Erstattung von Kosten für eine IRE Nano-Knife-Behandlung
Fehlende positive Empfehlung des GBA
Keine Leistungserbringung zu Lasten der Krankenkassen
Tatbestand:
Der Kläger begehrt die Erstattung von Kosten in Höhe von noch 5.556,13 Euro für eine im April 2017 durchgeführte Irreversible
Elektroporation (IRE, Nano-Knife-Behandlung).
Die IRE ist eine neue Behandlungsmethode für Männer mit Prostatakrebs, die mit elektrischen Feldern und Starkstrom arbeitet.
Eine Spannung von mehreren 1000 Volt soll Krebszellen in der Prostata gezielt zum Absterben bringen; es handelt sich um ein
minimalinvasives, nicht-thermisches Gewebeablationsverfahren.
Der 1950 geborene Kläger ist beihilfeberechtigter Beamter und bei der Beklagten krankenversichert. Im Jahre 2015 wurde bei
ihm ein primär ossär metastasiertes Prostatakarzinom festgestellt. Der Kläger unterzog sich zunächst einer hormonablativen
Therapie mit Leuprorelin (Trenatone), die eine gute Wirkung zeigte.
Am 6. Februar 2017 trat der Kläger telefonisch an die Beklagte heran, um die Frage der Kostenübernahme für eine IRE zu klären.
Er erhielt die Auskunft, dass es sich um eine neue Methode handele, die keine Kassenleistung darstelle, so dass eine Kostenübernahme
nicht in Betracht komme.
Hierauf besorgte der Kläger sich die Leistung selbst; für Voruntersuchung (22. Februar 2017), Operation (6. April 2017), Kontrolluntersuchung
(7. April 2017) und Nachuntersuchungen (29. Mai/25. September 2017) berechnete das Institut für bildgebende Diagnostik, Prof.
Dr. S (Privatarzt), auf Grundlage der GOÄ insgesamt 18.520,41 Euro. Nach dem Vorbringen des Klägers im Berufungsverfahren über-nahm die Beihilfe hiervon 70 Prozent
(12.964,28 Euro, Restbetrag = 5.556,13 Euro).
Mit Schreiben vom 14. Mai 2017 teilte der Kläger der Beklagten mit, sich gegen die Entfernung der Prostata und Bestrahlung
des Beckenbodens als Behandlungsalternativen entschieden zu haben, weil diese andauernde Nebenwirkungen nach sich zögen. Stattdessen
habe er sich für die IRE entschieden, die er zunächst auf eigene Rechnung habe durchführen lassen. Er beantrage Kostenerstattung.
Mit Bescheid vom 22. Mai 2017 lehnte die Beklagte eine Kostenerstattung ab. Der Behandler Dr. S sei kein Vertragspartner.
Zudem handele es sich bei der IRE um eine neue, bislang nicht vom Gemeinsamen Bundesausschuss (GBA) bewertete Behandlungsmethode.
Zur Begründung seines hiergegen eingelegten Widerspruchs führte der Kläger an, angesichts des lebensbedrohlichen Prostatakarzinoms
sei die Behandlung unaufschiebbar gewesen. Es habe ein Notfall vorgelegen. Auf der Grundlage von §
2 Abs.
1a SGB V beanspruche er die Leistung. In den USA sei die IRE zugelassen.
In einem Gutachten vom 16. August 2017 kam der von der Beklagten mit dem Vor-gang befasste MDK Bayern zu dem Ergebnis, sozialmedizinisch
lägen die Voraussetzungen für eine Kostenerstattung nicht vor. In Auswertung der vorhandenen Informationen sei eine akut lebensbedrohliche
Situation zum Zeitpunkt der Behandlung ebenso wenig belegt wie ein Notfall im Sinne von §
76 Abs.
1 SGB V; dass ohne die Behandlung innerhalb weniger Wochen eine schwere irreversible Störung eingetreten wäre, sei ebenfalls nicht
ersichtlich. Laut Kernspinbefund vom 22. Februar 2017 sei die Prostata vor dem Eingriff nur gering vergrößert, ein umschriebener
Tumor sei nicht differenzierbar gewesen; kapselübergreifendes Wachstum oder auffällige Lymphknotenvergrößerung hätten nicht
vorgelegen. Leitliniengerechte alternative Behandlungen hätten zur Verfügung gestanden. Wissenschaftliche Daten für eine lebensverlängernde
Wirkung der IRE lägen nicht vor.
