Anspruch auf Arzneimittelversorgung bei lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlich verlaufenden Erkrankungen
Gründe:
I. Die Beteiligten streiten über die Erstattung künftig entstehender Kosten für das Arzneimittel Mnesis (Wirkstoff Idebenone).
Bei der 1981 geborenen, bei der beklagten Ersatzkasse versicherten, in hohem Maße schwerbehinderten Klägerin wurde im 7. Lebensjahr
eine Friedreich'sche Ataxie (FRDA) festgestellt, wegen der sie seit ihrem 11. Lebensjahr rollstuhlpflichtig ist. Sie leidet
ua an einer krankheitstypischen hypertrophen Kardiomyopathie (= Zunahme der Wanddicke des Herzmuskels, zu allgemeiner Leistungsminderung
und eingeschränkter Lebenserwartung führend). Bei der Grunderkrankung, für die es bisher keine kausale Therapie gibt, handelt
es sich um eine meist im späten Kindes-/frühen Erwachsenenalter auftretende genetisch bedingte Störung der Bewegungskoordination,
Muskelatrophie und Polyneuropathie; die Krankheit verläuft progredient, jedoch sind auch über Jahre hinweg stabile Symptome
ohne Progredienz möglich (vgl Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, 260. Aufl 2004, Stichworte "Friedreich-Ataxie" und "Kardiomyopathie").
Am 24. Oktober 2001 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die Kostenübernahme für das in Deutschland nicht zugelassene,
aus Italien beschaffte Mittel Mnesis. Sie leide an einer schweren Krankheit und habe die Therapie mit Mnesis "selbstständig"
im November 2000 nach Rücksprache mit ihrem behandelnden Arzt (Kinderarzt Dr. G.) und unter Verlaufskontrolle des Chefarztes
der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin/Kinderkardiologie des Klinikums B. - Dr. K. begonnen. Das Mittel werde in anderen
Ländern zur Behandlung der Kardiomyopathie bei FRDA angewandt; darüber bestehe in Fachkreisen Konsens. Die Therapie habe positiv
gewirkt, ein Absetzen würde zu einer Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes führen; dies ergebe sich aus vorgelegten
Berichten ihrer Ärzte sowie wissenschaftlichen Publikationen.
Nach Einschaltung des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) lehnte die Beklagte die Versorgung mit Mnesis ab,
weil es in Deutschland überhaupt nicht arzneimittelrechtlich zugelassen sei und in anderen Ländern nur für andere Indikationen;
ein Wirksamkeitsnachweis iS der Rechtsprechung zur zulassungsüberschreitenden Anwendung von Arzneimitteln (Off-Label-Use)
fehle (Bescheid vom 15. April 2002; Widerspruchsbescheid vom 30. Januar 2003). Das Sozialgericht hat die auf Erstattung der
angefallenen Kosten und auf künftige Kostenübernahme gerichtete Klage aus ähnlichen Gründen abgewiesen (Urteil vom 8. März
2005).
Im Berufungsverfahren hat die Klägerin ua geltend gemacht, dass sie an einer "seltenen Erkrankung" iS des europäischen Arzneimittelrechts
leide und dass der streitige Wirkstoff den sog "orphan drug"-Status für die Behandlung der FRDA habe. Mnesis sei dafür in
der Schweiz seit Mai 2004 befristet zugelassen. Studien der Jahre 1999 bis 2003 belegten den Nutzen bei über 100 Patienten.
Die Verweigerung des Mittels verletze ihr Grundrecht auf Leben und Gesundheit. Das Landessozialgericht (LSG) hat ein weiteres
MDK-Gutachten, Befundberichte sowie Auskünfte des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) beigezogen
sowie ein Sachverständigengutachten des Neurologen Prof. Dr. K./Universitätsklinikum B. eingeholt. Es hat die Beklagte, gestützt
auf eine entsprechende Anwendung des §
13 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (
SGB V) verurteilt, die der Klägerin "zukünftig" entstehenden Kosten für Mnesis zu übernehmen. Der Klägerin stehe das begehrte Arzneimittel
trotz Fehlens der arzneimittelrechtlichen Zulassung zu, weil §
31 SGB V mit Blick auf den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 6. Dezember 2005 - 1 BvR 347/98 - verfassungskonform ausgelegt werden müsse: Es gebe ernsthafte Hinweise, dass Mnesis spürbar positiv auf den Verlauf der
hypertrophen Kardiomyopathie bei FRDA einwirke. Mnesis müsse der Klägerin aber zumindest privatärztlich verordnet werden (Urteil
vom 28. März 2006).
