mit Bescheid vom 5. September 2002 den Antrag auf Versorgung wegen eines Impfschadens ab. Hiergegen legte der Kläger Widerspruch
ein. Auf der Grundlage der Stellungnahme der Nervenärztin Dr. M vom 25. Juli 2003 wies der Beklagte den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid
vom 15. August 2003 zurück.
Mit der Klage bei dem Sozialgericht Berlin hat der Kläger sein Begehren weiter verfolgt. Das Sozialgericht hat neben diversen
medizinischen Unterlagen das Gutachten des Prof. Dr. K vom 2. Januar 2005 mit ergänzender Stellungnahme vom 14. Juni 2005
eingeholt, der die Auffassung vertreten hat, es spreche mehr dafür als dagegen, dass die perinatale Asphyxie zu einem leichten
bis mäßigen Hirnschaden geführt habe, jedoch nicht zu der schweren neurologischen Symptomatik, die sich ab Mai 1986 gezeigt
habe. Der größere Anteil der Cerebralparese (mindestens zwei Drittel) sei als Impfschadensfolge einzuordnen. Die Minderung
der Erwerbsfähigkeit sei mit 65 v.H. anzusetzen.
Der Beklagte hat das nach Aktenlage erstattete Gutachten des Prof. Dr. S vom 21. Februar 2006 mit ergänzender Stellungnahme
vom 27. Februar 2006 vorgelegt, der die Ansicht vertreten hat, dass das Krankheitsbild des Klägers plausibel auf die perinatale
Sauerstoffmangelsituation zurückgeführt werden könne. Eine ursächliche oder mitursächliche Rolle der Dreifachimpfung sei höchst
unwahrscheinlich.
In dem vom Gericht eingeholten Gutachten vom 27. November 2006 ist Prof. Dr. D zu dem Ergebnis gelangt, dass eine überwiegende
Wahrscheinlichkeit für die Verursachung der bei dem Kläger vorliegenden Cerebralparese mit beinbetonter spastischer Tetraplegie,
ataktischer Störung und leichter Sprachbehinderung durch die perinatale Asphyxie bestehe, jedoch keine Wahrscheinlichkeit
für eine zusätzliche Impfschädigung.
Mit Urteil vom 10. Mai 2007 hat das Sozialgericht den Beklagten verpflichtet, dem Kläger wegen der Impfung vom 17. April 1986
unter Anerkennung der Cerebralparese mit beinbetonter spastischer Tetraplegie, ataktischer Störung und leichter Sprachbehinderung
als Impfschadensfolge ab April 2001 Versorgung nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 65 v.H. zu gewähren: Prof. Dr.
K habe nachvollziehbar begründet, dass bei dem Kläger eine zentralnervöse Lähmung bzw. Encephalopathie vorgefallen sei, die
durch ein vaskuläres Immunkomplexgeschehen hervorgerufen worden sei. Die Einwände des Prof. Dr. S überzeugten nicht, da er
sich allein darauf berufe, dass die Encephalopathie nicht in den Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit genannt
sei. Gleiches gelte für die Ausführungen des Prof. Dr. D, der lediglich angebe, dass die dargestellten Symptome eine akute
entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems nicht stützten, ohne dies näher zu begründen.
