Begriff der körperlichen Entstellung
Überschreiten einer Erheblichkeitsschwelle
Geklärte Rechtsfrage
1. Das Bedürfnis für die Klärung einer Rechtsfrage in einem Revisionsverfahren fehlt, wenn ihre Beantwortung nach der dazu
ergangenen höchstrichterlichen Rechtsprechung keinem vernünftigen Zweifel unterliegt, die Frage also "geklärt ist".
2. Eine Rechtsfrage, über die bereits höchstrichterlich entschieden worden ist, kann dennoch klärungsbedürftig sein, wenn
der Rechtsprechung in nicht geringfügigem Umfang widersprochen wird und gegen sie nicht von vornherein abwegige Einwendungen
vorgebracht werden, was im Rahmen der Beschwerdebegründung ebenfalls darzulegen ist.
3. Nicht jede körperliche Anomalität genügt, um eine Entstellung annehmen zu können; vielmehr muss es sich objektiv um eine
erhebliche Auffälligkeit handeln, die naheliegende Reaktionen der Mitmenschen wie Neugier oder Betroffenheit und damit zugleich
erwarten lässt, dass die Betroffene ständig viele Blicke auf sich zieht, zum Objekt besonderer Beachtung anderer wird und
sich deshalb aus dem Leben in der Gemeinschaft zurückzuziehen und zu vereinsamen droht, so dass die Teilhabe am Leben in der
Gesellschaft gefährdet ist.
4. Um eine Auffälligkeit eines solchen Ausmaßes zu erreichen, muss eine beachtliche Erheblichkeitsschwelle überschritten sein.
5. Die körperliche Auffälligkeit muss in einer solchen Ausprägung vorhanden sein, dass sie sich schon bei flüchtiger Begegnung
in alltäglichen Situationen quasi "im Vorbeigehen" bemerkbar macht und regelmäßig zur Fixierung des Interesses anderer auf
den Betroffenen führt.
Gründe:
I
Die bei der beklagten Krankenkasse versicherte, 1992 geborene Klägerin ist mit ihrem Begehren, 4300 Euro Kosten einer in der
Türkei durchgeführten Fettschürzenresektion mit Bauchdeckenstraffung erstattet zu erhalten, bei der Beklagten und den Vorinstanzen
ohne Erfolg geblieben. Das LSG hat zu Begründung ausgeführt, der Klägerin habe schon kein Primärleistungsanspruch auf eine
Fettschürzenresektion mit Bauchdeckenstraffung zugestanden. Ihr Abdomen sei nicht iS von §
27 Abs
1 SGB V krank gewesen. Weder habe eine Funktionsbeeinträchtigung noch eine Entstellung noch eine dermatologische Indikation bestanden.
Soweit die Klägerin psychisch beeinträchtigt gewesen sei, rechtfertigte dies keinen chirurgischen Eingriff in gesunde Organe.
Außerdem scheitere der Anspruch daran, dass die Klägerin keinen Anspruch auf eine Auslandskrankenbehandlung in der Türkei
gehabt habe. Weder sei §
13 Abs
4 bis
6 SGB V anwendbar noch habe die Beklagte nach Maßgabe des anzuwendenden Sozialversicherungsabkommens der Verlegung des Aufenthalts
vorher zugestimmt (Urteil vom 11.4.2014).
Die Klägerin wendet sich mit ihrer Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im LSG-Urteil.
II
Die Beschwerde ist unzulässig und daher gemäß §
160a Abs
4 S 1 Halbs 2 iVm §
169 S 3
SGG zu verwerfen. Die Begründung entspricht nicht den aus §
160a Abs
2 S 3
SGG abzuleitenden Anforderungen an die Darlegung des geltend gemachten Zulassungsgrundes der grundsätzlichen Bedeutung (§
160 Abs
2 Nr
1 SGG).
1. Wer sich auf den Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung beruft, muss eine Rechtsfrage klar formulieren und ausführen,
inwieweit diese Frage im angestrebten Revisionsverfahren entscheidungserheblich sowie klärungsbedürftig und über den Einzelfall
hinaus von Bedeutung ist (vgl zB BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 21 S 38; BSG SozR 3-4100 § 111 Nr 1 S 2 f; BSG SozR 3-2500 § 240 Nr 33 S 51 f mwN).
Die Klägerin formuliert zwar als Rechtsfragen: "Ist bei der Bewertung einer zu einer Krankenbehandlung führenden körperlichen
Entstellung nur auf eine objektive erhebliche Auffälligkeit abzustellen oder sind auch die subjektiv bestehenden erheblichen
Empfindungen einer kranken versicherten Person bei der Bewertung eines als medizinisch notwendig anzuerkennenden Eingriffs
mit zu berücksichtigen und bei der Bestimmung des Krankheitsbegriffes heranzuziehen?"
"Bedarf die Durchführung eines operativen Eingriffs trotz bestehender sozialversicherungsrechtlicher Abkommen zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und der Republik Türkei einer vorherigen Zustimmung durch die örtlich zuständige Krankenkasse,
soweit die Operation aus Anlass eines Aufenthalts in der Republik Türkei durchgeführt wird?"
