Anspruch auf Arbeitslosengeld II; Zulässigkeit einer Absenkung; Verpflichtung zur gleichzeitigen Entscheidung über ergänzende
Sachleistungen
Gründe:
Der Senat hat von Amts wegen das Rubrum berichtigt, weil nach § 6d 2. Alt. SGB II der Antragsgegner den Zusatz Jobcenter in
seine Trägerbezeichnung aufzunehmen hat.
Die am 1. November 2010 bei dem Sozialgericht Frankfurt am Main (SG) eingelegte Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des SG vom 4. Oktober 2010 mit dem sinngemäßen Antrag,
den Beschluss des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 4. Oktober 2010 aufzuheben und die aufschiebende Wirkung ihres Widerspruchs
gegen den Absenkungsbescheid des Antragsgegners vom 26. Juli 2010 anzuordnen,
hat in der Sache keinen Erfolg.
Statthaft ist das Rechtsschutzbegehren der Antragstellerin gemäß §
86b Abs.
1 S. 1 Nr.
2 und S. 2
SGG.
Danach kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag in den Fällen, in denen (Anfechtungs-) Widerspruch oder Anfechtungsklage
keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen (S. 1). Ist der Verwaltungsakt im
Zeitpunkt der Entscheidung schon vollzogen oder befolgt worden, kann das Gericht auch die Aufhebung der Vollziehung anordnen
(S. 2).
Der Widerspruch der Antragstellerin gegen den Absenkungsbescheid des Antragsgegners vom 26. Juli 2010, mit dem für den Zeitraum
vom 1. August 2010 bis 31. Oktober 2010 der vollständige Wegfall der Regelleistung und der Leistung zur Deckung des Mehrbedarfs
als Alleinerziehende angeordnet ist, entfaltet nach § 39 SGB II keine aufschiebende Wirkung, so dass ein Antrag auf deren
gerichtliche Anordnung statthaft ist.
Die Antragstellerin könnte ihr einstweiliges Rechtsschutzziel auch vollständig mit einer entsprechenden gerichtlichen Anordnung
der aufschiebenden Wirkung erreichen. Hinsichtlich des Bewilligungszeitraumes vom 1. August 2010 bis 30. September 2010 folgt
das schon daraus, dass mit der Absenkung zugleich eine Abänderung des Bewilligungsbescheids vom 22. März 2010 für die Zukunft
gemäß § 48 SGB X verbunden ist (vgl. BSG, 17.12.2009 - B 4 AS 20/09 R und B 4 AS 30/09 R). Tritt aufschiebende Wirkung ein, hat der Antragsgegner Arbeitslosengeld II wieder auf Grundlage des Bewilligungsbescheids
vom 22. März 2010 zu erbringen. Im Ergebnis verhält es sich so jedoch ebenfalls für den Leistungsmonat Oktober 2010. Zwar
hat im Zeitpunkt des Erlasses des Absenkungsbescheides der Antragsgegner für den Monat Oktober 2010 überhaupt noch keine Leistungen
bewilligt, so dass zum damaligen Zeitpunkt allein mit der aufschiebenden Wirkung die Antragstellerin für Oktober 2010 keine
vorläufigen Leistungen erhalten konnte. Insoweit wäre es erforderlich gewesen, den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden
Wirkung mit einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gemäß §
86b Abs.
2 SGG zu verbinden (vgl. Bayerisches LSG, 9.2.2011 - L 16 AS 829/10 B ER). Mit Bewilligungsbescheid vom 10. September 2010 hat der Antragsgegner jedoch Grundsicherungsleistungen nach dem SGB
II für die Antragstellerin und ihre Tochter ab 1. Oktober 2010 weiterbewilligt. Bei verständiger Auslegung des Bewilligungsbescheids
ist dem Berechnungsblatt zu entnehmen, dass für die Antragstellerin Arbeitslosengeld II in voller Höhe bewilligt ist, soweit
der Verfügungssatz des Absenkungsbescheides nicht zu einer Minderung führt. Deshalb bewirkte ebenso für Oktober 2010 die aufschiebende
Wirkung des Absenkungsbescheides einen vorläufigen Auszahlungsanspruch der Antragstellerin gegenüber dem Antragsgegner aufgrund
des Bewilligungsbescheides vom 10. September 2010, ohne dass es einer weiteren gerichtlichen Anordnung nach §
86 Abs.
2 SGG bedürfte.
Einen ausdrücklichen gesetzlichen Maßstab für die gerichtliche Anordnung der aufschiebenden Wirkung von Widerspruch und Klage
sieht §
86 b Abs.