Zwischen der Impfung und der unüblichen Impfreaktion bestehe mit überwiegender Wahrscheinlichkeit ein Zusammenhang. Dem Gutachten
des Prof. Dr. K werde gefolgt. Die Impfreaktion sei zwar nicht bereits im Zeitpunkt der Erkrankung geklärt worden, da seinerzeit
der durchschnittliche Informationsstand bezüglich der sehr selten vorkommenden Impfreaktion noch nicht so war, dass eine sorgfältige
Diagnostik hätte stattfinden müssen, jedoch nachträglich durch den Sachverständigen anhand der vorliegenden Befunde, insbesondere
der Kopfumfangskurve des Klägers, diagnostiziert worden. Auch der von den Anhaltspunkten geforderte Ausschluss anderer Ursachen
für die zentralnervöse Schädigung sei durch Prof. Dr. K schlüssig belegt worden. Der Gutachter habe anhand der auf Fotos sichtbaren
Fingerhaltung des Klägers durchaus gesehen, dass dieser bereits vor der Impfung unter einer Hirnschädigung gelitten habe,
jedoch dargelegt, dass die Entwicklung des Klägers bis zur Impfung lediglich Anlass zu der Annahme einer mäßigen Hirnschädigung
gebe, die als alleinige Ursache für die nunmehr bestehenden schweren neurologischen Ausfallerscheinungen ausscheide. Aussagekräftig
sei insbesondere die Kopfumfangkurve des Klägers, die sich bis zum Mai 1986 im normalen Bereich bewegt habe, was für eine
normale Hirnentwicklung spreche. Nach der Impfung sei die Kurve markant unter das durchschnittliche Wachstum abgefallen, wodurch
ein Entwicklungsknick im Hirnwachstum belegt sei. Die haftungsausfüllende Kausalität sei ebenfalls mit hinreichender Wahrscheinlichkeit
gegeben. Es sei mit Prof. Dr. K davon auszugehen, dass die bei dem Kläger vorliegenden Gesundheitsstörungen zu 2/3 durch die
unübliche Impfreaktion verursacht worden seien.
Gegen diese Entscheidung hat der Beklagte Berufung eingelegt. Er bringt insbesondere vor, dass der Antrag erst 15 Jahre nach
der Impfung gestellt worden sei und dass sich aus den vorliegenden medizinischen Unterlagen, die nach der Impfung erstellt
worden seien, keine Anhaltspunkte für einen Impfschaden ergäben. Es sei nicht nachvollziehbar, wie Prof. Dr. K die fehlende
Diagnostik jetzt nachgeholt haben solle. Er bezieht sich weiter auf die von ihm vorgelegten Stellungnahmen des Prof. Dr. S
vom 6. Februar und 25. Juni 2009.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 10. Mai 1997 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen, hilfsweise, 1. durch Anfrage bei der ständigen Impfkommission die Tatsache zu erweisen, dass
die heute verwendeten Impfstoffe gegen Polio, Diphtherie und Tetanus nicht identisch sind mit den bei dem Kläger verwendeten
Impfstoffen, 2. zum Beweis der Tatsache, dass Erkrankungen des Zentralnervensystems gerade bei immunologisch unreifen Kindern
auch ohne Fieberausbrüche einhergehen können, Beweis zu erheben durch Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachten
eines erfahrenen klinisch tätigen Arztes, der über Erfahrungen auch von Impfungen in den Achtziger Jahren verfügt.
Er hält die Entscheidung des Sozialgerichts für zutreffend.
Dem Senat haben die Verwaltungsvorgänge des Beklagten vorgelegen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren. Wegen der
weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Schriftsätze, das Protokoll und die Verwaltungsvorgänge
der Beklagten.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung des Beklagten begründet.
Das Sozialgericht hat den Beklagten zu Unrecht verpflichtet, dem Kläger wegen der Impfung vom 17. April 1986 unter Anerkennung
der Cerebralparese mit beinbetonter spastischer Tetraplegie, ataktischer Störung und leichter Sprachbehinderung als Impfschadensfolge
ab April 2001 Versorgung nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 65 v.H. zu gewähren. Denn der Kläger hat hierauf keinen
Anspruch.
Maßgebend sind zum einen die Vorschriften des Bundes-Seuchengesetzes (BSeuchG), die für den Zeitraum bis zum 31. Dezember
2000 anzuwenden sind, da das sie ablösende Infektionsschutzgesetz (IfSG) ohne Übergangsvorschrift am 1. Januar 2001 in Kraft getreten ist; für die Zeit danach sind der Entscheidung die - im Wesentlichen
inhaltsgleichen - Vorschriften des IfSG zu Grunde zu legen (vgl. Bundessozialgericht -BSG-, Urteil vom 20. Juli 2005, B 9a/9 VJ 2/04 R, SozR 4-3851 § 20 Nr. 1).
Nach § 51 Abs. 1 Satz 1 BSeuchG bzw. § 60 Abs. 1 Satz 1 IfSG erhält derjenige, welcher durch eine empfohlene oder angeordnete Schutzimpfung eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat,
wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen des Impfschadens auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung
der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes (BVG). Ein Impfschaden ist nach § 52 Abs. 1 Satz 1 BSeuchG ein über das übliche Ausmaß einer Impfreaktion hinausgehender Gesundheitsschaden, nach § 2 Nr. 11 IFSG die
gesundheitliche und wirtschaftliche Folge einer über das übliche Ausmaß einer Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen
Schädigung durch die Schutzimpfung.
