Anspruch eines Sehbehinderten auf Versorgung mit einem Bildschirmlesegerät
Gründe:
I
Der Kläger beansprucht Versorgung mit einem Bildschirmlesegerät.
Der im Jahr 1911 geborene Kläger ist bei der Beklagten im Rahmen der Krankenversicherung der Rentner versichert. Er hat bereits
im Alter von 14 Jahren das rechte Auge verloren. Nach einer Operation im Jahre 1984 ging die Sehschärfe auf dem linken Auge
auf 1/20 zurück. Das Gesichtsfeld ist hochgradig eingeschränkt. Mit einfachen optischen Hilfsmitteln (Leselupe oder Fernrohrbrille)
kann eine Lesefähigkeit nicht mehr erreicht werden. Vor seiner hochgradigen Sehbehinderung war der Kläger als selbständiger
Kaufmann in der Leder-/Pelzbranche tätig. Er korrespondiert auch nach der Aufgabe seiner beruflichen Tätigkeit weiterhin mit
ehemaligen Kunden und ist an der seiner Branche betreffenden Fachliteratur interessiert. Heute noch gehört er dem Vorstand
eines H. Sportvereins an. Er bringt vor, das begehrte Gerät versetze ihn in die Lage, mit dem noch teilweise intakten
linken Auge zu lesen und somit auch zu schreiben.
Den Antrag des Klägers auf Versorgung mit einem Bildschirmlesegerät (elektronisches Lesegerät-Videomatic B -, Preis ca 5.700,--
DM) hat die Beklagte abgelehnt. Das Sozialgericht (SG) hat die angefochtenen Bescheide aufgehoben und die Beklagte verurteilt,
dem Kläger ein Bildschirmlesegerät zur Verfügung zu stellen. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten
zurückgewiesen und ausgeführt, das Bildschirmlesegerät sei ein Hilfsmittel. Es bezwecke den Ausgleich der körperlichen Behinderung,
indem Schriftzeichen und ähnliches von einer Kamera aufgenommen und elektronisch um das drei- bis vierzigfache vergrößert
auf einem Monitor vom Behinderten gelesen werden könnten. Damit ermögliche es dem Kläger unmittelbar die Ausübung der beeinträchtigten
Sehfunktion mit dem verbliebenen Auge und beseitige nicht lediglich die Folgen und Auswirkungen der Behinderung in besonderen
Lebensbereichen. Es lasse den Kläger sehen. Die Versorgung des Klägers mit dem Gerät sei erforderlich und notwendig. Insoweit
komme es darauf an, ob der Einsatz des Hilfsmittels für die alltägliche Lebensbetätigung im Rahmen der allgemeinen Grundbedürfnisse
benötigt werde. Das sei immer dann der Fall, wenn durch das Hilfsmittel unmittelbar eine Besserung der gestörten Körperfunktion
erreicht werden könne und nicht lediglich ein Ausgleich der Behinderung auf andere Weise und in einem begrenzten Lebensbereich
ermöglicht werde. Wenn ein Hilfsmittel die natürliche Funktion des behinderten Organs unmittelbar ausgleichen könne, müsse
es von der Krankenkasse gewährt werden. Unabhängig davon sei das Lesen ein elementares Grundbedürfnis. Selbst wenn die beidseitige
Hörbehinderung des Klägers durch die Versorgung mit Hörgeräten ausgeglichen sei (und davon gehe der Senat aus) und der Kläger
somit akustisch Informationen aufnehmen könne, eröffne ihm das Lesen eine qualitativ höhere Informationsmöglichkeit. Durch
Lesen könne er selbst entscheiden, aus welcher Quelle er sich informieren lassen wolle. Er könne zudem Zeitpunkt, Tempo und
Umfang seiner Informationsaufnahme bestimmen und individuell seinen Bedürfnissen anpassen. Darüber hinaus eröffne das Bildschirmlesegerät
dem Kläger zusätzlich die Möglichkeit kontrollierten und erfaßbaren Schreibens.