1 S. 1 Nr.
2 SGG nicht vor. Entscheidungserheblich ist, ob im Rahmen einer offenen Interessenabwägung einem öffentlichen Interesse an der
sofortigen Vollziehung des Verwaltungsaktes Vorrang gegenüber schützenswerten Interessen des Adressaten einzuräumen ist (vgl.
Krodel, NZS 2001, S. 449 ff. m.w.N.). Sind Widerspruch oder Klage in der Hauptsache offensichtlich unzulässig oder unbegründet, so ist der Antrag
auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ohne weitere Interessenabwägung grundsätzlich abzulehnen, weil der gesetzlich angeordneten
sofortigen Vollziehung des Verwaltungsaktes kein schützenswertes Interesse des Bescheidadressaten entgegenstehen kann. Sind
dagegen Widerspruch oder Klage in der Hauptsache offensichtlich zulässig und begründet, ist dem Antrag stattzugeben, weil
dann kein öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung besteht. Bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens, wenn
etwa eine vollständige Aufklärung der Sach- oder Rechtslage im einstweiligen Rechtsschutz nicht möglich ist, ist im Wege einer
Folgenabwägung zu entscheiden, welchem Interesse bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache Vorrang einzuräumen ist. Dabei
darf einerseits in die Abwägung einfließen, dass der Gesetzgeber für den Regelfall die sofortige Vollziehung vorgesehen hat,
solange das Rechtsschutzinteresse des Antragstellers unter Beachtung seiner Rechte aus Art.
19 Abs.
4 S. 1
GG berücksichtigt bleibt, insbesondere mit einer sofortigen Vollziehung keine schwere, unzumutbare Härte für ihn verbunden ist.
Andererseits ist dem Aussetzungsinteresse des Antragstellers je eher der Vorrang einzuräumen, desto wahrscheinlicher sein
Erfolg in der Hauptsache ist (Keller in Meyer-Ladewig u.a.,
SGG, 9. Aufl., §
86b, Rn. 12c m.w.N.).
Ausgehend von diesem Maßstab lässt sich derzeit ohne weitere Ermittlungen nicht mit hinreichender Sicherheit klären, ob der
Absenkungsbescheid des Antragsgegners vom 26. Juli 2010 rechtmäßig ist.
Eine Absenkung nach § 31 SGB II idF des Änderungsgesetzes vom 10.10.2007 (BGBl I 2326) - SGB II F. 2007 kommt vorliegend nur
nach § 31 Abs. 1 Nr. 2 SGB II F. 2007 in Betracht, wenn die Antragstellerin trotz Belehrung über die Rechtsfolgen Anlass für
den Abbruch einer zumutbaren Maßnahme zur Eingliederung in Arbeit iSd § 16 SGB II F. 2009 geboten hat, zu der nach der Rechtsprechung
des BSG die Arbeitsgelegenheit nach § 16 Abs. 3 S. 2 SGB II idF des Änderungsgesetzes vom 20.7.2006 (BGBl I 1706) SGB II F.
2006 -, ab 1.1.2009: § 16d idF des Änderungsgesetzes vom 21.12.2008 (BGBl I 2917) - SGB II F. 2009 zählt (BSG, 16.12.2008
- B 4 AS 60/07 R).
Ist die Rechtsfolgenbelehrung im Zuweisungsbescheid vom 29. März 2010 hinreichend konkret, verständlich und vollständig, bestehen
schon gewisse Zweifel, ob die Zuweisung zu einer Arbeitsgelegenheit gegen Mehraufwandsentschädigung (Arbeitsgelegenheit) hinreichend
bestimmt ist, weil ein Hinweis auf die zeitliche Verteilung der 20 Stunden Arbeitszeit wöchentlich nicht zu entnehmen ist
(vgl. hierzu: BSG, 16.12.2008, aaO.). Insbesondere muss für die Antragstellerin bereits aus dem Zuweisungsbescheid erkennbar
sein, dass die Arbeitszeit nur auf Zeiträume verteilt ist, in denen ihr ein Betreuungsplatz für ihr Kind zur Verfügung steht.
Es könnte allerdings ausreichend sein, dass das für die Antragstellerin aus den Umständen erkennbar gewesen ist, weil der
Antragsgegner gerade aus diesem Grunde die Kosten der Betreuung übernommen hat.
Gewichtigere Zweifel bestehen, soweit die Arbeitsgelegenheit gemäß § 10 SGB II zumutbar sein muss. Ausschlaggebend ist hierfür
nicht allein der Umstand, dass die Antragstellerin im maßgeblichen Zeitraum Mutter eines unter 3-jährigen Kindes gewesen ist.