Erforderlich ist, dass die schädigende Einwirkung (die Impfung), die gesundheitliche Primärschädigung in Form einer unüblichen
Impfreaktion und die Schädigungsfolge (ein Dauerleiden) nach allgemeinen Rechtsgrundsätzen nachgewiesen und nicht nur wahrscheinlich
sind (BSG, Urteil vom 19. März 1986, 9 a RVi 2/84, SozR 3850 § 51 Nr. 9). Für den ursächlichen Zusammenhang zwischen dem schädigenden
Ereignis und der (Primär-) Schädigung sowie zwischen dieser und den Schädigungsfolgen genügt es, wenn die Kausalität wahrscheinlich
ist (§ 52 Abs. 2 Satz 1 BSeuchG bzw. § 61 Satz 1 IfSG). Wahrscheinlich in diesem Sinne ist die Kausalität dann, wenn wenigstens mehr für als gegen sie spricht, d.h. wenn die für
den Zusammenhang sprechenden Umstände mindestens deutlich überwiegen (BSG, a.a.O., m.w.N.).
Der Kläger wurde am 17. April 1986 gegen Diphtherie, Tetanus und Poliomyelitis geimpft. Hierbei handelte es sich um eine im
Land Berlin empfohlene Schutzimpfung. Indes hat er nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit einen Gesundheitsschaden
in Form einer Cerebralparese als Folge dieser Impfungen erlitten, denn ein Impfschaden als (Primär-) Schädigung hat sich nicht
nachweisen lassen.
Ein Impfschaden ist nach § 52 Abs. 1 S. 1 BSeuchG ein über das übliche Ausmaß einer Impfreaktion hinausgehender Gesundheitsschaden,
nach § 2 Nr. 11 IFSG die gesundheitliche und wirtschaftliche Folge einer über das übliche Ausmaß einer Impfreaktion hinaus
gehenden gesundheitlichen Schädigung durch die Schutzimpfung. Welche Impfreaktionen als Impfschäden anzusehen sind, ließ sich
den Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht
(AHP) in ihrer jeweils geltenden Fassung und hier jeweils der Nr. 57 entnehmen. Die AHP gaben den der herrschenden medizinischen
Lehrmeinung entsprechenden aktuellen Kenntnis- und Wissensstand wieder, u. a. auch über die Auswirkungen und Ursachen von
Gesundheitsstörungen nach Impfungen. Die als medizinische Sachverständige tätigen Gutachter und die Versorgungsverwaltungen
sind an die in den AHP enthaltenen Erkenntnisse für die Begutachtung bzw. Entscheidungen über Anträge auf Versorgung gebunden
(BSG, Urteil vom 27. August 1998, Az. B 9 VJ 2/97 R, USK 98120, m.w.N.). Die AHP besaßen zwar keine Normqualität, wirkten jedoch wie Richtlinien für die ärztliche Gutachtertätigkeit,
weshalb sie im Interesse einer gleichmäßigen Rechtsanwendung wie untergesetzliche Normen heranzuziehen waren (ständige Rechtsprechung,
BSG, a.a.O., m.w.N.). Ihre generelle Richtigkeit kann durch Einzelfallgutachten nicht widerlegt werden. Die AHP sind allerdings
- wie jede untergesetzliche Rechtsnorm - zu prüfen auf ihre Vereinbarkeit mit Gesetz und Verfassung, auf Berücksichtigung
des gegenwärtigen Kenntnisstandes der sozialmedizinischen Wissenschaft sowie auf Lücken in Sonderfällen, die wegen der individuellen
Verhältnisse gesondert zu beurteilen sind. Die Gerichte können jedoch grundsätzlich davon ausgehen, dass der ärztliche Sachverständigenbeirat
- Sektion Versorgungsmedizin - regelmäßig die ihm gestellte Aufgabe erfüllt und bei jeder Ausgabe der AHP sowie danach durch
laufende Überarbeitung neue Erkenntnisse und Fortschritte in der medizinischen Wissenschaft über die Auswirkungen von Gesundheitsstörungen
berücksichtigt (so BSG, Urteil vom 18. September 2003, B 9 SB 3/02 R, SozR 4 - 3250 § 69 Nr. 2).