Mit ihrer Revision rügt die Beklagte die Verletzung von § 2, § 12, §
27 Abs
1 Satz 1 und
2 Nr
3 sowie §
31 Abs
1 Satz 1
SGB V. Der Leistungsanspruch der Klägerin bestehe nicht, weil Mnesis arzneimittelrechtlich nicht zugelassen und daher nicht verkehrsfähig
sei. Dieser Umstand lasse sich nicht mit Hilfe des Beschlusses des BVerfG vom 6. Dezember 2005 überwinden. Das LSG nehme das
danach erforderliche Merkmal einer "lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlich verlaufenden Erkrankung" nicht hinreichend
in den Blick. Bei der Klägerin liege unter Berücksichtigung der zwischenzeitlichen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts
(BSG) keine dem Fall des BVerfG (= Duchenne'sche Muskeldystrophie) vergleichbare notstandsähnliche Extremsituation mit krankheitsbedingter
Lebensgefahr vor. Nach Prof. Dr. K. bestehe bei der FRDA für die Patienten selbst nach Jahrzehnten noch eine hohe Überlebenswahrscheinlichkeit.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 28. März 2006 aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das
Urteil des Sozialgerichts Potsdam vom 8. März 2005 zurückzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das LSG-Urteil mit Blick auf den Beschluss des BVerfG vom 6. Dezember 2005 und die Ausführungen des Sachverständigen
für zutreffend. Ein Patient, der sein Leben ohne Bereitstellung vorhandener Medikamente aller Voraussicht nach im 50. Lebensjahr
verlieren werde, habe den gleichen verfassungsrechtlichen Schutz wie ein sterbenskrankes Kind. Schwellenwerte seien ethisch
und rechtlich unhaltbar.
II. Die zulässige Revision der beklagten Ersatzkasse ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des LSG-Urteils und zur Zurückweisung
der Berufung der Klägerin gegen das klageabweisende erstinstanzliche Urteil. Das LSG hat die Beklagte zu Unrecht verurteilt,
der Klägerin die zukünftig für das Arzneimittel Mnesis (Wirkstoff Idebenone) entstehenden Kosten zu erstatten.
Die Voraussetzungen des allein in Betracht kommenden Anspruchs aus §
13 Abs
3 Satz 1 Fall 2
SGB V (hier anzuwenden in der seit 1. Juli 2001 geltenden Fassung von Art 5 Nr 7 Buchst b Neuntes Buch Sozialgesetzbuch - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen vom 19. Juni 2001, BGBl I
1046) sind nicht erfüllt. Danach ist eine Krankenkasse zur Kostenerstattung verpflichtet, wenn sie eine Leistung zu Unrecht
abgelehnt hat und dem Versicherten dadurch für die selbstbeschaffte Leistung Kosten entstanden sind. Die Beklagte hat die
Versorgung mit dem Arzneimittel Mnesis nicht zu Unrecht abgelehnt. Das folgt aus dem Leistungsrecht der gesetzlichen Krankenversicherung
(dazu 1. - 2.), auch wenn es verfassungskonform ausgelegt wird (dazu 2.).
1. Der Kostenerstattungsanspruch nach §
13 Abs
3 SGB V reicht nicht weiter als ein entsprechender Sachleistungsanspruch des Versicherten gegen seine Krankenkasse. Er setzt daher
voraus, dass die selbstbeschaffte Behandlung zu den Leistungen gehört, welche die Krankenkassen allgemein in Natur als Sach-
oder Dienstleistung zu erbringen haben (stRspr, vgl zB BSGE 79, 125, 126 f = SozR 3-2500 § 13 Nr 11 S 51 f mwN; zuletzt: BSG, Urteil vom 7. November 2006 - B 1 KR 24/06 R - LITT, zur Veröffentlichung vorgesehen). Zu diesen Leistungen gehört die Versorgung mit dem Arzneimittel Mnesis nicht. Denn
Fertigarzneimittel sind mangels Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit (§
2 Abs
1 Satz 1, §
12 Abs
1 SGB V) nicht von der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) nach §
27 Abs
1 Satz 2 Nr
1 und
3, §
31 Abs
1 Satz 1
SGB V umfasst, wenn ihnen die erforderliche (§ 21 Abs 1 Arzneimittelgesetz [AMG]) arzneimittelrechtliche Zulassung fehlt (vgl BSG, Urteil vom 4. April 2006 - B 1 KR 12/04 R - D-Ribose, RdNr 22 mwN, zur Veröffentlichung vorgesehen). Dies ist hier der Fall.
