Tatbestand
Streitig ist Rente wegen Erwerbsminderung.
Die 1954 geborene Klägerin erlernte von 1969 bis 1971 den Beruf der Herrennäherin. Sie war zuletzt von 1990 bis zum 30.6.1998
im Unternehmen ihres Ehemanns, der Firma S GmbH, als Büro- und Lagerhelferin sozialversicherungspflichtig beschäftigt. In
der Folgezeit bis einschließlich Januar 2010 war die Klägerin durchgehend (mit und ohne Leistungsbezug) arbeitslos gemeldet.
Seit April 2012 ist sie als Schwerbehinderte anerkannt.
Im Juni 2006 beantragte die Klägerin wegen "orthopädische Erkrankungen, Schilddrüsenerkrankung" Rente wegen Erwerbsminderung.
Der von der Beklagten eingeschaltete Arzt für Orthopädie und Chirurgie Dr. L1 hielt die Klägerin noch für in der Lage, leichte
Arbeiten zeitweise im Stehen, Gehen und Sitzen ohne Heben und Tragen von Lasten über 10 kg und ohne Zwangshaltungen sechs
Stunden und mehr arbeitstäglich zu verrichten (Gutachten vom 9.8.2006). Auf dieser Grundlage lehnte die Beklagte den Rentenantrag
ab (Bescheid vom 28.8.2006; Widerspruchsbescheid vom 22.6.2007).
Mit ihrer am 3.7.2006 erhobenen Klage weist die Klägerin darauf hin, dass ihr behandelnder Orthopäde L wegen erheblicher Schmerzzustände
nur von einer Restleistungsfähigkeit von unter drei Stunden arbeitstäglich ausgehe. Da konventionelle Behandlung nicht genüge,
sei eine periradikuläre (Schmerz-)Therapie durchgeführt worden. Wegen der Hüftschmerzen sei ihr der Einsatz einer Totalendoprothese
(TEP) angeraten worden.
Die Klägerin hat beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 28.8.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.6.2007 zu verurteilen,
ihr eine Rente wegen voller Erwerbsminderung, hilfsweise wegen teilweiser Erwerbsminderung unter Zugrundelegung eines Leistungsfalls
vom 9.6.2006 nach Maßgabe der gesetzlichen Vorschriften zu zahlen.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie hat ihre Entscheidung weiter für richtig gehalten.
Die vom Sozialgericht (SG) Aachen beauftragte Sachverständige Fachärztin für Orthopädie und Rheumatologie sowie Ärztin für spezielle Schmerztherapie
Dr. Q hat ein leichtes myotendinöses HWS-Syndrom, ein fortgeschrittenes degeneratives Lumbalsyndrom mit Osteochondrose L3/4,
Facettengelenksarthrose L3 bis S 1 sowie Protrusion L5/S 1, Prolaps L4/5 rechts bei ischialgieformer Ausstrahlung links ohne
sensible oder motorische Ausfälle, eine beginnende Hüftgelenksarthrose links, eine beginnende Kniegelenksarthrose mit Reizsymptomatik
und Erguss, Zustand nach Meniskusoperation links, eine Teilsteife des Großzehengrundgelenks links, eine leichte Beugefehlstellung
beider kleinen Finger, ein chronifiziertes Schmerzsyndrom mit depressiver Grundhaltung und eine therapiepflichtige Schilddrüsenerkrankung
diagnostiziert. Unter Berücksichtigung der Auswirkungen dieser Krankheiten könne die Klägerin noch sechs Stunden und mehr
täglich leichte Tätigkeiten in wechselnder Körperhaltung mit weiteren qualitativen Leistungseinschränkungen verrichten. Die
Gehfähigkeit sei zwar durch die aktuelle Reizung des linken Kniegelenkes sowie eine ischialgieforme Reizung des linken Beines
eingeschränkt. Das demonstrierte schwerfällige Gangbild mit zwei Unterarmgehstützen sei jedoch in diesem Umfang nicht erklärbar
(1. Gutachten vom 20.7.2008). Aufgrund erneuter Untersuchung der Klägerin im Juni 2009 hat die Sachverständige ergänzt: Nach
Einsatz einer Totalendoprothese im linken Hüftgelenks im Juli 2008 sei die Anschlussheilbehandlung mit gutem Ergebnis abgeschlossen
worden. Die Klägerin sei in ihrer Beweglichkeit stark eingeschränkt, indes weiter wegefähig und in der Lage, leichte Tätigkeiten
mit weiteren qualitativen Leistungseinschränkungen für mindestens sechs Stunden arbeitstäglich zu verrichten. Die artikulierten
und demonstrierten Einschränkungen der Gehfähigkeit seien nach den Ergebnissen der klinischen Untersuchung nicht nachvollziehbar.
