Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über Kosten für eine Notfallbehandlung der Klägerin im Ausland.
Die Klägerin ist a. Staatsangehörige und lebt in Deutschland von Leistungen der Grundsicherung gemäß dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII), die sie von der Beigeladenen erhält. Sie ist kein Mitglied einer gesetzlichen Krankenversicherung. Ihre Kosten für Krankenbehandlungen
werden im gesetzlich bestimmten Umfang von der Beklagten übernommen, die sich die jeweils entstehenden Kosten von der Beigeladenen
erstatten lässt. Zum Nachweis dieser Kostenübernahme und zur Vorlage bei Ärzten hat die Klägerin von der Beklagten eine Krankenkassenkarte
im Scheckkartenformat mit ihrem Namen erhalten. Auf der Rückseite hat die Klägerin unter den Worten "Europäische Krankenversicherungskarte"
im dafür vorgesehenen Feld unterschrieben. Die weiteren Felder für die Identifikationsmerkmale des jeweiligen Kartenträgers
sowie das Ablaufdatum sind - bis auf die Kartennummer - nicht ausgefüllt bzw. ausgeixt. Die auf der Rückseite befindlichen
Daten der Klägerin übermittelte die Beklagte damals an den Hersteller der Krankenkassenkarte, damit dieser die Karte und das
Begleitschreiben an die Klägerin übersenden würde. Eine Kopie des an die Klägerin versandten Schreibens existiert nicht. Das
von der Beklagten vorgelegte Muster eines Begleitschreibens in diesen Fällen lautet wie folgt:
"Sehr geehrte XX, beigefügt erhalten Sie Ihre elektronische Gesundheitskarte (eGK). Bitte überprüfen Sie die Angaben auf der
Karte und unterschreiben Sie auf der Rückseite. Sollten die Daten nicht korrekt oder die Karte beschädigt sein, informieren
Sie bitte unser HEK-Team Direkt. Sie erhalten dann umgehend Ersatz. Aufgrund des Versicherungsverhältnisses besteht kein Anspruch
auf Ausstellung einer Europäischen Krankenversicherungskarte (EHIC). Daher sind die Felder auf der Rückseite der eGK als ungültig
gekennzeichnet. Die Hinweise zur "Europäischen Krankenversicherungskarte" auf der Rückseite dieses Schreibens gelten daher
nicht. Weitere Informationen zur eGK finden Sie auf der Rückseite dieses Schreibens."
In den Hinweisen zur Nutzung zur Europäischen Krankenversicherungskarte wird ausgeführt, dass diese berechtigt, Leistungen
bei vorübergehendem Aufenthalt in allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union sowie u.a. der Schweiz in Anspruch zu nehmen.
Ergänzend wird dort empfohlen, eine private Auslandsreise-Krankenversicherung abzuschließen.
Im Sommer 2015 besuchte die Klägerin für einige Wochen ihr Enkelkind in der Schweiz. Dort wurde sie wegen eines akuten Myokardinfarkts,
d.h. eines Herzanfalls, bei bekannter koronarer Herzkrankheit vom 7.7. bis 11.7.2015 im S. Spital stationär aufgenommen und
behandelt. Die S. Spitäler AG stellte der Klägerin dafür einen Betrag von 36.362,40 Schweizer Franken (31.970,48 Euro) in
Rechnung. Die Rechnung faxte die Klägerin am 21.12.2015 an die Beklagte, ohne die Rechnung zu begleichen.
Die Beklagte lehnte die Kostenübernahme am 28.12.2015 ab und erläuterte, dass die Klägerin als Sozialhilfeempfängerin den
gesetzlich Krankenversicherten in Art und Umfang der Leistungen zwar grundsätzlich gleichgestellt sei, doch beziehe sich dieser
Anspruch nur auf alle im Inland zur Verfügung gestellten Leistungen.
Auf den dagegen eingelegten Widerspruch der Klägerin vom 15.1.2016 lehnte die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 11.4.2016
die Kostenerstattung weiter ab. Sie begründete dies mit dem Ruhen des Leistungsanspruchs der Beklagten gegenüber der über
§
264 SGB V versicherten Klägerin während ihres Auslandsaufenthalts und verwies auch auf die Fachanweisung zu §
264 Abs.
2 SGB V.
Erst danach beantragte die Klägerin die Übernahme der Kosten durch die Beigeladene. Diese lehnte die Kostenübernahme ab.