Die nach § 10 Abs. 1 Nr. 3 SGB II der Zumutbarkeit entgegenstehende Gefährdung der Kindeserziehung ist auch bei einem unter
dreijährigen Kind nicht anzunehmen, wenn eine ausreichende Betreuung sichergestellt ist (BSG, 15.12.2010 - B 14 AS 92/09 R). Vorliegend ist jedoch zu beachten, dass die persönliche Entwicklung der Antragstellerin (stationärer Aufenthalt wegen
seelischer Probleme und Drogenabusus von Dezember 2006 bis Juni 2007, die frühe Mutterschaft als Minderjährige, der Status
als Alleinerziehende) gewisse Anhaltspunkte dafür bietet, dass sie auch neben einer halbschichtigen Arbeitsgelegenheit ihrer
elterlichen Erziehungsverantwortung nicht gewachsen sein kann. Insoweit könnten sogar Leistungen der Erziehungshilfe nach
§§ 27 ff. SGB VIII angezeigt sein, soweit die Antragstellerin sie nicht ohnehin bereits erhält - das ist aus der Leistungsakte des Antragsgegners
für den Senat nicht zu erkennen -, ohne das an dieser Stelle entscheiden zu müssen.
Vor allem ist aufgrund dieser Situation für den Senat fraglich, ob die Maßnahme geeignet ist, die Antragstellerin in das Erwerbsleben
einzugliedern. Das ist jedoch zwingende Voraussetzung, weil § 14 i.V.m. § 3 Abs. 1 S. 1 SGB II ausdrücklich Maßnahmen zur
Eingliederung von Arbeit davon abhängig macht, dass sie erforderlich sind, um die Hilfebedürftigkeit zu verringern oder zu
beseitigen. Ergänzend ist in § 3 Abs. 1 S. 2 SGB II bestimmt, dass unter anderem die Eignung und die individuelle Lebenssituation,
insbesondere die familiäre Situation dabei zu berücksichtigen sind.
Insoweit könnten in der Hauptsache weitere Ermittlungen angezeigt sein, um zu klären, ob die Antragstellerin vor allem wegen
ihres Kindes nicht bereits mit der angebotenen Arbeitsgelegenheit überfordert gewesen ist.
Lässt sich damit bereits auf Tatbestandsseite nicht klären, ob der angefochtene Bescheid rechtmäßig ist, kann weiter auf Rechtsfolgenseite
ein Ermessensfehler nach §
39 Abs.
1 SGB I vorliegen, weil der Antragsgegner in dem Absenkungsbescheid sein Ermessen unzureichend ausgeübt haben kann.
So hat der Antragsgegner gemäß § 31 Abs. 6 S. 3 SGB II F. 2007 nach pflichtgemäßem Ermessen zu prüfen, ob die Absenkung auf
sechs Wochen statt drei Monate zu reduzieren ist, wenn der Hilfebedürftige, wie die Antragstellerin, das 25. Lebensjahr noch
nicht vollendet hat. Insoweit hat der Antragsgegner im Rahmen seiner Ermessensbetätigung eine Verkürzung auf sechs Wochen
nur davon abhängig gemacht, dass die Antragstellerin "eine sozialversicherungspflichtige Erwerbstätigkeit, Ausbildung oder
Praktikum mit Option auf eine Festanstellung aufnimmt, bzw. sich verpflichtet, bei der Ausbildungs- bzw. Arbeitssuche verantwortungsbewusst
und zielorientiert mitzuwirken, d.h. notwendige Unterlagen ggf. ordentlich zu erstellen, unverzüglich vorzulegen und zu Terminen
diesbezüglich pünktlich und angemessen zu erscheinen; sich entsprechend zu engagieren, d.h. insbesondere pünktlich und angemessen
zu erscheinen sowie die übertragenen Aufgaben sorgfältig, gewissenhaft und zügig zu erledigen."
Es bleibt schon fraglich, was genau der wiedergegebene Passus im Bescheid verfügen soll. Eine Auflage nach § 32 Abs. 2 Nr. 4 SGB X enthält er nicht, weil zunächst die Absenkung für drei Monate verfügt ist. Am ehesten lässt sich darin eine Bedingung nach
§ 31 Abs. 2 Nr. 2 SGB X erkennen, unter der die Verkürzung auf sechs Wochen erfolgen soll. Die Bedingung ist jedoch weder zeitlich noch inhaltlich
hinreichend bestimmt. Eine fehlerfreie Ermessensbetätigung dürfte damit nicht erfolgt sein. Der Absenkungsbescheid ist schon
deshalb wahrscheinlich rechtswidrig, soweit die Absenkung für mehr als sechs Wochen verfügt ist.
