Divergenzrüge im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren
Begriff der Abweichung
Gründe
I
Der Kläger, der von März 2015 bis Februar 2016 gesetzlich versichertes Mitglied der Beklagten war, ist mit seinem Begehren
auf Feststellung, dass die Beklagte ihm zu Unrecht eine Kommunikation per E-Mail verweigere, in den Vorinstanzen erfolglos
geblieben. Das SG hat zur Begründung ausgeführt, nach Beendigung der Mitgliedschaft fehle es an einem Feststellungsinteresse (Gerichtsbescheid vom 18.7.2018). Im Berufungsverfahren hat der Kläger unter Übersendung eines aktuellen Grundsicherungsbescheides nach dem SGB XII die Übernahme der Fahrkosten für die Anreise zur mündlichen Verhandlung beantragt. Das LSG hat ihm daraufhin mitgeteilt,
eine Übernahme von Fahrkosten sei im Gesetz nicht vorgesehen (Schreiben vom 22.2.2019 zum am selben Tag verhandelten Verfahren L 1 KR 54/18, nachfolgend B 1 KR 35/20 B). Der Kläger könne sich ggf mit dem zuständigen Grundsicherungsträger ins Benehmen setzen. Das LSG hat nach mündlicher Verhandlung
am 7.3.2019 in Abwesenheit des Klägers die Berufung zurückgewiesen und zur Begründung gemäß §
153 Abs
2 SGG auf die Entscheidungsgründe der erstinstanzlichen Entscheidung verwiesen. Der Vortrag des Klägers im Berufungsverfahren führe
zu keiner anderen Bewertung. Er habe bereits deshalb keinen Anspruch auf die begehrte Feststellung, weil die Beklagte weder
verpflichtet noch berechtigt sei, sich auf eine Kommunikation mittels einfacher, nicht geschützter E-Mail einzulassen (Urteil vom 7.3.2019). Eine gegen das Urteil erhobene Anhörungsrüge des Klägers, mit der der Kläger ua auf eine Verwaltungsvorschrift über die
Gewährung von Reiseentschädigungen an mittellose Personen und Vorschusszahlungen für Reiseentschädigungen hingewiesen hat,
hat das LSG mit der Begründung zurückgewiesen, dass ein verständiger Kläger das Berufungsverfahren nicht angestrengt hätte
(Beschluss vom 4.4.2019).
Der Kläger wendet sich mit seiner Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im LSG-Urteil.
II
Die Beschwerde ist unzulässig und daher gemäß §
160a Abs
4 Satz 1 Halbsatz 2 iVm §
169 Satz 3
SGG zu verwerfen. Ihre Begründung entspricht nicht den aus §
160a Abs
2 Satz 3
SGG abzuleitenden Anforderungen an die Bezeichnung der geltend gemachten Revisionszulassungsgründe des Verfahrensfehlers (§
160 Abs
2 Nr
3 SGG; dazu 1.) und der Divergenz (§
160 Abs
2 Nr
2 SGG; dazu 2.).
1. Nach §
160 Abs
2 Nr
3 SGG ist die Revision zuzulassen, wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen
kann; der Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung von §
109 SGG und §
128 Abs
1 Satz 1
SGG (Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung) und auf eine Verletzung des §
103 SGG (Amtsermittlungsgrundsatz) nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende
Begründung nicht gefolgt ist. Nach §
160a Abs
2 Satz 3
SGG sind die Umstände zu bezeichnen, die den entscheidungserheblichen Mangel ergeben sollen (vgl zB BSG vom 29.9.1975 - 8 BU 64/75 - SozR 1500 § 160a Nr 14; BSG vom 24.3.1976 - 9 BV 214/75 - SozR 1500 § 160a Nr 24; BSG vom 18.2.1980 - 10 BV 109/79 - SozR 1500 § 160a Nr 36).