Bezogen auf den streitgegenständlichen Zeitraum - der Kläger begehrt Versorgungsleistungen ab April 2001 - ist grundsätzlich
Nr. 57 der AHP in den Fassungen von 1996, 2004 und 2005 heranzuziehen, die für die einzelnen Schutzimpfungen die üblichen
Impfreaktionen von den Impfschäden abgrenzte. Eine Änderung trat mit den AHP 2008 ein, in welcher von einer Aufführung der
spezifischen Impfschäden Abstand genommen wurde. Vielmehr verwies Nr. 57 Satz 1 (S. 191) der AHP 2008 auf die im Epidemiologischen
Bulletin (EB) veröffentlichten Arbeitsergebnisse der bei dem Robert-Koch-Institut eingerichteten Ständigen Impfkommission
(STIKO), die Kriterien zur Abgrenzung einer üblichen Impfreaktion und einer über das übliche Ausmaß einer Impfreaktion hinausgehenden
gesundheitlichen Schädigung (Impfschaden) entwickelte. Nach Nr. 57 Satz 2 (S. 191) der AHP 2008 stellten diese Ergebnisse
den jeweiligen aktuellen Stand der Wissenschaft dar. Hieran änderten auch die in der Anlage zur Versorgungsmedizin-Verordnung
(VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2412) festgelegten "Versorgungsmedizinischen Grundsätze" nichts, die am 1. Januar 2009 in Form einer Rechtsverordnung in Kraft
getreten sind und die AHP abgelöst haben. Denn die Nummern 53 bis 143 der AHP 2008 - und damit der Verweis in Nr. 57 auf die
Mitteilungen der STIKO - behalten auch nach Inkrafttreten der VersorgungsmedizinVerordnung weiterhin Gültigkeit als antizipiertes
Sachverständigengutachten (vgl. BR-Drucks. 767/07, S. 4, zu § 2 VersMedV).
Grundsätzlich ist der neueste medizinische Erkenntnisstand heranzuziehen, und zwar selbst dann, wenn der zu beurteilende Impfvorgang
- wie hier - längere Zeit zurückgeht.
Dies bedeutete zunächst, dass auf die aktuellen Mitteilungen der STIKO vom Juni 2007 (EB Nr. 25/2007, S. 209ff.) abzustellen
wäre. Diese enthalten zwar in erster Linie Hinweise für Ärzte zum Aufklärungsbedarf über mögliche unerwünschte Wirkungen bei
Schutzimpfungen (siehe hierzu Landessozialgericht für das Saarland, Urteil vom 27. Mai 2008, L 5 VJ 10/04, bei Juris). Gleichwohl sind sie grundsätzlich zur Abgrenzung einer üblichen Impfreaktion von einem Impfschaden heranzuziehen.
Denn bei den einzelnen Impfstoffen werden jeweils unter dem mit "Komplikationen" betitelten Abschnitt im zeitlichen Zusammenhang
mit einer Impfung beobachtete Krankheiten bzw. Krankheitserscheinungen dargestellt, bei denen auf Grund der gegenwärtig vorliegenden
Kenntnisse ein ursächlicher Zusammenhang als gesichert oder überwiegend wahrscheinlich anzusehen ist.
Im Streit steht vorliegend der ursächliche Zusammenhang zwischen der Impfung und der Erkrankung des Klägers im Sinne der Verschlimmerung,
nicht im Sinne der Entstehung.
Nach Nr. 42 Abs. 1 Satz 3 (S. 155) der AHP 2008 bzw. nach Teil C Nr. 7a Satz 3 (S. 108) der Anlage zur VersMedV kommt, sofern
zur Zeit der Einwirkung des schädigenden Vorganges bereits ein einer Gesundheitsstörung zugehöriges pathologisches physisches
oder psychisches Geschehen, wenn auch noch nicht bemerkt, vorhanden war, eine Anerkennung im Sinne der Verschlimmerung in
Frage, falls die äußere Einwirkung entweder den Zeitpunkt vorverlegt hat, an dem das Leiden sonst in Erscheinung getreten
wäre, oder das Leiden in schwererer Form aufgetreten ist, als es sonst zu erwarten gewesen wäre.