Unschädlich ist es hingegen nach Auffassung des Senats, dass der Antragsgegner im Absenkungsbescheid selber noch nicht nach
§ 31 Abs. 6 S. S. 3 und 4 SGB II F. 2007 ergänzende Sach- oder geldwerte Leistungen erbracht hat (zwingend einheitliche Entscheidung
fordern: LSG Sachsen-Anhalt, 5.1.2011 - L 2 AS 428/10 B ER; LSG Niedersachsen-Bremen 21.4.2010 - L 13 AS 100/10 B ER; LSG Nordrhein-Westfalen 9.9.2009 - L 7 B 211/09 AS ER; LSG Berlin-Brandenburg, 16.12.2008 - L 10 B 2154/08 AS ER; Berlit in LPK-SGB II, § 31 Rn. 146; a.A. LSG Sachsen-Anhalt, 31.8.2009 - L 5 AS 287/09 B ER; LSG Berlin-Brandenburg 8.10.10 - L 29 AS 1420/10 B ER; LSG Nordrhein-Westfalen, 10.12.2009 - L 9 B 51/09 AS ER; LSG Nordrhein-Westfalen, 16.11.2009 - L 5 AS 365/09 B ER). Zwar hat der Leistungsträger von atypischen Fällen abgesehen bei einer Absenkung der Regelleistung um mehr als 30
% solche Leistungen zu erbringen, wenn der Hilfebedürftige in Bedarfsgemeinschaft mit minderjährigen Kindern lebt. Ansonsten
ist hierüber nach Satz 3 der Norm nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden. Dienen die ergänzenden Leistungen der Deckung
des notwendigen Existenzminimums des Hilfebedürftigen ggf. einschließlich minderjähriger Kinder, hat der Leistungsträger ebenso
sicherzustellen, dass bereits zu Beginn des Absenkungszeitraumes diese Leistungen zur Verfügung stehen können. Es ist aber
zu beachten, dass zur ergänzenden Leistungsgewährung weitere Ermittlungen erforderlich sein können, die eine abschließende
Entscheidung im Zeitpunkt der Entscheidung über die Absenkung noch nicht erlauben. Besteht für die Verfügung der Absenkung
und der Erbringung von Sach- bzw. geldwerten Leistungen nicht im selben Zeitpunkt Entscheidungsreife, darf der Leistungsträger
eine Entscheidung im gestuften Verfahren treffen, wenn die ergänzenden Leistungen noch rechtzeitig zu Beginn des Senkungszeitraumes
erbracht werden können und der Leistungsträger auf die ergänzenden Leistungen im Absenkungsbescheid ausdrücklich in einer
Form hinweist, die den Hilfebedürftigen in für ihn hinreichend verständlicher Weise über seine Leistungsansprüche informiert.
Das ist vorliegend der Fall, weil der Antragsgegner die Antragstellerin im Absenkungsbescheid darauf hingewiesen hat, auf
Antrag ergänzende Leistungen zu gewähren, keine Anhaltspunkte dafür vorgelegen haben, dass die Antragstellerin den Hinweis
nicht zur Kenntnis nehmen und entsprechend handeln kann sowie gerade noch genügend Zeit bestanden hat, um zu Beginn des Absenkungszeitraumes
auf Antrag der Antragstellerin die ergänzenden Leistungen zu erbringen - wie der erste Lebensmittelgutschein vom 2. August
2010 verdeutlicht -.
Ist damit im einstweiligen Rechtsschutz nicht abschließend darüber zu entscheiden, ob der Absenkungsbescheid zumindest für
die ersten sechs Wochen rechtmäßig ist, ist im Rahmen der gebotenen Folgeabwägung dem Vollzugsinteresse des Antragsgegners
Vorrang vor dem Aufschubinteresse der Antragstellerin zu geben.
Ausschlaggebend hierfür ist, dass der Antragsgegner auf das Konto der Antragstellerin für sich und ihr Kind am 24. August
2010 auf Grundlage eines Änderungs- und Zugunstenbescheides vom selben Tage eine Nachzahlungsbetrag für den Zeitraum vom 1.
Januar 2009 bis 30. September 2009 in Höhe von 3.440,00 EUR überwiesen hat, der es ihr ohne Weiteres erlaubt, den notwendigen
Lebensunterhalt im Absenkungszeitraum aus der Nachzahlung zu bestreiten, soweit sie anteilig für den Bewilligungszeitraum
bis 31. Juli 2010 erbracht ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf dem Ausgang des Rechtsstreits entsprechend §
193 Abs.
1 S. 1
SGG.
Dieser Beschluss kann nicht mit einer weiteren Beschwerde angefochten werden (§
177 SGG).