Hierauf wies die Beklagte den Widerspruch des Klägers durch Widerspruchsbescheid vom 8. Februar 2018 zurück. Für die angewandte
neue Behandlungsmethode fehle es an einer positiven Empfehlung durch den GBA, was eine Kostentragung durch die gesetzlichen
Krankenkassen ausschließe. Die Voraussetzungen von §
2 Abs.
1a SGB V lägen nicht vor, denn vor dem Eingriff habe die Prostata nahezu unauffällig ausgesehen; allgemein anerkannte Behandlungsmethoden
hätten zur Verfügung gestanden.
Zur Begründung seiner hiergegen erhobenen Klage hat der Kläger sein Vorbringen aus dem Widerspruchsverfahren vertieft. Es
habe eine lebensbedrohliche Erkrankung im Sinne von §
2 Abs.
1a SGB V vorgelegen, für die eine allgemein anerkannte Leistung nicht zur Verfügung gestanden habe. Die Behandlung habe nur noch palliativ
erfolgen können. Es könne keine Rede davon sein, dass seine Prostata vor dem Eingriff "nahezu unauffällig" gewesen sei. Jedenfalls
müsse die Beklagte eine anteilige Kostenerstattung gewähren, in Höhe der ersparten Kosten für eine schul-medizinische Behandlung.
Das Sozialgericht Berlin hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 5. März 2019 ab-gewiesen und zur Begründung im Wesentlichen
ausgeführt: Es sei schon der Be-schaffungsweg nicht eingehalten, weil der Kläger sich die Leistung vor verbindlicher Ablehnung
durch die Beklagte besorgt habe. Es habe sich auch nicht um eine unaufschiebbare Leistung gehandelt.
Hiergegen hat der Kläger am 5. März 2019 Berufung eingelegt. Zur Begründung vertieft er sein bisheriges Vorbringen und führt
ergänzend an, eine Missachtung des Beschaffungsweges könne ihm nicht entgegen gehalten werden, weil eine Kostenübernahme von
der Beklagten im Telefonat vom 6. Februar 2017 verbindlich abgelehnt worden sei. Auf alternative Behandlungsmethoden wie etwa
Operation oder Bestrahlung dürfe er nicht verwiesen werden, weil diese mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu
erheblichen Neben- und Folgewirkungen ge-führt hätten, wie etwa zu Inkontinenz.
Der Kläger beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 5. März 2019 sowie den Bescheid der Beklagten vom 22. Mai 2017 in der Gestalt
des Widerspruchsbescheides vom 8. Februar 2018 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm 5.556,13 Euro für die durchgeführte
IRE-Behandlung zu erstatten.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend.
Mit Beschluss vom 28. April 2020 hat der Senat den Rechtsstreit dem Berichterstatter übertragen, der zusammen mit den ehrenamtlichen
Richtern entscheidet.
Wegen des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird im Übrigen auf den Inhalt der Gerichtsakte und des Verwaltungsvorgangs
der Beklagten Bezug genommen, der, soweit wesentlich, Gegenstand der Erörterung in der mündlichen Verhandlung und der Entscheidungsfindung
war.
Entscheidungsgründe:
Der Senat hat über die Berufung gemäß §
153 Abs.
5 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) in der Besetzung durch den Berichterstatter und die ehrenamtlichen Richter entschieden, weil das Sozialgericht über die
Klage durch Gerichtsbescheid entschieden und der Senat durch Beschluss vom 28. April 2020 die Berufung dem Berichterstatter
zur Entscheidung zusammen mit den ehrenamtlichen Richtern übertragen hat.
Die Berufung des Klägers hat keinen Erfolg. Das Sozialgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der Kläger hat keinen Anspruch
auf Kostenerstattung. Die (ambulante) IRE-Behandlung des Prostatakarzinoms ist vom Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen
nicht umfasst. Die Beklagte muss dem Kläger die für die Beschaffung dieser Behandlung als privatärztliche Leistung entstehenden
Kosten daher nicht erstatten.