Es beständen zwar glaubhafte Ausstrahlungen in die Beckenregion sowie zum Teil in den Oberschenkel, jedoch keine Nervenwurzelreizungen
(2. Gutachten vom 28.6.2009).
Das SG hat die Beurteilung der Sachverständigen für überzeugend gehalten und Klage abgewiesen: Die Klägerin könne trotz qualitativer
Leistungseinschränkungen noch leichte Tätigkeiten sechs Stunden und mehr arbeitstäglich verrichten. Sie genieße auch keinen
Berufsschutz, da sie zuletzt nicht im erlernten Beruf, sondern als Hilfskraft in Büro und Lager tätig geworden sei (Urteil
vom 27.10.2009).
Ihre Berufung begründet die Klägerin damit, dass sie Dauerschmerzpatientin sei. Neu hinzugekommen sei ein Bluthochdruckleiden.
Sie könne nicht einmal den Haushalt alleine führen, geschweige denn sechs Stunden und mehr einer Beschäftigung nachgehen.
Kurz vor dem Termin zur mündlichen Verhandlung hat die Klägerin mitgeteilt, es bestehe der Verdacht auf eine beginnende Demenz.
Sie sei von der Nervenärztin T in die Gedächtnissprechstunde der Psychiatrie der "Uni B" überwiesen worden (vorgelegter Überweisungsschein
vom 4.10.2013).
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichtes Aachen vom 27.10.2009 zu ändern und die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 28.8.2006
in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.6.2007 zu verurteilen, der Klägerin bei Annahme eines Versicherungsfalls
der vollen Erwerbsminderung auf Dauer spätestens im Februar 2012 Rente wegen voller Erwerbsminderung nach Maßgabe der gesetzlichen
Bestimmungen zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Das SG habe alle Gesundheitsstörungen berücksichtigt und zutreffend gewürdigt. Der hinzugetretene Bluthochdruck ändere nichts an
der Gesamtbeurteilung. Eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen liege auch nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme
in zweiter Instanz nicht vor. Eine konkrete (Verweisungs-)Tätigkeit, die die Klägerin mit dem verbliebenen Leistungsvermögen
auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch verrichten könne, könne sie allerdings nicht benennen.
Der Senat hat nach schriftlicher Befragung der behandelnden Ärzte auf Antrag der Klägerin ihren behandelnden Orthopäden L
nach §
109 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) als Sachverständigen beauftragt. Dieser hat zahlreiche Verschleißerkrankungen des Skelettsystems festgestellt und den Verdacht
auf beginnende Depression und auf beginnende cerebrale Leistungsminderung geäußert. Inwieweit diese Verdachtsdiagnosen zu
einer Einschränkung der Leistungsfähigkeit führten, müsse einer gesonderten neurologisch-psychiatrischen Untersuchung vorbehalten
bleiben. Im Übrigen gelte: Bei einer adäquaten Schmerztherapie könne die Klägerin noch leichte Tätigkeiten in wechselnder,
frei wählbar Körperhaltung verrichten, ohne Zwangshaltungen, ohne Rumpfbeugehaltung, ohne Heben und Tragen von Lasten über
5 kg, ohne Besteigen von Treppen, Leitern und Gerüsten, in geschlossenen Räumen ohne Zugluft, Kälte und Nässe, Hitze, Zugluft
und starken Temperaturschwankungen, ohne Zeitdruck wie bei Fließbandarbeit oder Wechselschicht. Mit diesen Leistungseinschränkungen
bestehe ein Leistungsvermögen von drei bis unter sechs Stunden täglich. Dieses habe bereits 2006, sicherlich aber mehrere
Monate vor der erfolgten Versorgung des linken Hüftgelenks mit einer TEP vorgelegen, durch die im Übrigen keine Verbesserung
eingetreten sei. Die Klägerin benötige bereits für eine etwas geringere Strecke als 500 Meter ca. 30 Minuten.