Am 30.3.2016 hat die Klägerin Klage vor dem Sozialgericht erhoben. Sie hat vorgetragen, sie habe nicht erkannt, dass sie nur
einen Anspruch auf Leistungen innerhalb Deutschlands habe, weil auf der Rückseite ihrer Krankenkassenkarte "Europäische Krankenversicherungskarte"
stehe. Sollte die Klägerin ihre Versichertenkarte seinerzeit mit einem Schreiben erhalten habe, in dem auch darauf hingewiesen
worden sei, dass ein Anspruch auf Leistungen nur innerhalb Deutschlands bestehe, habe sie dies nicht verstanden. Vor ihrem
Flug in die Schweiz sei sie bzw. sei ihr Sohn zu einer Geschäftsstelle der Beklagten gegangen, um sich im Ausland versichern
zu lassen. Die dortige Mitarbeiterin habe ihr mitgeteilt, dass die Krankenversicherung der Klägerin im Ausland bzw. in der
Schweiz gültig sei und man diese Information der Rückseite der Krankenkassenkarte entnehmen könne.
Die Beklagte hat die Kostenerstattung für die Behandlung weiter abgelehnt. Die Verordnung 883/2004 zur Koordinierung der Systeme
der sozialen Sicherheit (VO 883/04) sei nicht anwendbar. §
13 Abs.
4 bis
6 SGB V seien nicht anwendbar, weil die Klägerin keine Versicherte der gesetzlichen Krankenversicherung sei. Unabhängig davon könne
eine Krankenhausbehandlung nach §
13 Abs.
5 SGB V ohnehin nur nach vorheriger Zustimmung durch die Krankenkasse in Anspruch genommen werden, was hier nicht erfolgt sei. Außerdem
habe die Beklagte die Klägerin ausreichend informiert, dass sie im Ausland nicht versichert gewesen sei. Das ergebe sich schon
aus dem mit der elektronischen Gesundheitskarte übersandten Begleitschreiben. Danach bestehe "aufgrund des Versicherungsverhältnisses
kein Anspruch auf Ausstellung einer Europäischen Krankenversicherungskarte (EHIC)", wobei sich aus den ebenfalls übersandten
Hinweisen zur Nutzung der elektronischen Gesundheitskarte ergebe, dass (nur) die Europäische Krankenversicherungskarte berechtige,
Leistungen bei vorübergehendem Aufenthalt u.a. in der Schweiz in Anspruch zu nehmen.
Auch die Beigeladene hat eine Leistungspflicht abgelehnt. Sie erfülle ihre Pflicht bereits über die Kostenübernahme der durch
die Beklagte gedeckten Bedarfe im Bereich der Krankenbehandlung gemäß §
264 Abs.
7 SGB V.
Das Sozialgericht hat der Klage mit Urteil vom 29.04.2019 stattgegeben und die Beklagte unter Aufhebung der streitigen Bescheide
zur Freistellung der Klägerin von den streitigen Behandlungskosten verurteilt. Die Klägerin könne ihren Anspruch auf einen
sozialrechtlichen Herstellungsanspruch stützen. Das Bundesssozialgericht habe das Rechtsinstitut des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs
im Wege richterlicher Rechtsfortbildung zur "Schließung einer Lücke im Schadensersatzrecht” entwickelt. Unter den Voraussetzungen
des Herstellungsanspruchs könne der Betroffene vom Leistungsträger verlangen, so gestellt zu werden, wie es bei fehlerfreier
Beratung der Fall gewesen wäre. Der Klägerin sei ein Nachteil bzw. Schaden daraus erwachsen, weil sie nicht ausreichend darüber
aufgeklärt worden sei, dass die Kosten für ihre Krankenbehandlungen im Ausland nach der geltenden Rechtslage nicht von der
Beklagten übernommen werden würden. Der sozialrechtliche Herstellungsanspruch greife nur im Falle einer Regelungslücke. Vorrangige
Ansprüche gegen den Schweizerischen Sozialhilfeträger seien nicht ersichtlich, insbesondere weil die Klägerin sich dort nur
kurzzeitig aufgehalten habe. Eine gesetzliche Grundlage für eine Übernahme, Erstattung oder Freihaltung von Kosten der Klägerin
für einen Krankenhausaufenthalt im Ausland sei weder gegenüber der Beklagten noch der Beigeladenen gegeben.