Die Beklagte hat Revision eingelegt. Sie rügt eine Verletzung des §
33 Abs
1 des Sozialgesetzbuches - Soziale Krankenversicherung - (
SGB V). Der Anspruch des Versicherten auf Versorgung mit einem Hilfsmittel hänge von seinen konkreten Bedürfnissen ab und davon,
inwieweit gerade für ihn ein nennenswerter und auch wirtschaftlich vertretbarer Nutzen von dem Gerät zu erwarten sei. Im vorliegenden
Fall könne der Kläger praktisch alle Informationen in sonstiger Weise (vorwiegend akustisch) erlangen, während er mit dem
Bildschirmlesegerät nur sehr partiell sehen könnte. Auch nach dem Kosten- und Nutzenverhältnis sei der Anspruch des Klägers
ausgeschlossen.
Die Beklagte beantragt,
unter Aufhebung der Urteile des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 19. Oktober 1989 und des Sozialgerichts
Dortmund vom 22. Januar 1988 die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er weist auf acht Entscheidungen von Sozialgerichten aus den Jahren 1987 bis 1989 hin, in denen Krankenkassen zur Gewährung
von Lesegeräten verurteilt worden seien.
II
Die Revision ist im Sinne der Zurückverweisung der Sache an das LSG zu neuer Verhandlung und Entscheidung begründet.
Versicherte haben Anspruch auf Versorgung mit Sehhilfen und mit anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind,
um eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen
oder nach §
34 Abs
4
SGB V ausgeschlossen sind (§
33 Abs
1 Satz 1
SGB V). Das Bildschirmlesegerät kann ein Hilfsmittel sein (vgl Abschnitt D Ziffer 5.2 der Heilmittel- und Hilfsmittel-Richtlinien
idF vom 4. Dezember 1990). Es dient dazu, eine Behinderung in Form der Beeinträchtigung der Sehfunktion auszugleichen. Daß
es den Funktionsausfall nicht vollständig auszugleichen vermag, sondern nur zu einem geringen Teil, steht seiner Hilfsmitteleigenschaft
nicht entgegen (BSGE 50, 77, 78 = SozR 2200 § 182b Nr 17 - Blattwendegerät -). Es ist auch unerheblich, daß der Anwendungsbereich des Geräts funktionell
und räumlich begrenzt ist (BSG SozR aaO Nr 12 - Fernsehlesegerät -S 37 f; Nr 28 - Mikroportanlage - S 71; BSG SozR 2200 §
182 Nr 55 - Schwimm- oder Badeprothese - S 103/104). Entscheidend ist, daß das beeinträchtigte Sehvermögen selbst erleichtert, erweitert, verbessert wird (vgl BSG SozR 2200
§ 182b Nr 12 S 37). Das Bildschirmlesegerät ist auch kein allgemeiner Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens.
Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung, die nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind, können Versicherte nicht
beanspruchen (§
12 Abs
1
SGB V). Dieses Gebot gilt auch für Hilfsmittel. Zwar ist ein Element der Notwendigkeit bereits in den Tatbestandsmerkmalen des
§
33 Abs
1
SGB V enthalten. Indessen setzt der Anspruch auf Gewährung eines Hilfsmittels jedenfalls mehr voraus als die Erforderlichkeit im
engeren Sinn, nämlich auch die Wirtschaftlichkeit. Der Senat hält deshalb an der Rechtsprechung fest, nach der auch für den
Anspruch auf Gewährung von Hilfsmitteln die Voraussetzungen des früheren § 182 Abs 2 der
Reichsversicherungsordnung (
RVO), jetzt §
12
SGB V festzustellen sind (vgl BSG SozR 2200 § 182b Nr 30 - Schreibtelefon - S 78; Nr 33 - Klingelleuchte - S 92; Nr 34 - Optacon I - S 96).