Der Senat hat als weitere Sachverständige Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. W1 und Arzt für Orthopädie, Chirurgie und
physikalische Therapie Dr. W eingeschaltet: Dr. W1 hat bei der Untersuchung im Februar 2012 neben einer diskreten Minderung
des Berührungs- und Schmerzempfindens an der linken Hand und Hinweisen auf Nervenwurzelreizerscheinungen am linken Bein eine
leichtgradige kognitive Hirnleistungseinschränkungen mit Minderung der Konzentrations- sowie der Merkfähigkeit diagnostiziert,
die die Leistungsfähigkeit der Klägerin auf geistig sehr einfache Tätigkeiten einschränke (Gutachten vom 1.3.2012).
Dr. W hat degenerative Veränderungen der Lendenwirbelsäule (LWS) bei Lendenwirbelsäulenverbiegung mit rezidivierenden Lumbalgien
und Lumboischialgien ohne Hinweis auf eine höhergradige Nervenwurzelreizung- oder Kompressionssymptomatik, einen Zustand nach
Implantation einer Hüft-TEP links mit mäßiger Bewegungseinschränkung, beginnenden Hüftgelenksverschleiß rechts mit mäßiger
Bewegungseinschränkung, klinische Zeichen eines lokalen Cervicalsyndroms mit anamnestisch bekannten degenerativen Veränderungen
der HWS, klinische Zeichen eines Reizzustandes des Kniescheibengleitweges mit endgradiger Einschränkung der Beugefähigkeit
beider Kniegelenke, anamnestisch nach Meniskusoperation links, einen mäßigen, nicht kontrakten Senkspreizfuß beidseits, kontrakte
Großzehengrundgelenksarthrose links und schmerzfreie leichte Bewegungseinschränkung beider kleinen Finger ohne höhergradige
Funktionsstörung festgestellt. Es sei nicht überwiegend wahrscheinlich, dass die Klägerin in einem größeren Zeitraum vor der
durchgeführten Hüft-TEP soweit in ihrer körperlichen Leistungsfähigkeit herabgesetzt gewesen sei, dass sie keinen leichten
Tätigkeiten habe nachgehen können. Nach der Hüft-TEP habe sie dies allerdings für ca. 3-4 Monaten nicht gekonnt. Danach sei
wieder ein Leistungsvermögen für leichte Tätigkeiten in wechselnder, frei wählbarer Körperhaltung (davon 2/3 in sitzender
Position) mit weiteren qualitativen Leistungseinschränkungen anzunehmen (Gutachten vom 16.2.2012).
Alle in zweiter Instanz beauftragten Sachverständigen (L, Dr. W1 und Dr. W) sind ergänzend gehört worden. Orthopäde L hat
zwar für denkbar gehalten, dass eine Belastung für sechs Stunden zeitweilig möglich ist, jedoch nicht regelmäßig an fünf Tagen
in der Woche. Dr. W hat ergänzt, es sei nicht erkennbar, welches Zusammenwirken der Sachverständige L meine, wenn er ausführe,
dass unter Berücksichtigung des Zusammenwirkens der Einschränkung der Wirbelsäule, der eingeschränkten Konzentrationsfähigkeit
und aller weiteren Diagnosen für die Klägerin nicht möglich sei, einer Erwerbstätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt regelmäßig
sechs Stunden und mehr täglich nachzugehen.
Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten und die Verwaltungsvorgänge der Beklagten Bezug
genommen, die sämtlich Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.