1. Rechtsgrundlage des vom Kläger geltend gemachten Erstattungsanspruchs ist §
13 Abs.
3 Satz 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (
SGB V). Danach gilt: Konnte die Krankenkasse eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbringen oder hat sie eine Leistung
zu Unrecht abgelehnt und sind dadurch Versicherten für die selbst beschaffte Leistung Kosten entstanden, sind diese von der
Krankenkasse in der entstandenen Höhe zu erstatten, soweit die Leistung notwendig war. Das Ge-setz sieht damit in Ergänzung
des Sachleistungssystems der gesetzlichen Krankenversicherung (vgl. §
2 Abs.
2 Satz 1
SGB V) ausnahmsweise Kostenerstattung vor, wenn der Versicherte sich eine Leistung auf eigene Kosten selbst beschaffen musste,
weil sie von der Krankenkasse als Sachleistung wegen eines Mangels im Versorgungssystem nicht oder nicht in der gebotenen
Zeit zur Verfügung gestellt worden ist. Der Kostenerstattungsanspruch aus §
13 Abs.
3 Satz 1
SGB V reicht da-her nicht weiter als ein entsprechender Sachleistungsanspruch des Versicherten gegen seine Krankenkasse. Die Krankenkasse
muss Aufwendungen des Versicherten nur erstatten, wenn die selbst beschaffte Leistung nach Maßgabe des im Zeitpunkt der Leistungserbringung
geltenden Rechts ihrer Art nach oder allgemein von den Krankenkassen als Sachleistung zu erbringen ist oder nur deswegen nicht
erbracht werden kann, weil ein Systemversagen die Erfüllung des Leistungsanspruchs im Wege der Sachleistung gerade ausschließt.
Die Selbstbeschaffung der Leistung muss außerdem zu einer (zivil-)rechtlich wirksamen Kostenlast des Versicherten geführt
haben. Daran kann es insbesondere bei Verstößen gegen das einschlägige öffentlich-rechtliche Preisrecht fehlen (vgl. hierzu
und zum Folgenden: Landessozialgericht NRW, Urteil vom 27. Juli 2016, L 5 KR 442/16, zitiert nach juris, dort Rdnr. 29 bis 31, m.w.N. zur Rechtsprechung des Bundessozialgerichts).
Der regelmäßig im Vordergrund stehende Erstattungstatbestand des §
13 Abs.
3 Satz 1 2. Alt.
SGB V (rechtswidrige Leistungsablehnung) setzt die rechtswidrige Ablehnung der Leistung durch die Krankenkasse und außerdem einen
Ursachenzusammenhang zwischen der rechtswidrigen Leistungsablehnung und der dem Ver-sicherten durch die Selbstbeschaffung
der Leistung entstandenen Kostenlast voraus. Dieser Ursachenzusammenhang fehlt, wenn die Krankenkasse vor Inanspruchnahme
bzw. Beschaffung der Leistung mit dem Leistungsbegehren nicht befasst wurde, obwohl dies möglich gewesen wäre oder wenn der
Versicherte sich unabhängig davon, wie die Entscheidung der Krankenkasse ausfällt, von vornherein auf eine bestimmte Art der
Krankenbehandlung durch einen bestimmten Leistungserbringer festgelegt hat und fest entschlossen ist, sich die Leistung selbst
dann zu beschaffen, wenn die Krankenkasse den Antrag ablehnen sollte. Das mit einer Entscheidung der Krankenkasse abzuschließende
Verwaltungsverfahren stellt weder einen "Formalismus" in dem Sinne dar, dass es ganz entbehrlich ist, noch in dem Sinne, dass
es zwar durchlaufen werden muss, aber der Versicherte nicht gehalten ist, die Entscheidung der Krankenkasse in seine eigene
Entscheidung inhaltlich einzubeziehen, sondern den Abschluss des Verwaltungsverfahrens nur "formal" abwarten muss, jedoch
schon vorbereitende Schritte einleiten darf, die Ausdruck seiner Entschlossenheit sind, sich die Leistung in jedem Fall endgültig