Mnesis ist - in der Weise, wie es zB in Italien und der Schweiz vertrieben wird - ein industriell hergestelltes Fertigarzneimittel
iS von § 4 Abs 1 AMG. Es besteht aus Stoffen bzw Zubereitungen, die dazu bestimmt sind und bei der Klägerin auch dazu eingesetzt werden sollen,
durch Anwendung am oder im menschlichen Körper Krankheiten, Leiden, Körperschäden oder krankhafte Beschwerden zu heilen, zu
lindern, zu verhüten oder zu erkennen. Mnesis ist damit auch im krankenversicherungsrechtlichen Sinne als Arzneimittel anzusehen
(§
27 Abs
1 Nr
3, §
31 SGB V). Derartige Fertigarzneimittel dürfen gemäß § 21 Abs 1 Satz 1 AMG im Geltungsbereich des AMG nur in den Verkehr gebracht werden, wenn sie durch die zuständige Bundesoberbehörde zugelassen worden sind oder wenn für
sie die Kommission der Europäischen Gemeinschaften oder der Rat der EU eine Genehmigung für das Inverkehrbringen gemäß Art
3 Abs 1 oder 2 der EG-Verordnung (EGV) Nr 726/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 zur Festlegung von Gemeinschaftsverfahren für die
Genehmigung und Überwachung von Human- und Tierarzneimitteln und zur Errichtung einer Europäischen Arzneimittel Agentur (ABl
EU Nr L 136/1) erteilt hat. An einer solchen Zulassung fehlt es.
Für das zulassungspflichtige Mnesis lag weder in Deutschland noch EU-weit eine solche Arzneimittelzulassung vor. Die in einzelnen
EU-Staaten für eine andere Indikation und in der Schweiz befristet unter Modifikationen für die hier einschlägige Indikation
erteilte Arzneimittelzulassung von Mnesis - beschränkt jeweils auf diese Staaten - entfaltet nicht zugleich auch entsprechende
Rechtswirkungen für Deutschland. Weder das deutsche Recht noch das Europarecht sehen eine solche Erweiterung der Rechtswirkungen
der nur von nationalen Behörden erteilten Zulassungen ohne ein entsprechend vom Hersteller eingeleitetes sowie positiv beschiedenes
Antragsverfahren vor (vgl im Einzelnen BSGE 93, 1 = SozR 4-2500 § 31 Nr 1, jeweils Leitsatz und RdNr 11 ff - Immucothel). Damit kommt mangels Zulassung von Mnesis seine zulassungsüberschreitende
Anwendung (vgl dazu BSGE 89, 184 ff = SozR 3-2500 § 31 Nr 8 - Sandoglobulin) von vornherein nicht in Betracht (BSGE 93, 1 = SozR aaO, jeweils RdNr 22). Auch um einen Seltenheitsfall, der sich einer systematischen Erforschung entzieht (vgl dazu
BSGE 93, 236 = SozR 4-2500 § 27 Nr 1, jeweils RdNr 21 - Visudyne), handelt es sich nicht.
Angesichts der fehlenden arzneimittelrechtlichen Zulassung kann offen bleiben, was daraus abzuleiten ist, dass das BfArM bereits
am 13. Juli 1998 dem Wirkstoff Idebenone und dem Arzneimittelnamen "Alzkat" (90 bzw 120 mg) die beantragte Zulassung für andere
als die im vorliegenden Rechtsstreit betroffenen Indikationen versagt hat (vgl: https://gripsdb.dimdi.de/websearch/servlet/FlowController/Documents-display
- im Internet recherchiert am 13. Dezember 2006). Ebenso braucht nicht näher dem Umstand nachgegangen zu werden, dass das
seit dem Jahr 2000 von der Klägerin aus Italien beschaffte Mittel dort (anders in der Schweiz) offenbar rezeptfrei erhältlich
ist (vgl aber §
34 Abs
1 Satz 1
SGB V idF des GKV-Modernisierungsgesetzes vom 14. November 2003, BGBl I 2190). Lediglich ergänzend verweist der Senat darauf, dass
kein Anspruch daraus folgt, dass der Wirkstoff Idebenone wohl auch als Nahrungsergänzungsmittel kostengünstig ohne Einschaltung
von Apotheken aus den Niederlanden bzw den USA bezogen werden kann (vgl www.f-ataxie.de/idebenone.htm - recherchiert am 1.