Entscheidungsgründe
Die Berufung ist im zuletzt von der Klägerin noch geltend gemachten Umfang begründet. Ausweislich ihres Sachantrags begehrt
die Klägerin die streitige Rente nur noch aufgrund eines Versicherungsfalls "spätestens im Februar 2012". Wegen der in diesem
Antrag konkludent zum Ausdruck kommenden teilweisen Zurücknahme der Klage (für den vorangehenden Zeitraum) sind Ausführungen
für die Zeit vor Februar 2012 entbehrlich, weil das Verfahren insoweit erledigt ist, §
102 Abs
1 Sozialgerichtsgesetz (
SGG).
Der Bescheid der Beklagten vom 28.8.2006 (in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.6.2007, §
95 SGG) ist rechtswidrig (geworden) und verletzt die Klägerin in ihren Rechten, §
54 Abs
2 S 1
SGG. Die Klägerin hat ab dem 1.3.2012 Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Dauer. Dabei kann dahin stehen, ob
ihr arbeitstägliches Leistungsvermögen auf unter sechs Stunden herabgesunken ist. Denn wegen einer Summierung ungewöhnlicher
Leistungseinschränkungen bestehen berechtigte Zweifel daran, dass sie mit dem verbliebenen Leistungsvermögen noch erwerbstätig
sein kann. Die damit widerleglich vermutete Verschlossenheit des Arbeitsmarktes vermochte die Beklagte nicht durch Benennung
einer objektiv und subjektiv zumutbaren Verweisungstätigkeit zu widerlegen.
Gemäß §
43 Abs
2 S 1
SGB VI haben Versicherte bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung, wenn sie voll
erwerbsgemindert sind, in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte
Beschäftigung oder Tätigkeit entrichtet und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben. Voll
erwerbsgemindert sind zunächst Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind,
unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein, §
43 Abs
2 S 2
SGB VI. Voll erwerbsgemindert ist außerdem, wer (nur) teilweise erwerbsgemindert ist, wenn ihm ein Teilzeitarbeitsplatz nicht zu
Verfügung steht und auch vom Rentenversicherungsträger nicht angeboten werden kann. Das BSG hat nämlich die gesetzlichen Vorgaben durch Richterrecht zum Teil ergänzt (BSGE 43,75 = SozR 2200 § 1246 Nr 13). Diese Rechtsprechung
betrifft Versicherte, die gesundheitsbedingt in einem zumutbaren Beruf nicht mehr mindestens sechs Stunden einsetzbar, also
nur zu Teilzeitarbeit von 3 bis unter sechs Stunden täglich fähig sind. Für diesen Personenkreis hat das BSG den Versicherungsschutz der gesetzlichen Rentenversicherung erweitert und neben das gesetzlich versicherte Gut der Berufsfähigkeit
(Erwerbsfähigkeit) dasjenige der Berufsmöglichkeit (Erwerbsmöglichkeit) gestellt und damit die gesetzlich versicherten Risiken
der Krankheit und Behinderung um dasjenige der Unvermittelbarkeit auf dem (Teilzeit-)Arbeitsmarkt im jeweiligen Antragszeitraum
(sog jeweilige Arbeitsmarktlage) ergänzt; außerdem hat es die Anspruchsschwelle dadurch gesenkt, dass diese auch schon dann
überschritten sein kann, wenn der Versicherte einen zumutbaren Beruf in zeitlicher Hinsicht nur unter sechs Stunden arbeitstäglich
verrichten kann; diese Anspruchsschwelle ist überschritten, falls dem Versicherten binnen eines Jahres kein geeigneter und
freier (Teilzeit-)Arbeitsplatz in einem zumutbaren Beruf angeboten wird; dann ist eine Arbeitsmarktrente in der Form und (im
Übrigen) nach den Regeln einer Rente wegen voller Erwerbsminderung zu bewilligen (BSGE 78, 207 ff = SozR 3-2600 § 43 Nr 13; BSG SozR 3-2200 § 1276 Nr 3). Teilweise erwerbsgemindert ist, wer aus den zur vollen Erwerbsminderung angeführten Gründen außer Stande ist, unter
den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein, §
43 Abs
1 S 2
SGB VI. Nicht (einmal teilweise) erwerbsgemindert ist dagegen, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes
mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann, §
43 Abs
3 1. Hs
SGB VI.