Gegenüber der Beklagten komme allein ein Anspruch auf Kostenerstattung bzw. Kostenfreihaltung aus §
13 SGB V in Betracht, der hier aber nicht einschlägig sei. Die Klägerin sei kein Mitglied der GKV und damit keine Versicherte im Sinne
des §
13 SGB V. Soweit nach §
264 SGB V "Quasi-Versicherte" wie die Klägerin nach der gesetzgeberischen Intention den Versicherten der Gesetzlichen Krankenversicherung
(GKV) leistungsrechtlich gleichgestellt würden und das für alle Versicherten der GKV geltende Maß der Versorgung anzuwenden
sei, sei der Anspruch dennoch auf Krankenbehandlungen im Inland beschränkt. Trotz Übernahme der Krankenbehandlung durch die
Krankenkasse solle die Leistung materiell eine Leistung nach § 48 SGB XII bleiben. Die Kosten der Krankenbehandlungen von Quasi-Versicherten könnten bzw. müssten gemäß §
264 SGB V nur übernommen werden, "sofern der Krankenkasse Ersatz der vollen Aufwendungen für den Einzelfall ( ) gewährleistet wird".
Der Leistungsanspruch sei damit begrenzt auf den Umfang der Kostenerstattung durch den Sozialhilfeträger. Die Beigeladene
als zuständiger Sozialhilfeträger müsse für die Krankenbehandlung der Klägerin im Ausland indes keine Leistungen erbringen
und entsprechend auch keine Kosten erstatten. § 48 SGB XII sei nicht einschlägig. Gemäß § 48 Satz 2 SGB XII gingen den Leistungen der Hilfe bei Krankheit nach § 48 Satz 1 SGB XII die Regelungen zur Krankenbehandlung nach §
264 SGB V vor. Soweit im Rahmen des §
264 SGB V ein nach außen scheinender Versicherungsschutz durch die gesetzliche Krankenversicherung bestehe, sei der Hilfeempfänger
hierauf zu verweisen. Ansprüche nach § 48 Satz 1 SGB XII seien grundsätzlich ausgeschlossen, wenn eine Kostenübernahme aus §
264 SGB V in Betracht komme. So liege es auch hier, denn die Krankenbehandlungen würden von der Beklagten gemäß §
264 SGB V übernommen. Auch bei erweiterter Auslegung des § 48 SGB XII wäre eine Kostenübernahme der Beigeladenen wegen der Behandlung der Klägerin in der Schweiz wegen des über §
30 Abs.
1 Sozialgesetzbuch Erstes Buch (
SGB I) im SGB XII geltenden Territorialitätsprinzips ausgeschlossen. Die gesetzlich vorgesehenen Ausnahmen des Territorialitätsprinzips seien
hier nicht einschlägig. Etwas anderes ergebe sich nicht aus über- oder zwischenstaatlichem Recht, insbesondere nicht aus der
VO 883/2004, die nicht anwendbar sei. Art. 3 Abs. 5 VO 883/04 schließe Leistungen sozialer oder medizinischer Fürsorge aus.
Die hier einschlägigen Leistungen aus § 48 SGB XII und §
264 SGB V seien den Fürsorgeleistungen zuzuordnen, da sie in Abhängigkeit von einer individuell zu prüfenden Bedürftigkeit zur Sicherung
einer menschenwürdigen Existenz gewährt würden, ohne dass es auf Vorleistungen der Berechtigten wie Beschäftigungs- oder Beitragszeiten
ankomme. Die Klägerin habe jedoch einen Nachteil oder Schaden erlitten, der Voraussetzung für den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch
sei (vgl. BSG, Urteil vom 22.2.1972, 3 RK 56/70, Juris Rn. 11). Die Belastung mit der Zahlungsverpflichtung durch die Schweizer Behandlung sei als Schaden zu bewerten. Die
Beklagte habe die Klägerin nicht ausreichend beraten und insbesondere nicht darüber aufgeklärt, dass sie Kosten für Behandlungen
im Ausland in keinem Fall übernehme. Unabhängig von einem möglicherweise mit dem Sohn der Klägerin geführten Gespräch über
den Krankenversicherungsschutz der Klägerin bei einer Reise in die Schweiz habe die Beklagte die Klägerin bereits bei Übersendung
der elektronischen Gesundheitskarte nicht darüber aufgeklärt, dass sie Kosten für Behandlungen im Ausland in keinem Fall übernehme.