zu verschaffen. §
13 Abs.
3 Satz 1 2. Alt.
SGB V will dem Versicherten einerseits die Möglichkeit eröffnen, sich eine von der Krankenkasse geschuldete, aber als Sachleistung
nicht erhältliche Behandlung selbst zu beschaffen, andererseits jedoch die Befolgung des Sachleistungsgrundsatzes dadurch
absichern, dass eine Kostenerstattung nur erfolgt, wenn tatsächlich eine Versorgungslücke festgestellt wird. Diese Feststellung
zu treffen, ist nicht Sache des Versicherten, sondern der Krankenkasse. Nur sie hat in der Regel einen vollständigen Überblick
über die rechtlichen Rahmenbedingungen und die vorhandenen Versorgungsstrukturen und kann mit Hilfe dieser Informationen zuverlässig
beurteilen, ob die begehrte Behandlung überhaupt zu den Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung gehört und wenn ja,
wie sie in dem bestehenden Versorgungssystem realisiert werden kann. Eine vorherige Prüfung durch die Krankenkasse, verbunden
mit der Möglichkeit einer Beratung des Versicherten, ist sachgerecht; sie liegt gerade auch im eigenen Interesse des Versicherten,
weil sie ihn von dem Risiko entlastet, die Behandlungs-kosten gegebenenfalls selbst tragen zu müssen, wenn ein zur Erstattungspflicht
führender Ausnahmetatbestand nicht vorliegt.
Der Erstattungstatbestand des §
13 Abs.
3 Satz 1 1. Alt.
SGB V (unaufschiebbare Leistung) setzt voraus, dass die beantragte Leistung im Zeitpunkt ihrer tatsächlichen Erbringung so dringlich
ist, dass aus medizinischer Sicht keine Möglichkeit eines nennenswerten Aufschubes mehr besteht, um vor der Beschaffung die
Entscheidung der Krankenkasse abzuwarten. Ein Zuwarten darf dem Versicherten aus medizinischen Gründen nicht mehr zumutbar
sein, weil der angestrebte Behandlungserfolg zu einem späteren Zeitpunkt nicht mehr eintreten kann oder z.B. wegen der Intensität
der Schmerzen ein auch nur vorübergehendes weiteres Zuwarten nicht mehr zuzumuten ist. Es kommt nicht (mehr) darauf an, ob
es dem Versicherten - aus medizinischen oder anderen Gründen - nicht möglich oder nicht zuzumuten war, vor der Beschaffung
die Krankenkasse einzuschalten. Unaufschiebbar kann auch eine zunächst nicht eilbedürftige Behandlung werden, wenn der Versicherte
mit der Ausführung so lange wartet, bis die Leistung zwingend erbracht werden muss, um den mit ihr angestrebten Erfolg noch
zu erreichen oder um sicherzustellen, dass er noch innerhalb eines therapeutischen Zeitfensters die benötigte Behandlung erhalten
wird. Dies gilt umso mehr, wenn der Beschaffungsvorgang aus der Natur der Sache heraus eines längeren zeitlichen Vorlaufs
bedarf und der Zeit-punkt der Entscheidung der Krankenkasse nicht abzusehen ist. §
13 Abs.
3 Satz 1 1. Alt.
SGB V erfasst auch die Fälle, in denen der Versicherte zunächst einen An-trag bei der Krankenkasse stellte, aber wegen Unaufschiebbarkeit
deren Entscheidung nicht mehr abwarten konnte. Liegt hingegen nicht nur ein Eilfall in diesem Sinne, sondern (sogar) ein (medizinischer)
Notfall i.S.d. §
76 Abs.
1 Satz 2
SGB V vor, muss also ein unvermittelt aufgetretener Behandlungsbedarf sofort befriedigt werden, ist der Erstattungstatbestand des
§
13 Abs.
3 Satz 1 Fall 2
SGB V nicht einschlägig, sondern ausgeschlossen. Der Leistungserbringer erhält seine Vergütung für Notfallleistungen nicht vom
(erstattungsberechtigten) Versicherten, sondern bei ambulanter Leistungserbringung von der Kassenärztlichen Vereinigung (aus
der Gesamtvergütung, §
85 SGB V) und bei stationärer Leistungserbringung von der Krankenkasse. Der Erstattungstatbestand des §
13 Abs.
3 Satz 1 1. Alt.
SGB V kann daher (gerade) auch dann erfüllt sein, wenn zwischen der erstmaligen Anfrage des Versicherten bei einem Behandler, einer
etwaigen Voruntersuchung und dem eigentlichen Behandlungsbeginn längere (Warte-)Zeiten, ggf. auch mehrere Wochen, verstreichen.