Die Klägerin hat die allgemeine Wartezeit erfüllt, weil sie fünf Jahre mit Beitragzeiten hat, §§
50 Abs
1 S 1, 51 Abs
1 SGB VI. Sie hat auch in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung (hier: 1.3.2007 bis 29.2.2012) drei Jahre Pflichtbeiträge
für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit. Zwar hat die Klägerin ausweislich des aktenkundigen Versicherungsverlaufs
nach dem 30.6.1998 Pflichtbeiträge nur während des Bezugs von Lohnersatzleistungen vom 1.7. - 11.9.1998, 21.9.1998 - 23.1.1999
und 19.5.1999 -21.9.2000 entrichtet. Der Zeitraum von fünf Jahren verlängert sich jedoch um die in den Zwischenzeiträumen
jedenfalls bis Januar 2006 lückenlos vorliegenden Anrechnungszeiten wegen Arbeitslosigkeit, §
43 Abs
4 Nrn 1, 3
SGB VI. Ob die Zeit von Februar 2006 bis Januar 2012 ganz oder mindestens im Umfang von (weiteren) 48 Monaten als Anrechnungszeit
wegen Arbeitslosigkeit zu berücksichtigen ist, kann offen bleiben. Denn ausweislich des aktenkundigen Versicherungsverlaufs
ist jeder Kalendermonat vom 1.1.1984 bis Januar 2006 mit Anwartschaftserhaltungszeiten belegt, §
241 Abs
1 Satz 1
SGB VI. Für die Zeit ab Februar 2006 bedarf es einer solchen Belegung nicht, weil für diese Zeit noch eine Beitragsentrichtung zulässig
ist (, ohne dass sie erfolgen muss), §§
241 Abs
2 Satz 2,
197 Abs
2,
198 SGB VI.
Die Klägerin ist auch voll erwerbgemindert. Nach dem Beweisergebnis ist die Klägerin nämlich spätestens seit Februar 2012
wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes
mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein.
Die Fähigkeit der Klägerin, einer regelmäßigen Erwerbstätigkeit nachzugehen, wird im Wesentlichen durch die Auswirkungen folgender
Gesundheitsstörungen beeinträchtigt:
- degenerative Veränderungen der LWS, LWS-Verbiegung mit rezidivierenden Lumbalgien und Lumboischialgien, zurzeit ohne Hinweis
auf eine höhergradige Nervenwurzelreizung- oder Kompressionssymptomatik,
- Zustand nach Implantation einer Hüft-TEP links mit mäßiger Bewegungseinschränkung, beginnender Hüftgelenksverschleiß rechts
mit mäßiger Bewegungseinschränkung,
- klinisches Zeichen eines lokalen Cervicalsyndroms mit anamnestisch bekannten degenerativen Veränderungen der HWS,
- klinische Zeichen eines Reizzustandes des Kniescheibengleitweges mit endgradiger Einschränkung der Beugefähigkeit beider
Kniegelenke, anamnestisch nach Meniskusoperation links,
- mäßiger, nicht kontrakter Senkspreizfuß beidseits, kontrakte Großzehengrundgelenksarthrose links,
- schmerzfreie leichte Bewegungseinschränkung beider kleinen Finger ohne höhergradige Funktionsstörung,
- diskrete Minderung des Berührungs- und Schmerzempfindens an der linken Hand, Hinweise auf Nervenwurzelreizerscheinungen
am linken Bein,
- leichtgradige kognitive Hirnleistungseinschränkungen mit Minderung der Konzentrationsfähigkeit sowie der Merkfähigkeit,
- Adipositas und Schilddrüsenerkrankung.