Bei Übersendung der Krankenkassenkarte habe die Beklagte auf den begrenzten Anwendungsbereich des Versicherungsschutzes eindeutig
hinweisen müssen, um die Klägerin vor einer Situation wie der vorliegenden zu schützen. Die Beklagte könne den für die Klägerin
entstandenen Schaden wiedergutmachen. Es sei der vom Gesetz vorgesehene rechtmäßige Zustand herzustellen, wie er bestünde,
wenn die Beklagte sich ordnungsgemäß verhalten hätte. Durch die Freistellung von den Kosten aus der Behandlung in der Schweiz
würde die Klägerin insoweit entlastet, dass der Schaden durch die fehlende bzw. falsche Beratung nachträglich ausgeglichen
würde.
Die Beklagte hat gegen das ihr am 05.08.2019 zugestellte Urteil am 09.08.2019 Berufung eingelegt. Sie macht geltend, dass
vor der Reise der Klägerin in die Schweiz keine Beratung durch die Beklagte stattgefunden habe. Die Angaben der Klägerin bzw.
ihres Sohnes hierzu seien widersprüchlich.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts vom 29. April 2019 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält die Entscheidung des Sozialgerichts für zutreffend.
Die Beigeladene stellt keinen Antrag.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Prozessakte sowie der Verwaltungsakte der Beklagten
Bezug genommen.
Die Berufung hat auch in der Sache Erfolg. Das Sozialgericht ist zu Unrecht davon ausgegangen, dass die Voraussetzungen eines
Herstellungsanspruchs gegeben sind. Es hat die Beklagte daher zu Unrecht zur Freistellung von den Kosten der stationären Behandlung
der Klägerin in der Schweiz verurteilt. Vielmehr sind die den Anspruch ablehnenden Bescheide der Beklagten nicht zu beanstanden.
Dass der Versicherungsschutz der Klägerin keinen Auslandsschutz umfasste, hat das Sozialgericht zutreffend dargestellt. Hierauf
wird Bezug genommen.
Eine Verurteilung der Beklagten auf der Grundlage eines Herstellungsanspruchs scheidet jedoch schon aus, weil dieser von seiner
Rechtsfolge nicht das Begehren der Klägerin abdecken kann. Der Sache nach begehrt die Klägerin Schadensersatz, denn die Freihaltung
von den Schweizer Behandlungskosten ist keine Rechtsfolge, die das Sozialrecht bei (gedachtem) rechtmäßigem Verhalten der
Beklagten überhaupt vorsieht.
Der sozialrechtliche Herstellungsanspruch ist ein vom BSG entwickeltes Rechtsinstitut, das an die Verletzung behördlicher Auskunfts-, Beratungs- und Betreuungspflichten im Sozialrechtsverhältnis
anknüpft. Der Anspruch soll "als Institut des Verwaltungsrechts eine Lücke im Schadensersatzrecht schließen". Er ist aber
nicht auf die Gewährung von Schadensersatz i.S. einer Kompensationsleistung in Geld, sondern auf Naturalrestitution gerichtet,
d.h. auf Vornahme einer Handlung zur Herstellung einer sozialrechtlichen Position i.S. desjenigen Zustandes, der bestehen
würde, wenn der Sozialleistungsträger die ihm aus dem Sozialrechtsverhältnis erwachsenen Nebenpflichten ordnungsgemäß wahrgenommen
hätte (vgl. BSG, Urt. v. 22.03.1989 - 7 RAr 80/87). Die begehrte Amtshandlung muss ihrer Art nach zulässig sein (vgl. BSG, Urt. v. 22.02.1980 - 12 RK 34/79).