2. Unter Zugrundelegung all dessen kann der Kläger die Erstattung der für die ambulante Behandlung seiner Prostatakrebserkrankung
durch Prof. Dr. S entstandenen Aufwendungen nicht beanspruchen. Unaufschiebbare Leistungen i.S.d. §
13 Abs.
3 Satz 1 1. Alt.
SGB V stehen nicht in Rede, so dass nur ein Erstattungsanspruch nach §
13 Abs.
3 Satz 1 2. Alt.
SGB V in Betracht kommt. Die Voraussetzungen dieser Vorschrift sind jedoch nicht erfüllt. Die Beklagte hat die Gewährung der Prostatakrebsbehandlung
durch IRE nicht zu Unrecht abgelehnt.
Der Leistungsanspruch des Klägers auf ärztliche Behandlung aus §
27 Abs.
1 Satz 2 Nr.
1 SGB V hat die streitgegenständlichen Behandlungsleistungen nicht umfasst. Sie können von der Krankenkasse nicht als (Sach-)Leistung
der gesetzlichen Krankenversicherung gewährt werden. Für die Kosten ihrer Beschaffung als privatärztliche Behandlungsleistung
kann (und darf) die Versichertengemeinschaft der gesetzlich Krankenversicherten daher nicht aufkommen. Mangels rechtswidriger
Leistungsablehnung kommt es auf Fragen des Beschaffungswegs oder der Ursächlichkeit der Leistungsablehnung für die Selbstbeschaffung
nicht mehr an.
Bei der IRE-Behandlung des Prostatakarzinoms einschließlich der erforderlichen Vor- und Nachuntersuchungen handelt es sich
nämlich - was zwischen den Beteiligten auch nicht umstritten ist - um neue Behandlungsmethode i.S.v. §
135 SGB V, die in der (ambulanten) vertragsärztlichen Versorgung zu Lasten der Krankenkassen nur erbracht und von diesen daher auch
nur gewährt werden dürfen, wenn der GBA eine positive Empfehlung nach näherer Maßgabe des §
135 Abs.
1 Satz 1
SGB V abgegeben hat. Eine solche Empfehlung liegt nicht vor.
Auch ein Fall des Systemversagens liegt nicht vor (vgl. dazu Bundessozialgericht, Urteil vom 7. Mai 2013, B 1 KR 44/12 R, juris). Auch hierüber streiten die Beteiligten nicht. Der Kläger stützt den geltend gemachten Leistungs- bzw. Erstattungsanspruch
letztlich allein auf die Regelung in §
2 Abs.
1a SGB V. Die Voraussetzungen dieser Vorschrift sind jedoch nicht erfüllt.
Gemäß §
2 Abs.
1a SGB V können Versicherte mit einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung oder mit einer zumindest wertungsmäßig
ver-gleichbaren Erkrankung, für die eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur
Verfügung steht, auch eine von §
2 Abs.
1 Satz 3
SGB V abweichende Leistung beanspruchen, wenn eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive
Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht; §
2 Abs.
1 Satz 3
SGB V sieht vor, dass Qualität und Wirksamkeit der Leistungen dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse zu
entsprechen und den medizinischen Fortschritt zu berück-sichtigen haben.
In §
2 Abs.
1a SGB V hat der Gesetzgeber die vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Rechtsgrundsätze zur grundrechtsorientierten Auslegung
des Leistungskatalogs der gesetzlichen Krankenversicherung kodifiziert; die Vorschrift ist daher nach den Maßgaben der einschlägigen
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auszulegen. In seinem grundlegenden Beschluss vom 6. Dezember 2005 (B 1 BvR 347/98, juris) hat es das Bundesverfassungsgericht für mit dem Grund-recht aus Art.