Dezember 2006; zur Abgrenzung von Nahrungsergänzungsmitteln und Arzneimittel sowie der fehlenden Leistungspflicht der Krankenkassen
vgl zB Senatsurteil vom 4. April 2006 - B 1 KR 12/04 R - RdNr 16 ff, 24 f mwN - D-Ribose).
2. Zu keinem anderen Ergebnis führt auf Grund des Beschlusses des BVerfG vom 6. Dezember 2005 (1 BvR 347/98 - SozR 4-2500 § 27 Nr 5 = NZS 2006, 84 = NJW 2006, 891 = MedR 2006, 164 - immunbiologische Therapie) die verfassungskonforme Auslegung derjenigen Normen des
SGB V, die einem verfassungsrechtlich begründeten Anspruch auf Arzneimittelversorgung entgegenstehen (vgl dazu BSG, Urteil vom
4. April 2006 - B 1 KR 7/05 R - Tomudex, RdNr 23, zur Veröffentlichung vorgesehen). Diese Auslegung hat zur Folge, dass nicht nur die Anspruchsvoraussetzungen
von §
27 Abs
1 Satz 2 Nr
3 und §
31 Abs
1 Satz 1
SGB V, sondern auch Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit ausnahmsweise bejaht werden müssen, obwohl das begehrte Arzneimittel
bloß gemäß § 73 Abs 3 AMG im Wege des Einzelimports über eine Apotheke aus dem Ausland beschafft werden kann und deshalb an sich von der Versorgung
ausgeschlossen ist. Die verfassungskonforme Auslegung setzt aber ua voraus, dass eine lebensbedrohliche oder regelmäßig tödlich
verlaufende (vgl BSG, Urteil vom 4. April 2006 - B 1 KR 7/05 R - RdNr 21 und 30 mwN - Tomudex) oder eine zumindest wertungsmäßig damit vergleichbare Erkrankung vorliegt (vgl BSG, Urteil
vom 4. April 2006 - B 1 KR 12/04 R - RdNr 31 - D-Ribose, zur Veröffentlichung vorgesehen). Daran fehlt es.
Mit dem Kriterium einer Krankheit, die zumindest mit einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlich verlaufenden Erkrankung
in der Bewertung vergleichbar ist, ist eine strengere Voraussetzung umschrieben, als sie etwa mit dem Erfordernis einer "schwerwiegenden"
Erkrankung für die Eröffnung des sog Off-Label-Use (vgl dazu BSGE 89, 184 ff = SozR 3-2500 § 31 Nr 8 - Sandoglobulin) formuliert ist. Denn hieran knüpfen weiter gehende Folgen an. Ohne einschränkende
Auslegung ließen sich fast beliebig bewusst vom Gesetzgeber gezogene Grenzen überschreiten. Entscheidend ist, dass das vom
BVerfG herangezogene Kriterium bei weiter Auslegung sinnentleert würde, weil nahezu jede schwere Krankheit ohne therapeutische
Einwirkung irgendwann auch einmal lebensbedrohende Konsequenzen nach sich zieht. Das kann aber ersichtlich nicht ausreichen,
das Leistungsrecht des
SGB V und die dazu ergangenen untergesetzlichen Regelungen nicht mehr als maßgebenden rechtlichen Maßstab für die Leistungsansprüche
der Versicherten anzusehen (vgl BSG, Urteil vom 26. September 2006 - B 1 KR 3/06 R - RdNr 34 - Neuropsychologische Therapie).