Wer - wie hier der Kläger - die Verletzung des rechtlichen Gehörs (§
62 SGG, Art
103 Abs
1 GG, Art 6 Abs 1 EMRK) rügt, muss auch darlegen, dass er seinerseits alles ihm Zumutbare getan hat, um sich Gehör zu verschaffen (vgl BSG vom 13.11.2017 - B 13 R 152/17 B - juris RdNr 12 mwN; BSG vom 28.6.2019 - B 1 KR 50/18 B - juris RdNr 7). Denn eine Verletzung rechtlichen Gehörs kann nicht geltend machen, wer es selbst versäumt hat, sich vor Gericht durch die
zumutbare Ausschöpfung der vom einschlägigen Prozessrecht eröffneten und nach Lage der Dinge tauglichen Möglichkeiten Gehör
zu verschaffen (vgl BVerfG vom 18.8.2010 - 1 BvR 3268/07 - juris RdNr 28; BSG vom 9.8.2016 - B 9 V 36/16 B - juris RdNr 7; BVerwG vom 3.7.1992 - 8 C 58.90 - juris RdNr 9; BVerwG vom 7.4.2020 - 5 B 30.19 D - juris RdNr 32; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt,
SGG, 13. Aufl 2020, §
62 RdNr 11d, jeweils mwN). In der Beschwerdebegründung muss dargelegt werden, dass diesem Gebot Rechnung getragen wurde bzw dass insoweit keine zumutbare
Möglichkeit bestand (vgl BVerwG vom 7.4.2020 - 5 B 30.19 D - juris RdNr 32 mwN). Diesen Anforderungen wird das Beschwerdevorbringen nicht gerecht.
Der Kläger legt zwar dar, dass er beim LSG die Übernahme der Fahrkosten beantragt und seine Mittellosigkeit durch einen aktuellen
Grundsicherungsbescheid nachgewiesen habe (vgl dazu BSG vom 19.12.2017 - B 1 KR 38/17 B - juris RdNr 5; BSG vom 29.1.2019 - B 5 R 286/18 B - juris RdNr 11). Er führt weiter aus, dass das LSG den Antrag mit Schreiben vom 22.2.2019 unter Außerachtlassung der Allgemeinverfügung (AV)
der Hamburgischen Justizbehörde über die Gewährung von Reiseentschädigungen (AV der Justizbehörde Nr 15/2006 vom 26.6.2006 <5110/1-8>, mit der Änderung durch AV vom 7.8.2009 - HmbJVBl S 45, geändert
durch die AV der Behörde für Justiz und Gleichstellung Nr 1/2014 vom 6.1.2014 <5110/1>, HmbJVBl S 49) abgelehnt habe. Der Kläger versäumt aber darzulegen, warum er seine Einwände gegen diese Ablehnung erst nach der mündlichen
Verhandlung mit der am 15.3.2020 beim LSG eingegangenen "Gehörsrüge" geltend gemacht hat und nicht bereits vor der mündlichen
Verhandlung am 7.3.2019, etwa im Rahmen einer gegen die Ablehnungsentscheidung des LSG vom 22.2.2019 gerichteten formlosen
Gegenvorstellung (zur Statthaftigkeit von Gegenvorstellungen gegen unselbstständige Zwischenentscheidungen und prozessleitende Verfügungen
iS des §
172 Abs
2 Satz 1
SGG vgl BSG vom 17.10.2017 - B 6 KA 5/17 C - juris RdNr 6; Flint in jurisPK-
SGG, §
178a RdNr 110). Das gilt umso mehr, als der Kläger seiner Anhörungsrüge auch einen Beschluss des LSG Nordrhein-Westfalen vom 13.7.2018 beigefügt
hat, mit dem ihm in einem dort geführten Verfahren ein "Fahrtkostenvorschuss" unter Hinweis auf eine Verwaltungsvorschrift
des nordrhein-westfälischen Justizministeriums über die "Gewährung von Reiseentschädigungen an mittellose Personen und Vorschusszahlungen
für Reiseentschädigungen" für die Teilnahme an der dortigen mündlichen Verhandlung gewährt und dies näher begründet worden
war. Insofern hätte es nahegelegen, diesen Beschluss schon vor der mündlichen Verhandlung dem LSG zu übersenden, um diesem
Gelegenheit zu geben, seine Rechtsauffassung zu überdenken. Der Kläger legt nicht dar, dass ihm dies zwischen dem Zugang des
Schreibens des LSG vom 22.2.2019 und der mündlichen Verhandlung am 7.3.2019 nicht möglich gewesen sei oder das Schreiben vom
22.2.2019 ihn nicht rechtzeitig erreicht habe. Diese Darlegung war nicht deshalb entbehrlich, weil die Anhörungsrüge erfolglos
geblieben ist. Hieraus folgt nicht, dass das LSG auch im Falle einer rechtzeitigen Gegenvorstellung vor der mündlichen Verhandlung
die Übernahme der Fahrkosten abgelehnt hätte. Offensichtlich hat dem LSG am 22.2.2019 die Möglichkeit der Gewährung einer
auch nach Verwaltungsvorschriften des Landes Hamburg möglichen Reiseentschädigung nicht vor Augen gestanden. Es ist nicht
auszuschließen, dass das LSG in Kenntnis dessen anders entschieden hätte.