2 Abs.
1 Grundgesetz (
GG) in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip und dem Grundrecht aus Art.
2 Abs.
2 Satz 1
GG nicht vereinbar erklärt, einen gesetzlich Krankenversicherten, für dessen lebensbedrohliche oder regelmäßig tödliche Erkrankung
eine allgemein anerkannte, medizinischem Standard entsprechen-de Behandlung nicht zur Verfügung steht, von der Leistung einer
von ihm gewählten, ärztlich angewandten Behandlungsmethode auszuschließen, wenn eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht
auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht. Die zu einem solchen Ergebnis führende
Auslegung der leistungsrechtlichen Vorschriften des Krankenversicherungsrechts sei in der extremen Situation krankheitsbedingter
Lebensgefahr (im vom Bundesverfassungsgericht entschiedenen Fall durch die Duchenne`sche Muskeldystrophie) verfassungswidrig.
Das Bundessozialgericht hat diese verfassungsgerichtlichen Vorgaben seiner Rechtsprechung zugrunde gelegt und näher konkretisiert.
Danach - so etwa Urteil vom 7. November 2006, B 1 KR 24/06 R und Urteil vom 4. April 2006, B 1 KR 7/05 R, beide in juris - verstößt die Leistungsverweigerung der Krankenkasse unter Berufung darauf, eine bestimmte neue ärztliche
Behandlungsmethode sei im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung ausgeschlossen, weil der zuständige GBA diese noch nicht
anerkannt oder sie sich zumindest in der Praxis und in der medizinischen Fachdiskussion noch nicht durchgesetzt habe, gegen
das
Grundgesetz, wenn folgende drei Voraussetzungen kumulativ er-füllt sind: Es liegt (1.) eine lebensbedrohliche oder regelmäßig tödlich
verlaufende Erkrankung oder eine zumindest wertungsmäßig damit vergleichbare Krankheit vor. Für diese Krankheit steht (2.)
eine allgemein anerkannte, medizinischem Standard entsprechende Behandlung nicht zur Verfügung. Beim Versicherten besteht
(3.) hinsichtlich der ärztlich angewandten (neuen, nicht allgemein anerkannten) Behandlungsmethode eine auf Indizien gestützte
nicht ganz fernliegende Aussicht auf Heilung oder wenigstens auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf.
Es muss eine durch nahe Lebensgefahr gekennzeichnete individuelle Notlage gegeben sein (vgl. insoweit auch Bundesverfassungsgericht,
Beschluss vom 10. November 2015, 1 BvR 2056/12 und vom 26. März 2014, 1 BvR 2415/13, beide in juris), wobei das Bundesverfassungsgericht es in einer speziellen Situation (Apheresebehandlung in einem besonderen
Fall) hat ausreichen lassen, dass die Erkrankung voraussichtlich erst in einigen Jahren zum Tod führt (Beschluss vom 6. Februar
2007, 1 BvR 3101/06, juris).
Der Senat unterstellt zugunsten des Klägers, dass seine Prostatakrebserkrankung eine lebensbedrohliche Erkrankung im Sinne
von §
2 Abs.
1a SGB V darstellt.
Allerdings befand sich der Kläger im Februar 2017, als er sich zur Durchführung der IRE-Behandlung entschied, nicht in einer
durch nahe Lebensgefahr gekennzeichneten individuellen Notlage. Entscheidend ist für den Senat hier - wie auch für den MDK
Bayern in seinem Gutachten vom 16. August 2017 - der MRT-Befund vom 22./23. Februar 2017. Danach war die Prostata vor dem
Eingriff nur gering vergrößert, ein umschriebener Tumor war nicht differenzierbar, kapselübergreifendes Wachstum oder auffällige
Lymphknotenvergrößerung lagen nicht vor. Für eine akut lebensbedrohliche Situation war zum Zeitpunkt der Behandlung damit
ebenso we-nig ersichtlich wie für einen Notfall im Sinne von §
76 Abs.
1 SGB V; dass ohne die Behandlung in absehbarer Zeit eine schwere irreversible Störung eingetreten wäre, ist ebenfalls nicht ersichtlich.