Bei dem Kläger liegt nach übereinstimmender Einschätzung aller Gutachter, die von den Beteiligten - zu Recht - nicht in Frage
gestellt wird, ein durch die Geburtsasphyxie hervorgerufener Hirnschaden vor. Einigkeit besteht auch darüber, dass derartige
frühkindliche Schäden sich oft verspätet in Gestalt einer Spastik manifestieren. Kern des Rechtsstreits ist die Frage, ob
ein bestimmter Anteil der bei dem Kläger vorliegenden Cerebralparese - der von dem Sozialgericht im Anschluss an das Gutachten
des Prof. Dr. K mit 2/3 angesetzt worden ist - auf die Impfung zurückzuführen ist.
Ein derartiger Zusammenhang ist indes nicht hinreichend wahrscheinlich, weil es am Nachweis eines Impfschadens (atypische
Impfreaktion) als Primär-Schädigung fehlt.
In den Mitteilungen der STIKO vom Juni 2007 (a.a.O. S. 211) sind folgende Komplikationen bei der Verwendung des Diphtherie-Impfstoff
genannt, deren ursächlicher Zusammenhang mit der Impfung auf Grund der gegenwärtig vorliegenden Kenntnisse als gesichert oder
überwiegend wahrscheinlich anzusehen sind:
Allergische Reaktionen an der Haut oder an den Atemwegen treten selten auf. Einzelfälle allergischer Sofortreaktionen (anaphylaktischer
Schock) wurden in der medizinischen Fachliteratur beschrieben. Ebenfalls sehr selten kann es zu Erkrankungen des peripheren
Nervensystems (Mono- und Polyneuritiden, Neuropathie) kommen.
Bei Verwendung des Kombinationsimpfstoffes gegen Diphtherie und Tetanus-Impfstoff (DT-Impfstoff) haften laut den Mitteilungen
der STIKO vom Juni 2007 (a.a.O. S. 211) der Impfung folgende Risiken spezifisch an:
Im Zusammenhang mit einer Fieberreaktion kann es beim Säugling und jungen Kleinkind gelegentlich zu einem Fieberkrampf (in
der Regel ohne Folgen) kommen. Komplikationen der Impfung in Form allergischer Reaktionen an der Haut oder an den Atemwegen
treten selten auf. Im Einzelfall kann es zu Erkrankungen des peripheren Nervensystems (Mono- und Polyneuritiden, Neuropathie)
kommen, auch Einzelfälle allergischer Sofortreaktionen (anaphylaktischer Schock) wurden in der medizinischen Fachliteratur
beschrieben.
Keine der dort genannten Komplikationen sind bei dem Kläger aufgetreten. Insbesondere hat keiner der Sachverständigen eine
Erkrankung des peripheren Nervensystems diagnostiziert.
Allerdings sind die Mitteilungen der STIKO nach Auffassung des Klägers nicht maßgebend. Zur Begründung trägt er vor, dass
sie sich auf die heute verwendeten Impfstoffe gegen Poliomyelitis, Diphtherie und Tetanus bezögen, die nicht identisch mit
den bei dem Kläger verwendeten Impfstoffen seien. Seinem Beweisantrag, dies durch eine Anfrage bei der ständigen Impfkommission
zu klären, ist nicht nachzugehen, da es hierauf nicht ankommt.
Selbst wenn man es als hypothetisch wahr unterstellte, dass die Empfehlungen der STIKO Impfungen mit anderen als die damals
bei dem Kläger verwendeten Impfstoffen beträfen, ist der ursächliche Zusammenhang zwischen der Impfung und der Erkrankung
des Klägers im Sinne der Verschlimmerung weiterhin nicht hinreichend wahrscheinlich. In diesem Fall wären die AHP 2005 heranzuziehen,
deren Voraussetzungen vorliegend nicht erfüllt sind.