Im Optacon I-Urteil hat der 8. Senat den Anspruch auf Gewährung eines Hilfsmittels zum Ersatz der ausgefallenen Funktion des
Sehens dann verneint, wenn ein anderes Hilfsmittel zur Verfügung steht, das das Informationsbedürfnis in annähernd gleichem
Umfang zu befriedigen vermag (BSG aaO S 95, 96). Diese Aussage des 8. Senats bezieht sich auf den - vorliegend nicht gegebenen
-Fall eines ersetzenden Hilfsmittels. Zu den Fragen der Eignung des Hilfsmittels, aber auch der Notwendigkeit hat der 8. Senat
den Unterschied zwischen ersetzenden und ergänzenden Hilfsmitteln hervorgehoben (aaO S 94, 95). Das Optacongerät, das Gegenstand
der Entscheidung war, ermöglicht es einem Blinden, Schriftzeichen durch vibrierende Wiedergabe zu ertasten. Dagegen ist ein
- wie hier - unmittelbar auf den Behinderungsausgleich gerichtetes Hilfsmittel so zu gewähren, daß es den Funktionsausfall
möglichst weitgehend im Rahmen einer normalen Lebensführung ausgleicht (BSG SozR 2200 § 182b Nr 13 - Krankenfahrstuhl -S 41,
42). Es ist deshalb zumindest im Bereich der ergänzenden Hilfsmittel nicht entscheidend, ob allgemein die Aufnahme von Informationen
oder speziell das Lesen als elementares Grundbedürfnis angesehen wird. Jedenfalls ermöglicht das Sehen andere Informationen
als das Hören. Das Lesen erschließt insbesondere sowohl vom Gegenstand her (Bilder, Farbe) als auch qualitativ nach der Art
der Aufnahme, auf die das LSG hingewiesen hat, andere Informationsbereiche.
Zur Notwendigkeit der Versorgung mit einem Hilfsmittel gehört aber nach der Rechtsprechung des BSG ferner, daß die Behinderung
nicht nur in einem unwesentlichen Umfang ausgeglichen wird (BSG SozR 2200 § 182b Nr 25 - Kopfschreiber - S 66; Nr 28 - Mikroportanlage
- S 72; Nr 33 - Klingelleuchte - S 92). Der 11. Senat des BSG hat dieses Erfordernis im Urteil vom 16. Dezember 1987 - Optacon
II - (BSG SozR 5420 § 16 Nr 1 S 3) allerdings nur angenommen, wenn ein Hilfsmittel eine ausgefallene Funktion nur teilweise
ausgleichen kann. Dazu hat das LSG ausgeführt, dies sei beim Bildschirmlesegerät nicht der Fall. Das LSG nimmt damit Bezug
auf seine Feststellung, daß das Gerät dem Kläger unmittelbar die Ausübung der beeinträchtigten Sehfunktion ermöglicht. Indessen
geht das LSG damit von einem unzutreffenden Verständnis der Entscheidung des 11. Senats aus. Der 11. Senat hat nicht zum Ausdruck
gebracht, daß die Voraussetzung des Ausgleichs in nicht unwesentlichem Umfang nur für ersetzende Hilfsmittel gelte. Vielmehr
soll sie auch bei solchen Hilfsmitteln angewendet werden, die die Ausübung der ausgefallenen Funktion ermöglichen. Das ergibt
sich aus der Bezugnahme des 11. Senats auf die Entscheidung des BSG in SozR 2200 § 182b Nr 28, denn mit der Mikroportanlage,
die Gegenstand dieser Entscheidung war, kann der Behinderte unmittelbar besser hören.
Der Senat hält an der Rechtsprechung fest, nach der es für die Notwendigkeit der Gewährung des Hilfsmittels auch auf den Umfang
des Behinderungsausgleichs ankommt. Dies gilt nicht nur für ersetzende, sondern auch für ergänzende Hilfsmittel. Dem
SGB V kann nicht entnommen werden, daß der Versicherte unter gänzlicher Außerachtlassung des Verhältnisses von Nutzen und Kosten
auch solche Hilfsmittel beanspruchen könnte, die die Behinderung nur in geringfügigem Maße auszugleichen vermögen. Nach §
12 Abs
1
SGB V sind solche Leistungen nicht zu gewähren, die nicht notwendig oder die unwirtschaftlich sind. Zur Wirtschaftlichkeit gehört
eine begründbare Relation zwischen Kosten und Heilerfolg (BSGE 52, 70, 75 = SozR 2200 § 182 Nr 72; vgl auch BSGE 52, 134, 139 = SozR aaO Nr 76; Beschluß des Senats vom 10. März 1987 - 3 S 1/87 -). Im Urteil vom 16. Dezember 1987 - Optacon II -(aaO) hat der 11. Senat ausgeführt, es würde dem allgemeinen Grundsatz
der Verhältnismäßigkeit widersprechen, wenn Umfang und Notwendigkeit des teilweisen Ausgleichs der ausgefallenen Sehfunktion
und die entstehenden Kosten in keinem angemessenen Verhältnis mehr stünden. Bei den im vorliegenden Fall aufzubringenden Kosten
von 5.700,-- DM erscheint dem Senat allerdings die Relation zum Ausgleich der Behinderung begründbar unter der Voraussetzung,
daß durch das Gerät ein Ausgleich in nicht nur unwesentlichem Umfang erreicht wird. Das Erfordernis der Wesentlichkeit dieses
Umfangs ergibt sich schließlich auch schon aus dem Krankheitsbegriff. Unerhebliche Störungen der natürlichen Körperfunktion
begründen keinen Anspruch auf Leistungen der Krankenversicherung (BSGE 35, 105, 106 = SozR Nr 55 zu § 182
RVO). Da aber Hilfsmittel nicht unmittelbar bei der Krankheit ansetzen, ist insoweit für die Wesentlichkeit des Ausgleichs auch
nicht unerheblich, ob und inwieweit die Funktion gleichwertig und zumutbar ohne das Hilfsmittel ausgeglichen werden kann -
hier die Sehschwäche durch das Hören -.