2. Wer sich auf den Zulassungsgrund der Divergenz (§
160 Abs
2 Nr
2 SGG) beruft, muss entscheidungstragende abstrakte Rechtssätze im Urteil des Berufungsgerichts einerseits und in einem Urteil des
BSG, des GmSOGB oder des BVerfG andererseits gegenüberstellen und Ausführungen dazu machen, weshalb beide miteinander unvereinbar
sein sollen und das Berufungsurteil auf dieser Divergenz beruht (vgl zB BSG vom 19.9.2007 - B 1 KR 52/07 B - juris RdNr 6; BSG vom 9.5.2018 - B 1 KR 55/17 B - juris RdNr 8; zur Verfassungsmäßigkeit dieser Darlegungsanforderungen vgl BVerfG <Dreierausschuss> vom 8.9.1982 - 2 BvR 676/81 - juris RdNr 8).
Der Kläger stellt zwar hinsichtlich der Frage, ob ein Leistungsträger berechtigt und verpflichtet ist, sich auf eine Kommunikation
mittels einfacher E-Mail einzulassen, abstrakte Rechtssätze des LSG und des BSG (vgl BSG vom 11.7.2019 - B 14 AS 51/18 R - SozR 4-4200 § 37 Nr 9 RdNr 16) gegenüber. Er legt aber nicht hinreichend dar, dass die angefochtene Entscheidung auf der geltend gemachten Divergenz beruht.
Dazu ist erforderlich, dass die Entscheidung des Berufungsgerichts - ausgehend von dessen Rechtsauffassung - anders hätte
ausfallen müssen (vgl BSG vom 16.7.2020 - B 1 KR 43/19 B - juris RdNr 6 mwN). Ist ein Urteil nebeneinander auf mehrere Begründungen gestützt, so kann eine Nichtzulassungsbeschwerde nur dann zur Zulassung
der Revision führen, wenn im Hinblick auf jede dieser Begründungen ein Zulassungsgrund vorliegt und formgerecht gerügt wird
(vgl BSG vom 18.1.2012 - B 8 SO 36/11 B - juris RdNr 5; BSG vom 10.3.2016 - B 4 AS 699/15 B, B 4 AS 700/15 B - juris RdNr 9; BAG vom 23.7.1996 - 1 ABN 18/96 - juris RdNr 9 = NZA 1997, 281; Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt,
SGG, 13. Aufl 2020, §
160a RdNr 13f, jeweils mwN). Dies ist vorliegend nicht geschehen.
Das LSG hat die Zurückweisung der Berufung in erster Linie mit einer uneingeschränkten Bezugnahme auf die Entscheidungsgründe
des erstinstanzlichen Gerichtsbescheides begründet, in dem die Klage wegen Fehlens eines besonderen Feststellungsinteresses
als unzulässig angesehen wurde. Insofern stellen die weiteren Ausführungen des LSG zu dem mit der Klage geltend gemachten
Anspruch einen im Verhältnis zur Verneinung der Zulässigkeit der Klage weiteren, nur hilfsweise formulierten materiell-rechtlichen
Begründungsstrang im angefochtenen Urteil dar. Zur Unzulässigkeit der Klage mangels Feststellungsinteresses macht der Kläger
aber keinen Zulassungsgrund geltend.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des §
193 Abs
1 SGG.