Nr. 57 Abs. 12 (S. 198) der AHP 2005 nannte als Impfschäden nach einer Diphtherie-Schutzimpfung:
Sehr selten akut entzündliche Erkrankungen des ZNS; sie bedürfen einer besonders sorgfältigen diagnostischen Klärung. Ein
ursächlicher Zusammenhang mit der Impfung kommt in Betracht, wenn die Erkrankung innerhalb von 28 Tagen nach der Impfung aufgetreten
ist, eine Antikörperbildung nachweisbar war und andere Ursachen der Erkrankung ausscheiden. Sehr selten Neuritis, vor allem
der Hirnnerven (wie bei der Krankheit), Thrombose, Nephritis.
Als Impfschäden nach einer Tetanus-Schutzimpfung führte Nr. 57 Abs. 13 (S. 198) der AHP 2005 auf:
Sehr selten Neuritis, Guillain-Barré-Syndrom.
Der Kläger erfüllt diese Kriterien für die Anerkennung eines Impfschadens wegen einer akut entzündlichen Erkrankung des zentralen
Nervensystems nicht. Der Sachverständige Prof. Dr. K kommt in seinem Gutachten vom 2. Januar 2005 zu dem Schluss, dass es
zwei Wochen nach der Impfung zu einem "zentralnervösen Zwischenfall" gekommen sei. Eine akut entzündliche ZNS-Erkrankung ergibt
sich hieraus nicht. Im Gegenteil wird eine derartige Erkrankung, wie Prof. Dr. D dargelegt hat, durch die dargestellte Symptomatik
nicht gestützt. Die typischen Merkmale einer schweren ZNS-Erkrankung, die Prof. Dr. S in seiner Stellungnahme vom 25. Juni
2006 nennt (Fieber, Krämpfe, Erbrechen, längere Bewusstseinstrübung), fehlten bei dem Kläger. Selbst wenn man die unter Beweis
gestellte Behauptung des Klägers, dass Erkrankungen des Zentralnervensystems gerade bei immunologisch unreifen Kindern auch
ohne Fieberausbrüche einhergehen können, als hypothetisch wahr unterstellte, änderte dies nichts daran, dass vorliegend eine
akut entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems grade nicht positiv festgestellt werden kann. Die Möglichkeit einer
derartigen Erkrankung genügt für die Anerkennung eines Impfschadens nicht. Dem Beweisantrag des Klägers ist deshalb nicht
nachzukommen.
Der (nach den AHP von 2005 erforderliche) Nachweis einer Antikörperbildung mag noch heute möglich sein; zielführend ist er
jedoch nicht, da - worauf Prof. Dr. D hingewiesen hat - hierdurch lediglich eine durchgeführte Impfung bestätigt würde. Ob
es bei der streitentscheidenden ersten Impfung vom 17. April 1986 oder bei den beiden weiteren Impfungen gegen Diphtherie,
Tetanus und Poliomyelitis vom 12. und 30. April 1987 zu einer Antikörperbildung kam, ist nicht mehr zu ermitteln.
Im Übrigen scheiden andere Ursachen der Erkrankung nicht aus. Denn es besteht weiterhin die Möglichkeit, dass die Cerebralparese
auf die Geburtsasphyxie zurückzuführen ist. Der Krankheitsverlauf, insbesondere das durch Prof. Dr. K festgestellte geringere
Schädelwachstum des Klägers im Mai 1986, schließt diese Annahme nicht aus. Zwar verlaufen Cerebralparesen infolge eines Geburtsschadens
niemals progredient. Jedoch stellt die allmähliche Manifestation der Symptome einer Cerebralparese, wie Prof. Dr. S nachvollziehbar
dargelegt hat, keinen fortschreitenden Krankheitsverlauf dar. Die Plastizität des kindlichen Gehirns erlaubt eine Kompensation
zentralnervöser Funktionsausfälle. Zu einem späteren Zeitpunkt gelingt die Restitution nicht mehr, und es kommt zu einer narbigen
Schrumpfung, die schließlich auch Auswirkungen auf das Kopfwachstum hat.
Die weiteren in Nr. 57 Abs. 12 und 13 (S. 198) der AHP 2005 genannten Erkrankungen sind bei dem Kläger nicht dokumentiert.