Für die Beurteilung, ob ein Hilfsmittel die Minderfunktion des geschädigten Körperorgans in nicht unwesentlichem Maß verbessert,
ist entscheidend, welche Gebrauchsvorteile das Hilfsmittel zu bieten vermag (vgl BSG Urteil vom 16. Dezember 1987 - Optacon
II - aaO). Das LSG hat dazu festgestellt, daß das Bildschirmlesegerät Schriftzeichen und ähnliches aufnehme und um das drei-
bis vierzigfache vergrößere; es ermögliche dem Kläger die Ausübung der beeinträchtigten Sehfunktion. Dieser Feststellung ist
nicht zu entnehmen, ob das Gerät objektiv einen wesentlichen Ausgleich der erheblichen Sehbehinderung des Klägers ermöglicht.
Er kann damit Schriftzeichen "und ähnliches" lesen. Ob aber dem Kläger über die ihm zugänglichen akustischen Mitteilungen
hinaus mit Hilfe des Geräts in wesentlichem Umfang Informationen zugänglich gemacht werden, bedarf zusätzlicher Ermittlungen.
Der Senat hat ausgeführt, zum Ausgleich für die beeinträchtigten normalen Tätigkeiten gehörten in unserer Zivilisation doch
auch das Lesen und die damit verbundene eigene Auswahl (Beschluß vom 10. März 1987 - 3 S 1/87 -). Bei einer vierzigfachen Vergrößerung sind aber das Lesen und die damit verbundene Auswahl möglicherweise derart eingeschränkt,
daß praktisch nur noch eine unerhebliche Informationsmöglichkeit verbleibt. Wesentliche Vorteile der Informationsaufnahme
durch Lesen könnten bei einer derartigen Vergrößerung verloren gehen. Beim Lesen mit gesunden Augen werden Buchstaben zu Worten
und Worte im Überblick zusammengezogen und als Sätze wahrgenommen. Der Leser unterscheidet Überschriften von anderen Textteilen
und erfaßt dadurch und durch Herausgreifen einzelner Stichworte aus dem Text auf einen Blick den ungefähren Inhalt ganzer
Abschnitte. Ob und inwieweit diese Methoden der Erfassung auch bei vierzigfacher Vergrößerung noch möglich sind, erscheint
fraglich. Möglicherweise ist dabei schon die Bildung von Wörtern mindestens sehr erschwert, so daß nur noch ein ganz geringer
praktischer Gebrauchsvorteil verbleibt. Es bedarf deshalb der Feststellung, wie der Behinderte mit dem Gerät arbeiten, insbesondere
auf welche Weise er sich das von der Kamera Aufgenommene im einzelnen und im Zusammenhang unter Berücksichtigung der verschiedenen
Vergrößerungen sichtbar machen kann und in welcher Zeit sich mit dem Gerät ein schriftlich dargestellter Gedanke erfassen
läßt; ferner inwieweit gerade der Kläger im Hinblick auf seine persönlichen Verhältnisse mit dem Gerät lesen kann, insbesondere
auch welcher Vergrößerung er bedarf.
Aus allen diesen Gründen wird das LSG noch die objektive Nutzungsmöglichkeit des Bildschirmlesegeräts für den Kläger zu ermitteln
haben.