Hinzu kommt: Nach der beim Kläger erfolgreich verlaufenen Hormontherapie stand zur Weiterbehandlung des ossär metastasierten
und hormonsensiblen Prostatakarzinoms eine allgemein anerkannte, medizinischem Standard entsprechende Therapie zur Verfügung,
wie der MDK Bayern sie in seinem Gutachten vom 16. August 2017 auf Seite 4 plausibel und unter Auswertung der einschlägigen
Leitlinien be-schrieben hat. Damit war die IRE-Behandlung nicht alternativlos.
Zuletzt sind die Voraussetzungen des Leistungsanspruchs aus §
2 Abs.
1a SGB V auch deswegen nicht erfüllt, weil eine auf Indizien gestützte und nicht ganz ent-fernt liegende Aussicht auf Heilung oder
wenigstens auf spürbare positive Einwirkung der IRE-Behandlung auf den Krankheitsverlauf der Prostatakrebserkrankung des Klägers
nicht festgestellt werden kann (vgl. hierzu ausführlich und m.w.N.: Landessozialgericht NRW, Urteil vom 27. Juli 2016, L 5 KR 442/16, zitiert nach juris, dort Rdnr. 38f.). Dieses Erfordernis darf einerseits zwar nicht überspannt werden, etwa durch die Forderung
eines Wirksamkeits- und Nutzennachweises durch evidenzbasierte Studien. Im Unterschied zur Anwendung von Arzneimitteln im
Off-Label-Use genügen nämlich schon (Wirksamkeits-)Indizien, die sich auch außer-halb von Studien oder vergleichbaren Erkenntnisquellen
oder von Leitlinien der ärztlichen Fachgesellschaften finden können. Steht in den Fallgestaltungen des §
2 Abs.
1a SGB V (lebensbedrohliche oder regelmäßig tödliche bzw. wertungsmäßig vergleichbare Erkrankung) eine nach allgemeinem Standard anerkannte
Behandlungsmethode generell nicht zur Verfügung oder scheidet sie im konkreten Einzelfall (nachgewiesenermaßen) aus, sind
Differenzierungen im Sinne der Geltung abgestufter Evidenzgrade nach dem Grundsatz vorzunehmen "je schwerwiegender die Erkrankung
und hoffnungsloser die Situation, desto geringere Anforderungen an die ernsthaften Hinweise auf einen nicht ganz entfernt
liegenden Behandlungserfolg". Andererseits darf die in Rede stehende und im Einzelfall vielfach maßgebliche Voraussetzung
für die grundrechtsorientierte (erweiternde) Auslegung des Leistungskatalogs auch nicht (gänzlich) aufgelöst werden. Das subjektive
Empfinden des Versicherten, gegebenenfalls gestützt durch die entsprechende Einschätzung oder Empfehlung behandelnder Ärzte
oder deren Erfahrungen bei Behandlungen der in Rede stehenden Art im Einzelfall, genügt für sich allein genommen nicht.
Hieran gemessen hat das Landessozialgericht NRW in der bereits zitierten, denselben Behandler betreffenden Entscheidung vom
27. Juli 2016, L 5 KR 442/16, aus-geführt (bei juris Rdnr. 39):
Wie Dr. U. im MDK-Gutachten vom 30.09.2014 schlüssig dargelegt hat, handelt es sich bei der IRE-Behandlung des Prostatakarzinoms
um ein sehr junges Verfahren, dessen Wirksamkeit nicht anhand einer für die ausreichend sichere Beurteilung notwendigen Zahl
von Fällen aufgrund wissenschaftlich geführter Statistiken oder Studien beurteilt werden kann. Auch Prof. Dr. St., der in
der Anwendung des in Rede stehenden Behandlungsverfahrens offenbar führend ist, hat im Bericht vom 27.05.2015 eingeräumt,
dass es sich bei der IRE-Behandlung (derzeit) um ein experimentelles Verfahren (insoweit - zum Beihilferecht - auch etwa Verwaltungsgericht
(VG) Stuttgart, Urteil vom 26.11.2015, - 1 K 926/15 -, in juris) handelt, dessen (Überlebens-)Vorteil für die Patienten sich erst in Jahrzehnten quantifizieren lassen wird.