Das steht zur Überzeugung des Senats auf Grund der Gutachten der Sachverständigen Dr. W, Dr. W1 und L fest. Ob daneben ein
chronifiziertes Schmerzsyndrom mit depressiver Störung vorliegt (so die Sachverständige Dr. Q), kann offen bleiben, weil es
für die Entscheidung darauf nicht ankommt. Das eingeschränkte Konzentrationsvermögen, das die Sachverständige auf diese Erkrankung
zurückführt, ist nämlich davon unabhängig bei der Beurteilung der Leistungsfähigkeit zu berücksichtigen. Es beruht nach den
von Dr. W1 durchgeführten Testungen nachvollziehbar auf einer hirnorganischen Leistungsstörung. Diese Einschätzung wird durch
den zuletzt vor dem Termin vorlegten ärztlichen Überweisungsschein bestätigt.
Mit den von den gerichtlichen Sachverständigen festgestellten funktionellen Auswirkungen dieser Krankheiten und Behinderungen
kann die Klägerin nur noch leichte Tätigkeiten mit Heben und Tragen von Lasten bis zu 5 kg - kurzzeitig bis zu 7,5 kg - in
wechselnder, frei wählbarer Körperhaltung verrichten. 2/3 der Tätigkeit muss sie sitzend verrichten; dabei muss jederzeit
möglich sein, die Körperhaltung zu ändern. Auszuschließen sind: längeres Stehen, Knien, Hocken, Besteigen von Leitern und
Gerüsten, Tätigkeiten im Freien, Akkord- oder Fließbandarbeit, Zwangshaltungen der HWS- oder Rumpfwirbelsäule, Tätigkeiten
unter Einwirkung von Kälte, Zugluft, starken Temperaturschwankungen oder Nässe. Zudem sind der Klägerin bei stärker eingeschränktem
Konzentrationsvermögen nur noch geistig "sehr" einfache Tätigkeiten möglich.
Das steht zur Überzeugung des Senats nach dem Ergebnis der gesamten Beweisaufnahme fest. Das Gericht stützt sich dabei auf
die ausführlichen, alle Besonderheiten des Falls würdigenden sozialmedizinischen Wertungen der gerichtlichen Sachverständigen
Dres. W und W1. Sie haben die Klägerin persönlich untersucht, ihre Diagnosen unter Einbeziehung sämtlicher aktenkundiger medizinischer
Unterlagen (im Sinne einer Längsschnittbeurteilung) erstellt, dabei das Klägervorbringen gewürdigt und die resultierenden
Leistungseinschränkungen nachvollziehbar hergeleitet.
Soweit der Sachverständige L eine im Längsschnitt häufig unter sechs Stunden täglich eingeschränkte Leistungsfähigkeit annimmt,
kann die Richtigkeit dieser sozialmedizinischen Leistungsbeurteilung dahinstehen. Es kann sogar mit den Sachverständigen Dres
W1 und W als richtig unterstellt werden, dass die Klägerin mit den geschilderten qualitativen Leistungseinschränkungen noch
mindestens sechs Stunden täglich leichte Tätigkeiten versehen kann. Denn sie ist gleichwohl voll erwerbsgemindert, weil sie
mit den geschilderten Einschränkungen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht (mehr) erwerbstätig sein, §
43 Abs
3 SGB VI.
Das Gericht geht nach eingehender Würdigung der Besonderheiten des vorliegenden Falls davon aus, dass der Klägerin auch bei
erhaltener Fähigkeit, leichte Arbeiten zumindest sechs Stunden täglich zu verrichten, der Arbeitsmarkt verschlossen ist. Es
bestehen nach Auffassung des Senats wegen einer "Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen" nämlich ernsthafte Zweifel
am Vorhandensein ausreichender leistungsgerechter Arbeitsplätze auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt für leichte Tätigkeiten,
die die Klägerin mit dem ihr verbliebenen Leistungsvermögen noch verrichten kann. Dadurch wird das Spektrum noch möglicher
leichter Tätigkeiten und damit die betriebliche Einsetzbarkeit weiter eingeschränkt. Die Beklagte hat in der mündlichen Verhandlung
erklärt, sie könne zur Widerlegung der vermuteten Verschlossenheit des Arbeitsmarktes und Abwendung des Rentenanspruchs keine
konkrete Tätigkeit benennen, die die Klägerin mit ihrem Leistungsvermögen noch regelmäßig verrichten kann (vgl dazu zuletzt:
BSGE 109, 189f = SozR 4-2600 § 43 Nr 16f und BSG, Urteil vom 9.5.2012, Az B 5 R 68/11 R = SozR 4-2600 § 43 Nr 18).