Bereits die Anforderungen an das Bestehen einer "schwerwiegenden" Erkrankung sind erheblich. Nicht jede Art von Erkrankung
kann den Anspruch auf eine Behandlung mit dazu nicht zugelassenen Arzneimitteln begründen, sondern nur eine solche, die sich
durch ihre Schwere oder Seltenheit vom Durchschnitt der Erkrankungen abhebt (vgl näher BSG, Urteil vom 26. September 2006
- B 1 KR 1/06 R - RdNr 18, zur Veröffentlichung vorgesehen - Ilomedin). Denn der Off-Label-Use bedeutet, Arzneimittel ohne die arzneimittelrechtlich
vorgesehene Kontrolle der Sicherheit und Qualität einzusetzen, die in erster Linie Patienten vor inakzeptablen unkalkulierbaren
Risiken für die Gesundheit schützen soll (vgl hierzu BSGE 95, 132 RdNr 18 = SozR 4-2500 § 31 Nr 3 RdNr 25 mwN - Wobe-Mugos E). Ausnahmen können schon insoweit nur in engen Grenzen auf Grund
einer Güterabwägung anerkannt werden, die der Gefahr einer krankenversicherungsrechtlichen Umgehung arzneimittelrechtlicher
Zulassungserfordernisse entgegenwirkt, die Anforderungen des Rechts der GKV an Qualität und Wirksamkeit der Arzneimittel (§
2 Abs
1 und §
12 Abs
1 SGB V) beachtet und den Funktionsdefiziten des Arzneimittelrechts in Fällen eines unabweisbaren, anders nicht zu befriedigenden
Bedarfs Rechnung trägt (vgl BSGE 89, 184, 190 ff = SozR 3-2500 § 31 Nr 8 S 34 ff; BSGE 95, 132 RdNr 17 f = SozR 4-2500 § 31 Nr 3 RdNr 24 f mwN - Wobe-Mugos E; BSG, Urteil vom 26. September 2006 - B 1 KR 14/06 R - RdNr 11, zur Veröffentlichung vorgesehen - Cabaseril; von Wulffen, Festschrift für Wiegand, 2003, S 161, 174; Hauck, Arzneimittel
& Recht [A&R] 2006, 147, 148 f).
Über diese Anforderungen geht es deutlich hinaus, wenn als GKV-Leistung nicht bloß der Off-Label-Use eines mit anderer Indikation
in Deutschland zugelassenen Fertigarzneimittels, sondern im Rahmen verfassungskonformer Auslegung der Einzelimport eines überhaupt
nicht in Deutschland zugelassenen Mittels nach § 73 AMG in Rede steht. Der institutionelle Schutz, den das für Deutschland erforderliche Arzneimittelzulassungsverfahren bietet,
fehlt in solchen Fällen vollständig. Damit drohen den Versicherten Gesundheitsgefahren, vor denen sie das Zulassungsverfahren
gerade schützen will. Soll trotzdem unter Berufung auf den verfassungsrechtlich gebotenen Gesundheitsschutz ein Anspruch auf
Einzelimportarzneimittel zu Lasten der GKV begründet werden, kann nicht unberücksichtigt bleiben, ob sich die Gefahr eines
tödlichen Krankheitsverlaufs schon in näherer oder erst in ganz ferner, noch nicht genau absehbarer Zeit zu konkretisieren
droht. Verbleibt durch einen langen, verzögerten Krankheitsverlauf jahrzehntelang Zeit zur Therapie, ist in Rechnung zu stellen,
dass die im Zeitablauf typischerweise voranschreitenden medizinischen und pharmakologischen Erkenntnisse in Zukunft Therapiemöglichkeiten
eröffnen und (positive wie negative) Ergebnisse zu Tage fördern können, welche aktuell noch nicht verfügbar sind. Dann aber
ist es auch verfassungsrechtlich hinnehmbar, den von einer schweren Krankheit betroffenen Patienten bei fehlender Akut-Problematik
trotz der damit verbundenen Belastungen und Unzuträglichkeiten in der Regel abzuverlangen, vor der Inanspruchnahme der GKV
für unkonventionelle Pharmakotherapien zunächst das Vorliegen einer auf solchen Forschungsergebnissen gestützten Zulassung
der beanspruchten Fertigarzneimittel abzuwarten. Dies gilt erst recht, wenn - wie hier - in absehbarer Zeit Ergebnisse zu
aktuell laufenden bzw unmittelbar anstehenden aussagekräftigen, breit angelegten Forschungsvorhaben zu erwarten sind. Dementsprechend
hat das BSG die qualifizierten Erfordernisse einer lebensbedrohlichen Krankheit verneint zB bei einem Prostata-Karzinom im
Anfangsstadium (Urteil vom 4. April 2006 - B 1 KR 12/05 R - RdNr 36 - Interstitielle Brachytherapie mit Permanent-Seeds) und bei einer erst in 20 bis 30 Jahren drohenden Erblindung
(Beschluss vom 26. September 2006 - B 1 KR 16/06 B).