Die Grün-de, aus denen die aktuelle Erkenntnislage der medizinischen Wissenschaft die ausreichende Wirksamkeitsbeurteilung
einer Behandlungsmethode, hier der IRE-Behandlung, (ggf. noch) nicht zulässt, sind rechtlich nicht von Be-lang. Dr. Pf. hat,
die Einstufung der IRE-Behandlung durch Dr. U. und Prof. Dr. St. als experimentelles Verfahren bestätigend, im Bericht vom
29.05.2015 ausgeführt, dass die IRE-Behandlung des Prostatakarzinoms in der Leitlinie der zuständigen europäischen Fachgesellschaft,
der Europäischen Gesellschaft für Urologie, zwar erwähnt, aber als "noch in den Kinderschuhen steckendes" (fokales) Verfahren
angesehen wird. Die Europäische Gesellschaft für Urologie hat die IRE-Behandlung als therapeutische Alternative außer-halb
von klinischen Studien daher nicht empfehlen können. Dr. M. hat diese Einschätzung im Bericht vom 12.06.2015 (ebenfalls) bestätigt
und dargelegt, dass in den wissenschaftlichen Literaturdatenbanken zur IRE-Behandlung nur 18 Veröffentlichungen vermerkt sind,
die im Wesentlichen auch nur die technischen Grundlagen der Behandlungsmethode beschreiben; kurzfristige Behandlungsergebnisse
würden nur von 2 Arbeitsgruppen beschrieben und dies auch nur bezüglich der Häufigkeit kurzfristiger Nebenwirkungen der Behandlung.
Dr. M. hat ergänzend auf die Beurteilung der zuständigen deutschen Fachgesellschaft, der Deutschen Gesellschaft für Urologie,
verwiesen, die (insoweit im Kern nicht anders als die Europäische Gesellschaft für Urologie) vor falschen Hoffnungen warnt
und nach deren Auffassung derzeit niemand eine Aussage dazu machen kann, ob die IRE-Behandlung überhaupt in der Lage ist,
einen Prostatakrebs therapeutisch zu beeinflussen, und noch viel weniger, ob sie anderen Behandlungsmethoden überlegen ist.
Dass die IRE-Behandlung als experimentelles Verfahren (auch etwa im Rahmen klinischer Studien) in universitären Zentren angewendet
wird und das DIMDI hierfür einen OPS-Code festgelegt hat, kann die Rechtsvoraussetzungen des §
2 Abs.
1a SGB V ebenso wenig ausfüllen wie die (ersichtlich) positive Erfahrung, die der Kläger in seinem Einzelfall oder die Prof. Dr. St.
in seiner Behandlungspraxis mit der IRE-Behandlung gemacht hat."
Den lediglich experimentellen Charakter der IRE-Behandlung betont vorliegend auch das Gutachten des MDK Bayern vom 16. August
2017. Die darin enthaltenen medizinisch sachkundigen, nachvollziehbaren und überzeugenden Darlegungen fügen sich widerspruchslos
zu den oben zitierten Ausführungen des Landessozialgerichts NRW im Urteil vom 27. Juli 2016. Der Senat hat daher keinen Zweifel
da-ran, dass das Erfordernis nicht ganz entfernt liegender Aussichten auf Heilung o-der auf eine spürbare positive Einwirkung
auf den Krankheitsverlauf für die IRE-Behandlung des Klägers nicht begründbar ist. Daher kann ein verfassungsunmittelbar fundierter
Leistungsanspruch des Klägers aus §
2 Abs.
1a SGB V auf Gewährung der IRE-Behandlung nebst Vor- und Nachuntersuchungen nicht festgestellt werden, weshalb auch ein Anspruch auf
Erstattung der Aufwendungen für diese als privatärztliche Behandlung beschafften Leistungen nicht besteht.
Weitere medizinische Ermittlungen haben sich dem Senat nicht aufgedrängt; entsprechende Beweisanträge sind auch nicht gestellt
worden.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG und entspricht dem Ausgang des Rechtsstreits. Die Revision ist nicht zuzulassen, da Zulassugsgründe im Sinne von §
160 Abs.
2 SGG nicht vorliegen.