Bei der Klägerin liegt wegen einer "Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen" eine überdurchschnittlich starke Leistungsminderung
vor (vgl BSG SozR 4-2600 § 43 Nr 18 Rn 23). Als ungewöhnliche, das Spektrum leichter Tätigkeiten weiter eingrenzende Leistungseinschränkung besteht die
aus der von Dr. W1 gesicherten Hirnleistungsschwäche resultierende Beschränkung der Leistungsfähigkeit auf geistig sehr einfache
Tätigkeiten. Kann bei einer Beschränkung auf geistig einfache Tätigkeiten noch von einer gewöhnlichen Leistungseinschränkung
ausgegangen werden, weil ungelernte Tätigkeiten in der Regel geistig einfach sind (vgl BSG. AaO, Rn 24) , geht die Einschränkung auf geistig sehr einfache Tätigkeiten erkennbar darüber hinaus. Das besondere Ausmaß
dieser Einschränkung wird im Längsschnitt bestätigt durch die zuletzt Anfang Oktober 2013 gestellte Diagnose "Verdacht auf
Demenz". Daneben ist als weitere ungewöhnliche Leistungseinschränkung das Zusammenwirken der verschiedenen orthopädischen
Leiden insofern anzusehen, als die Klägerin deswegen etwa 2/3 der Arbeitszeit im Sitzen arbeiten und außerdem die Möglichkeit
haben müsste, ihre Körperposition jederzeit frei wählbar zu verändern. Diese Vorgaben gehen über die mit schmerzhaften Bewegungseinschränkungen
der Gelenke und der Wirbelsäule regelmäßig eingehenden Beschränkung des Leistungsvermögens auf körperlich leichte Tätigkeiten
im (gelegentlichen) Wechsel von Gehen, Stehen und Sitzen ebenfalls erheblich hinaus. Das Leistungsspektrum der für die Klägerin
allenfalls noch zumutbaren leichten Arbeiten wird durch die Summierung dieser beiden ungewöhnlichen Leistungseinschränkungen
(stark reduziertes geistiges Leistungsvermögen und frei wählbare Körperhaltung bei überwiegendem Sitzen) derart weiter eingeschränkt,
dass zur Überzeugung des Senats nicht mehr allgemein davon auszugehen ist, dass Tätigkeiten dieser Art in ausreichendem Maß
auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt vorhanden sind. Die daraus resultierende (widerleglich) vermutete Verschlossenheit des Arbeitsmarktes
hat die Beklagte nicht widerlegt, sondern ausdrücklich erklärt, sie vermöge eine leistungsgerechte Tätigkeit, die auf dem
allgemeinen Arbeitsmarkt noch ausreichend vorkomme, nicht zu benennen. Auch dem erkennenden Senat ist eine solche Tätigkeit
nicht bekannt.
Die Rente wegen voller Erwerbsminderung steht der Klägerin ab dem 1.3.2012 als Rente auf Dauer zu, weil unwahrscheinlich ist,
dass die Minderung der Erwerbsfähigkeit behoben werden kann, §§
99 Abs
1 Satz 1,
102 Abs
1 Satz 5
SGB VI. Die Einschränkung auf geistig sehr einfache Tätigkeiten ist (erst) seit der Untersuchung durch Dr. W1 im Februar 2012 mit
der erforderlichen, an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit erwiesen. Die Sachverständigen haben eine Besserung einmütig
für ausgeschlossen gehalten. Das ist bei den zugrundeliegenden Diagnosen uneingeschränkt nachvollziehbar.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§
183 S 1, 193 Abs
1 SGG und trägt der teilweisen Zurücknahme der Klage Rechnung.
Anlass, die Revision zuzulassen, besteht nicht, §
160 Abs
2 SGG. Maßgeblich für die Entscheidung sind die konkreten Umstände des Einzelfalls.