Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde im sozialgerichtlichen Verfahren; Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör
bei nicht ordnungsgemäßer Ladung des Prozessvertreters
Gründe:
I
Die Beklagte lehnte es ab, bei der Klägerin eine Berufskrankheit (BK) nach der Anlage zur
Berufskrankheiten-Verordnung festzustellen und zu entschädigen (Bescheid vom 26. September 2000 und Widerspruchsbescheid vom 2. Oktober 2001). Das Sozialgericht
Gießen hat die auf Anerkennung der BK Nr 1307 sowie Gewährung einer Verletztenrente gerichtete Klage abgewiesen (Urteil vom
11. März 2005). Hiergegen hat die Klägerin Berufung zum Hessischen Landessozialgericht (LSG) eingelegt. Während des Berufungsverfahrens
ist durch Beschluss des Amtsgerichts Frankfurt am Main vom 7. September 2007 (465 F 11206/07 SO) die elterliche Sorge für die am 1995 geborene Klägerin der Mutter E. W. (E.W.) entzogen und auf H. W. (H.W.) übertragen
worden. Die hiergegen erhobene Beschwerde hat das Oberlandesgericht Frankfurt am Main mit Beschluss vom 8. Januar 2008 (4 UF 137/07) zurückgewiesen.
Mit einem an E.W. und H.W. gerichteten sowie unter der Anschrift von E.W. am 29. Februar 2008 zugestellten Schreiben vom 28.
Februar 2008 hat die Senatsvorsitzende des LSG Termin zur mündlichen Verhandlung auf den 18. März 2008 anberaumt. In diesem
Termin ist für die Klägerin niemand erschienen. Auf den mit Schreiben vom 17. März 2008 gestellten Antrag der E.W., H.W. vom
Verfahren wegen "erschlichener" Vaterschaftsurkunde auszuschließen, hat das LSG mit Beschluss vom 18. März 2008 das Rubrum
"dahingehend geändert, dass die Klägerin allein durch ihre Mutter E. W. vertreten wird". Mit Urteil vom selben Tag hat es
die Berufung zurückgewiesen.
Mit ihrer Nichtzulassungsbeschwerde rügt die Klägerin insbesondere eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör. Ihr
gesetzlicher Vertreter habe sich weder zu dem Antrag ihrer Mutter vom 17. März 2008 noch in der mündlichen Verhandlung äußern
können.
II
Die Beschwerde ist zulässig und begründet. Die Entscheidung des LSG vom 18. März 2008 beruht auf einem Verfahrensmangel iS
des §
160 Abs
2 Nr
3 Sozialgerichtsgesetz (
SGG). Das Berufungsgericht hat das Grundrecht der Klägerin auf rechtliches Gehör (Art
103 Abs
1 Grundgesetz, §
62 SGG) dadurch verletzt, dass es das angefochtene Urteil aufgrund mündlicher Verhandlung verkündet hat, obwohl sie nicht ordnungsgemäß
vertreten war. Daher ist die Entscheidung aufzuheben und die Sache zurückzuverweisen (§
160a Abs
5 SGG).
Der Anspruch auf rechtliches Gehör soll verhindern, dass die Beteiligten durch eine Entscheidung überrascht werden, die auf
Rechtsauffassungen, Tatsachen oder Beweisergebnissen beruht, zu denen sie sich nicht äußern konnten (vgl BSG SozR 3-1500 §
153 Nr 1 mwN; BVerfGE 84, 188, 190), und sicherstellen, dass ihr Vorbringen vom Gericht in seine Erwägungen miteinbezogen wird (BVerfGE 22, 267, 274; 96, 205, 216 f). Bei einem Urteil aufgrund mündlicher Verhandlung muss den Beteiligten unabhängig davon, ob sie die
Möglichkeit zur schriftlichen Äußerung und Vorbereitung des Verfahrens genutzt haben oder nicht, Gelegenheit gegeben werden,
sich zur Sach- und Rechtslage in der mündlichen Verhandlung selbst zu äußern (BSG vom 26. Juni 2007 - B 2 U 55/07 B - SozR 4-1750 § 227 Nr 1 RdNr 8). Daran fehlt es hier, weil der gesetzliche Vertreter der Klägerin nicht ordnungsgemäß geladen
und deshalb nicht an der mündlichen Verhandlung teilnehmen konnte.
Terminbestimmungen und Ladungen sind nach §
63 Abs
1 Satz 2
SGG bekannt zu geben. Bei einem prozessunfähigen Beteiligten ist Adressat der Bekanntgabe sein gesetzlicher Vertreter (vgl §
170 Abs
1 Zivilprozessordnung [ZPO]). Die am 1995 geborene Klägerin ist als Minderjährige nicht voll geschäftsfähig und damit prozessunfähig (§
71 Abs
1 und
2 Satz 1
SGG iVm §§
106 Bürgerliches Gesetzbuch [BGB] und 36 Abs
1 Sozialgesetzbuch Erstes Buch). Für prozessunfähige natürliche Personen handeln in gerichtlichen Verfahren ihre gesetzlichen
Vertreter. Bei nicht miteinander verheirateten Eltern werden unter elterlicher Sorge stehende Minderjährige durch die Mutter
gesetzlich vertreten (§§ 1626a Abs
2,
1629 Abs
1 Satz 1
BGB), es sei denn, die sich auf die gesetzliche Vertretung erstreckende elterliche Sorge steht aufgrund von Sorgeerklärungen
beiden Eltern gemeinsam zu (§
1626a Abs
1 Nr
1 BGB) oder ist - wie hier - auf eine andere Person übergegangen (§
1671 BGB). Durch Beschluss des Amtsgerichts Frankfurt am Main vom 7. September 2007 ist die elterliche Sorge der Mutter der Klägerin
entzogen und auf H.W. übertragen worden. Die Terminbestimmung war zwar auch an H.W. gerichtet, ist aber nicht unter seiner,
sondern der Adresse von E.W. bekannt gegeben worden.
Die Klägerin war nicht ordnungsgemäß vertreten, weil ihr gesetzlicher Vertreter nicht rechtzeitig vor der mündlichen Verhandlung
Kenntnis von der Terminbestimmung erlangt hat. Nach §
547 Nr 4
ZPO, der über §
202 SGG auch in sozialgerichtlichen Verfahren gilt, ist eine Entscheidung im Falle der mangelnden Vertretung stets als auf einer
Verletzung des Rechts beruhend anzusehen.
Angesichts dieses Verfahrensmangels können die von der Klägerin außerdem erhobenen Rügen dahingestellt bleiben.
Der Senat macht von der Möglichkeit des §
160a Abs
5 SGG Gebrauch, auf die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil wegen des festgestellten Verfahrensfehlers aufzuheben
und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen. Es ist ferner nicht auszuschließen,
dass es wegen eines weiteren Sachvortrags im wieder eröffneten Berufungsverfahren der Aufklärung von Tatsachen bedarf.
Das LSG wird auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.