Hinsichtlich der Erkrankungen, bei denen auf Grund der gegenwärtig vorliegenden Kenntnisse ein ursächlicher Zusammenhang mit
der Poliomyelitis-Schutzimpfung überwiegend wahrscheinlich anzusehen ist, ist - wovon auch die Beteiligten ausgehen - auf
die AHP 2005 abzustellen (vgl. auch Landessozialgericht für das Saarland, a.a.O.). Die Mitteilungen der STIKO vom Juni 2007
enthalten offensichtlich lediglich Angaben zu Kombinationsimpfungen, die neben Diphtherie-, Tetanus- und Poliomyelitis-Impfstoffen
weitere Impfstoffe, insbesondere gegen Pertussis, Haemophilus-influenzae-Typ-b und Hepatitis B enthalten, bzw. zu Auffrischungsimpfungen,
die bei dem Kläger seinerzeit nicht vorgenommen wurden.
Als Impfschäden nach einer Poliomyelitis-Schutzimpfung sind in Nr. 57 Abs. 2 (S. 194f.) der AHP 2005 genannt:
Poliomyelitisähnliche Erkrankungen mit schlaffen Lähmungen von wenigstens sechs Wochen Dauer (Impfpoliomyelitis): Inkubationszeit
beim Impfling 3 bis 30 Tage, Auftreten von Lähmungen nicht vor dem 6. Tag nach der Impfung. - Bei Immundefekten sind längere
Inkubationszeiten zu beachten (bis zu mehreren Monaten). Beim Guillain-Barré-Syndrom ist ein ursächlicher Zusammenhang mit
der Impfung dann wahrscheinlich, wenn die Erkrankung innerhalb von 10 Wochen nach der Impfung aufgetreten ist, außerdem Impfviren
und/oder eine Antikörperbildung nachzuweisen waren und andere Ursachen der Erkrankung ausscheiden. Die sehr selten beobachtete
Meningoenzephalitis und/oder die Manifestation eines hirnorganischen Anfallsleidens ohne die Symptome einer Impfpoliomyelitis
bedürfen stets einer besonders sorgfältigen diagnostischen Klärung. Ein ursächlicher Zusammenhang mit der Impfung ist dann
wahrscheinlich, wenn die Erkrankung zwischen dem 3. und 14. Tag nach der Impfung nachgewiesen wurde und außerdem Impfviren
und/oder eine Antikörperbildung nachzuweisen waren und andere Ursachen der Erkrankung ausscheiden. Einzelne hirnorganische
Anfälle nach der Impfung (z.B. Fieberkrämpfe) mit einer mehrmonatigen Latenz zur Entwicklung eines Anfallsleidens können nicht
als Erstmanifestation des Anfallsleidens gewertet werden.
In keinem der dem Senat vorliegenden Gutachten ist erwähnt, dass der Kläger an einer Impfpoliomyelitis erkrankte. Ebensowenig
sind Hinweise auf ein Guillain-Barré-Syndrom vorhanden. Schließlich wurden bei dem Kläger weder eine Meningoenzephalitis noch
die Manifestation eines hirnorganischen Anfallsleidens diagnostiziert.
Dauerschäden der von Prof. Dr. K bei dem Kläger diagnostizierten Encephalopathie wie spastische Lähmungen und geistige Retardierung
wurden nach Nr. 57 (S. 198) der AHP 2005 unter bestimmten Voraussetzungen als Impfschäden anerkannt waren, allerdings nur
nach Pocken- und Pertussis-Schutzimpfungen, die bei dem Kläger am 17. April 1986 nicht vorgenommen wurden.
Auch mit seinem weiteren Begehren, Entschädigungsleistungen nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 65 v.H. bzw. einem
Grad der Schädigungsfolgen von 65 zu erhalten, dringt der Kläger nicht durch. Ein Anspruch auf Versorgung in entsprechender
Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes setzt nach § 51 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 Satz 1 BSeuchG bzw. § 60 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 Satz 1 IfSG einen Impfschaden im Sinne des § 52 Abs. 1 Satz 1 BSeuchG bzw. § 2 Nr. 11 Halbsatz 1 IfSG voraus, den der Kläger gerade nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit erlitten hat.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG.
Die Revision ist nach §
160 Abs.
2 Nr.
1 SGG zuzulassen. Im Hinblick auf die Legitimationsgrundlage für die Empfehlungen der STIKO und die Frage des Beurteilungsmaßstabs
bei einer weit zurückliegenden Impfung hat die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung.