Anspruch auf eine weitergehende ärztliche Begutachtung als Grundlage für Therapieentscheidungen
Verfahrensrüge im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren
Pflicht zur Bestellung eines besonderen Vertreters
Gründe:
I
Der bei der beklagten Krankenkasse versicherte Kläger begehrt eine weitergehende ärztliche Begutachtung als Grundlage für
Therapieentscheidungen.
Der Kläger wandte sich an die Beklagte mit der Bitte um Unterstützung bei der Therapie für seine vielfältigen Beschwerden
(auch aus dem psychiatrischen Formenkreis). Der von der Beklagten damit beauftragte Medizinische Dienst der Krankenversicherung
(MDK) erstellte gutachtliche Stellungnahmen (12.4. und 13.8.2013) nach Aktenlage, gegen die der Kläger Einwände erhob und
sie als ungenügend ansah. Das SG hat die Klage auf Fortsetzung der medizinischen Begutachtung abgewiesen. Der vom Kläger zulässig mit der allgemeinen Leistungsklage
verfolgte Anspruch sei unbegründet. Versicherte hätten weder aus §
275 SGB V noch aus den §§
13 bis
17 SGB I einen Begutachtungsanspruch (Gerichtsbescheid vom 23.8.2017). Der Kläger hat im Berufungsverfahren geltend gemacht, er benötige
bei eingeschränkter Verhandlungsfähigkeit einen Vertreter. Ohne diesen erhalte er "kein echtes Gehör". Parallel dazu hat er
Prozesskostenhilfe (PKH) unter Beiordnung eines Rechtsanwalts beantragt (Schreiben vom 21.9.2017). Das LSG hat einen Termin
zur mündlichen Verhandlung am 26.4.2018 bestimmt und das persönliche Erscheinen des Klägers angeordnet. Der Kläger hat erneut
und nunmehr ausdrücklich die Bestellung eines besonderen Vertreters beantragt (Telefax vom 6.4.2018). Der Kläger ist in der
mündlichen Verhandlung nicht erschienen. Das LSG hat durch in der mündlichen Verhandlung verkündeten Beschluss das persönliche
Erscheinen des Klägers aufgehoben und die Berufung zurückgewiesen. Es könne offenbleiben, ob der Kläger prozessunfähig sei.
Der Bestellung eines besonderen Vertreters habe es nicht bedurft, weil sein Begehren mangels Statthaftigkeit haltlos sei (Urteil
vom 26.4.2018).
Der Kläger wendet sich mit seiner dagegen eingelegten Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im LSG-Urteil und rügt
Verfahrensmängel.
II
Die zulässige Beschwerde des Klägers ist begründet. Das LSG-Urteil beruht auf einem Verfahrensfehler (Revisionszulassungsgrund
des §
160 Abs
2 Nr
3 SGG; dazu 2.), den der Kläger entsprechend den Anforderungen des §
160a Abs
2 Satz 3
SGG bezeichnet (dazu 1.).
1. Nach §
160 Abs
2 Nr
3 SGG ist die Revision nur zuzulassen, wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen
kann. Der Kläger bezeichnet den Verfahrensmangel der nicht wirksamen Vertretung (§
202 Satz 1
SGG iVm §
547 Nr 4
ZPO) hinreichend.
2. Der zulässig gerügte Verfahrensfehler des LSG liegt auch vor. Die angefochtene Entscheidung beruht auf einem Verstoß gegen
§
72 Abs
1 SGG, weil das LSG zu Unrecht von der Bestellung eines besonderen Vertreters für den Kläger abgesehen hat. Dieser war in der mündlichen
Verhandlung am 26.4.2018 nicht nach Vorschrift der Gesetze vertreten (§
202 Satz 1
SGG iVm §
547 Nr 4
ZPO). Hierin liegt ein absoluter Revisionsgrund, bei dem unterstellt wird, dass das Urteil des LSG auf ihm beruht.
Gemäß §
72 Abs
1 SGG kann der Vorsitzende des jeweiligen Spruchkörpers für einen nicht prozessfähigen Beteiligten ohne gesetzlichen Vertreter
bis zum Eintritt eines Vormundes, Betreuers oder Pflegers für das Verfahren einen besonderen Vertreter bestellen, dem alle
Rechte, außer dem Empfang von Zahlungen, zustehen. Prozessunfähig ist eine Person, die sich nicht durch Verträge verpflichten
kann (vgl §
71 Abs
1 SGG), also ua eine solche, die nicht geschäftsfähig iS des §
104 BGB ist, weil sie sich gemäß §
104 Nr 2
BGB in einem nicht nur vorübergehenden, die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit
befindet und deshalb nicht in der Lage ist, ihre Entscheidungen von vernünftigen Erwägungen abhängig zu machen. Dabei können
bestimmte Krankheitsbilder auch zu einer partiellen Prozessunfähigkeit führen, bei der die freie Willensbildung nur bezüglich
bestimmter Prozessbereiche eingeschränkt ist. Soweit eine partielle Prozessunfähigkeit anzunehmen ist, erstreckt sie sich
auf den gesamten Prozess (BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 32 S 65).
Steht die Prozessunfähigkeit für den Prozess fest, kann dieser grundsätzlich nur mit einem besonderen Vertreter iS des §
72 Abs
1 SGG fortgeführt werden, wenn eine sonstige gesetzliche Vertretung nicht gewährleistet ist und das Amtsgericht keinen Betreuer
bestellt hat (vgl BSG SozR 4-1500 § 72 Nr 2 RdNr 9; BSG Beschluss vom 28.8.2018 - B 8 SO 13/18 B - juris RdNr 6; BSG Beschluss vom 22.1.2019 - B 1 KR 32/18 S - juris RdNr 5). Bei gewichtigen Bedenken gegen die Prozessfähigkeit hat das Gericht von der Prozessunfähigkeit auszugehen,
wenn sich auch nach Ausschöpfung aller Beweismöglichkeiten nicht feststellen lässt, dass der betreffende Beteiligte prozessfähig
(§
71 Abs
1 SGG) ist (vgl BSGE 91, 146 = SozR 4-1500 §
72 Nr 1, RdNr 4 mwN = juris RdNr 6). Dies gilt schließlich auch dann, wenn die (partielle) Prozessunfähigkeit des Beteiligten
als ernsthafte Möglichkeit im Raum steht und das Gericht sich (noch) nicht die Überzeugung bilden kann, dass der Beteiligte
prozessfähig ist, aber unter dem Gesichtspunkt der Beschleunigung des Verfahrens den Rechtsstreit fortsetzen will. Insoweit
muss das Gericht dann den verfahrensrechtlichen Maßstab anlegen, der gilt, wenn der Beteiligte prozessunfähig ist. Würde in
einem solchen Fall das Erfordernis einer Bestellung eines besonderen Vertreters nach §
72 Abs
1 SGG keine Beachtung finden, wäre dies mit dem Regelungszweck der Norm unvereinbar, das rechtsstaatliche Gebot des Anspruchs auf
effektiven Rechtsschutz (Art
19 Abs
4 Satz 1
GG; vgl dazu BVerfG <Kammer> Beschluss vom 16.8.2017 - 1 BvR 1584/17 - juris RdNr
3), rechtliches Gehör (Art
103 Abs
1 GG) und ein faires Verfahren (Art
2 Abs
1 GG iVm Art
20 Abs
3 GG) auch bei fehlender oder zweifelhafter Prozessfähigkeit zu gewährleisten.
Das LSG durfte nicht davon absehen, einen besonderen Vertreter zu bestellen, ohne zuvor festgestellt zu haben, dass der Kläger
prozessfähig ist. Das LSG hat hingegen ausdrücklich offengelassen, ob der Kläger prozessunfähig ist. Das LSG hätte deshalb
nur nach Bestellung eines besonderen Vertreters iS von §
72 Abs
1 SGG über den Rechtsstreit entscheiden dürfen.
Hiervon ist das LSG im Ergebnis auch ausgegangen. Zu Unrecht hat es jedoch angenommen, dass ein Ausnahmefall vorliegt, bei
dem von der Bestellung eines besonderen Vertreters abgesehen werden kann. Von der Vertreterbestellung kann ausnahmsweise abgesehen
werden, wenn unter Anlegung eines strengen Maßstabs das Rechtsmittel eines Prozessunfähigen "offensichtlich haltlos" ist (vgl
BSGE 5, 176, 178 ff). Dies ist insbesondere bei absurden Klagebegehren ohne jeden Rückhalt im Gesetz oder bei offensichtlich unschlüssigem
Vorbringen anzunehmen, etwa wenn kein konkreter Streitgegenstand erkennbar ist, der Beteiligte nur allgemeine Ausführungen
ohne irgendeinen Bezug zum materiellen Recht von sich gibt oder wenn sein Vorbringen bereits mehrmals Gegenstand gerichtlicher
Entscheidungen war (vgl BSG SozR 4-1500 § 72 Nr 2 RdNr 10). Gleiches gilt aber auch dann, wenn das Rechtsmittel unter keinem denkbaren Gesichtspunkt Erfolg haben kann,
weil es schlechterdings nicht statthaft ist (vgl BSG Beschluss vom 22.1.2019 - B 1 KR 32/18 S - juris RdNr 5 mwN; BSG Beschluss vom 18.1.2017 - B 1 KR 1/17 S - juris RdNr 4).
Das LSG beruft sich zwar für seine Entscheidung auf die vorstehende höchstrichterliche Rspr. Es geht jedoch zu Unrecht davon
aus, die Sache betreffe einen Fall des §
56a Satz 1
SGG (eingefügt durch Art 7 Nr 4 Gesetz zur Neuorganisation der bundesunmittelbaren Unfallkassen, zur Änderung des
Sozialgerichtsgesetzes und zur Änderung anderer Gesetze vom 19.10.2013 <BUK- Neuorganisationsgesetz - BUK-NOG>, BGBl I 3836, mWv 25.10.2013). Danach
können Rechtsbehelfe gegen behördliche Verfahrenshandlungen nur gleichzeitig mit den gegen die Sachentscheidung zulässigen
Rechtsbehelfen geltend gemacht werden. Unter einer Verfahrenshandlung in diesem Sinne ist jede behördliche Maßnahme zu verstehen,
die im Zusammenhang mit einem schon begonnenen und noch nicht abgeschlossenen Verwaltungsverfahren steht und die der Vorbereitung
einer regelnden Sachentscheidung dient (vgl Axer in Schlegel/Voelzke, jurisPK-
SGG, 2017, §
56a SGG RdNr 14; Hauck in Zeihe/Hauck,
SGG, Stand März 2019, §
56a Anm 1d bb; zu §
44a VwGO: BVerwG Urteil vom 22.9.2016 - 2 C 16/15 - juris RdNr 19). Die Regelung betrifft gerade nicht den Ausschluss von Rechtsbehelfen gegen die Sachentscheidung selbst.
Sie dient der Vereinfachung und der Beschleunigung des sozialgerichtlichen Verfahrens. Sie entspricht §
44a VwGO. Ziel der Norm ist es zu verhindern, dass durch Rechtsbehelfe gegen Verfahrenshandlungen die Sachentscheidung der Behörde
verzögert wird (vgl Begründung der Bundesregierung zu Art 7 Nr 4 BUK-NOG-Entwurf, BT-Drucks 17/12297 S 39 zu Nr 4). Dieser
Grundsatz galt bereits vor Inkrafttreten des §
56a SGG auch im sozialgerichtlichen Verfahren (BSGE 56, 215, 219 = SozR 2200 § 368g Nr 11 S 14; BSG SozR 1500 §
144 Nr 39 S 69 f; vgl zum Ganzen Hauck in Zeihe/Hauck,
SGG, Stand März 2019, §
56a Anm 1c).
Der Kläger streitet um eine Sachentscheidung im Sinne einer weitergehenden ärztlichen Begutachtung. Er greift mit seinem Begehren
auf Fortsetzung der Begutachtung nicht das Unterlassen einer behördlichen Verfahrenshandlung im Kontext einer Sachentscheidung
an. Vielmehr erschöpft sich sein Klageziel in dem Begutachtungsbegehren, ohne dass er damit eine darüber hinausreichende Sachentscheidung
der Beklagten herbeiführen will oder eine solche auch nur objektiv materiell-rechtlich damit verbunden ist.
3. Nach §
160a Abs
5 SGG kann das BSG in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung
und Entscheidung an das LSG zurückverweisen, wenn die Voraussetzungen des §
160 Abs
2 Nr
3 SGG vorliegen, was - wie ausgeführt - hier der Fall ist. Der Senat macht von dieser Möglichkeit Gebrauch.
4. Die Kostenentscheidung bleibt dem LSG vorbehalten.