Gerechtfertigt ist eine verfassungskonforme Auslegung der einschlägigen gesetzlichen Regelungen daher nur, wenn eine notstandsähnliche
Situation im Sinne einer in einem gewissen Zeitdruck zum Ausdruck kommenden Problematik vorliegt, wie sie für einen zur Lebenserhaltung
bestehenden akuten Behandlungsbedarf typisch ist. Das bedeutet, dass nach den konkreten Umständen des Falles bereits drohen
muss, dass sich der voraussichtlich tödliche Krankheitsverlauf innerhalb eines kürzeren, überschaubaren Zeitraums mit großer
Wahrscheinlichkeit verwirklichen wird. Ähnliches kann für den ggf gleichzustellenden, nicht kompensierbaren Verlust eines
wichtigen Sinnesorgans oder einer herausgehobenen Körperfunktion gelten.
Die bei der Klägerin im Rahmen der FRDA aufgetretene Kardiomyopathie, um deren Behandlung mit Mnesis es allein geht, kann
- trotz der unbestreitbaren Schwere dieser Erkrankung - nicht im beschriebenen Sinne mit einer lebensbedrohlichen bzw regelmäßig
tödlich verlaufenden Erkrankung auf eine Stufe gestellt werden. Während die von der Duchenne'schen Muskeldystrophie betroffenen
Patienten zumeist das 20. Lebensjahr nicht erleben (so in dem vom BVerfG, aaO, entschiedenen Fall, vgl BSGE 81, 54, 55 = SozR 3-2500 § 135 Nr 4), besteht bei der FRDA nach der vom LSG zu Grunde gelegten Darstellung des Sachverständigen
Prof. Dr. K. eine statistische 10-Jahres-Überlebenswahrscheinlichkeit von 96 vH, eine 20-Jahres-Überlebensrate von 80 vH und
eine 30-Jahres-Rate von 61 vH; auf Grund eigener Untersuchungen ist der Sachverständige zu einer 75 vH-Überlebensrate bezogen
auf einen Zeitraum von 34 Jahren nach Auftreten der Krankheit gelangt, wobei sich die Auswirkungen der durch die Kardiomyopathie
bedingten verminderten körperlichen Belastbarkeit nicht sicher erfassen ließen. Nach Darstellung eines aktuell mit Idebenone
bei FRDA forschenden Unternehmens soll die durchschnittliche Lebenserwartung von FRDA-Patienten bei ca 35 bis 50 Jahren liegen
(Presse-Mitteilung Santhera Pharmaceuticals vom 6. Oktober 2006, recherchiert im Internet am 29. November 2006 unter www.santhera.com
- "Mediacenter - New Releases"), nach einer Veröffentlichung der Schweizer Zulassungsbehörde im Mittel ca 30-45 Jahre betragen
(swissmedic Journal 5/2004, 482). Angesichts dieser Zahlen besteht aber selbst nach der für die betroffenen Patienten ungünstigsten
Einschätzung eine Lebenserwartung, die sich von der Situation bei Duchenne'scher Muskeldystrophie deutlich abhebt. Diese Erkenntnis
steht in Einklang mit der in der wissenschaftlichen Literatur zur FRDA anzutreffenden Angabe, dass diese Krankheit zwar progredient
verläuft und zu einer eingeschränkten Lebenserwartung führt, dass aber auch über Jahre hinweg stabile Symptome ohne Progredienz
möglich sind (so Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, 260. Aufl 2004, Stichwort "Friedreich-Ataxie"; Zühle/Otto/Wessel/Schwinger,
DÄBl 1996, A-3127).
Nur ergänzend weist der Senat darauf hin, dass nach einer Stellungnahme des Ärztlichen Beirats der Deutschen Heredo Ataxie-Gesellschaft
vom 15. April 2000 wegen des typischerweise nur langsam progredienten Krankheitsverlaufs die Anwendung von Idebenone/Mnesis
erst nach dem Vorliegen genauerer Studien in näherer Zeit selbst aus ärztlicher Sicht vertretbar erschien. Der Senat muss
zudem nicht entscheiden, ob die weiteren Voraussetzungen erfüllt wären, die er im Anschluss an den Beschluss des BVerfG vom
6. Dezember 2005 (aaO) für eine unkonventionelle Arzneimittelversorgung auf Kosten der gesetzlichen Krankenversicherung bei
vorhersehbar tödlich verlaufenden Krankheiten aufgestellt hat (Urteil vom 4. April 2006 - B 1 KR 7/05 R - RdNr 27, 38 ff, 49 ff - Tomudex).
3. Die Kostenentscheidung folgt aus §
193 SGG.