Der Senat lässt offen, ob die Klägerin die Rechtsfragen klar formuliert hat. Im Falle der ersten Rechtsfrage wird schon die
rechtliche Relevanz der "subjektiv bestehenden erheblichen Empfindungen" nicht deutlich, wenn der Eingriff ohnehin medizinisch
notwendig ist. Bei der zweiten Frage ist nicht klar ersichtlich, ob die Klägerin dem Abkommen zwischen der Bundesrepublik
Deutschland und der Republik Türkei über Soziale Sicherheit rechtliche Relevanz für die Beantwortung der Frage absprechen
will. Die Klägerin legt jedenfalls die Klärungsbedürftigkeit der Rechtsfragen nicht hinreichend dar. Die zweite Rechtsfrage
ist zudem nicht entscheidungserheblich.
a) Bei der ersten Rechtsfrage fehlt es an einer hinreichenden Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung des Senats. Das Bedürfnis
für die Klärung einer Rechtsfrage in einem Revisionsverfahren fehlt, wenn ihre Beantwortung nach der dazu ergangenen höchstrichterlichen
Rechtsprechung keinem vernünftigen Zweifel unterliegt, die Frage also "geklärt ist" (vgl BSG SozR 3-2500 § 75 Nr 8 S 34; BSG SozR 3-1500 § 146 Nr 2 S 6 und § 160a Nr 21 S 38; BSG Beschluss vom 21.10.2010 - B 1 KR 96/10 B - RdNr 7; BSG Beschluss vom 22.12.2010 - B 1 KR 100/10 B - Juris RdNr 7). Eine Rechtsfrage, über die bereits höchstrichterlich entschieden worden ist, kann dennoch klärungsbedürftig
sein, wenn der Rechtsprechung in nicht geringfügigem Umfang widersprochen wird und gegen sie nicht von vornherein abwegige
Einwendungen vorgebracht werden (vgl zB BSG SozR 1500 § 160a Nr 13 S 19 mwN), was im Rahmen der Beschwerdebegründung ebenfalls darzulegen ist (vgl zum Ganzen auch BSG Beschluss vom 22.12.2010 - B 1 KR 100/10 B - Juris RdNr 7). Die Beschwerdebegründung genügt diesen Anforderungen nicht.
Hierzu wäre es bei der ersten Rechtsfrage erforderlich gewesen, sich eingehend mit der vom LSG herangezogenen Rechtsprechung
des Senats auseinanderzusetzen, wonach nicht jede körperliche Anomalität genügt, um eine Entstellung annehmen zu können. Vielmehr
muss es sich objektiv um eine erhebliche Auffälligkeit handeln, die naheliegende Reaktionen der Mitmenschen wie Neugier oder
Betroffenheit und damit zugleich erwarten lässt, dass die Betroffene ständig viele Blicke auf sich zieht, zum Objekt besonderer
Beachtung anderer wird und sich deshalb aus dem Leben in der Gemeinschaft zurückzuziehen und zu vereinsamen droht, sodass
die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft gefährdet ist. Um eine Auffälligkeit eines solchen Ausmaßes zu erreichen, muss eine
beachtliche Erheblichkeitsschwelle überschritten sein. Die körperliche Auffälligkeit muss in einer solchen Ausprägung vorhanden
sein, dass sie sich schon bei flüchtiger Begegnung in alltäglichen Situationen quasi "im Vorbeigehen" bemerkbar macht und
regelmäßig zur Fixierung des Interesses anderer auf den Betroffenen führt (BSGE 100, 119 = SozR 4-2500 § 27 Nr 14, RdNr 13 f mwN; s ferner BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 45 S 253 f). Die von der Klägerin aufgeführten Gründe, weshalb sich aus ihrer Sicht die Annahme einer Entstellung maßgeblich
auch nach dem subjektiven Empfinden des sich in seinem äußeren Erscheinungsbild beeinträchtigt sehenden Versicherten orientieren
müsse, geben keinen Anlass, die Klärungsbedürftigkeit zu bejahen. Sie waren bereits Gegenstand höchstrichterlicher Rechtsprechung.
Die gegebenenfalls aus dem subjektiven Empfinden resultierende psychische Belastung Versicherter, die sich entstellt fühlen,
rechtfertigt keinen operativen Eingriff auf Kosten der gesetzlichen Krankenversicherung (vgl BSGE 100, 119 = SozR 4-2500 § 27 Nr 14, RdNr 16 ff mwN, dort zur Mammaaugmentation). Die Klägerin legt auch weder dar, dass dieser Rechtsprechung
des erkennenden Senats in nicht geringfügigem Umfang widersprochen wurde, noch zeigt sie einen darüber hinausgehenden Klärungsbedarf
auf.
b) Bei der zweiten Rechtsfrage wäre es erforderlich gewesen, zunächst anhand der Vorschriften des Abkommens zwischen der Bundesrepublik
Deutschland und der Republik Türkei über Soziale Sicherheit die Entscheidungserheblichkeit der Rechtsfrage aufzuzeigen. Erforderlich
wäre es sodann gewesen, in einem zweiten Schritt darzulegen, dass die Frage abkommensrechtlich auch klärungsbedürftig ist,
gegebenenfalls unter Rückgriff auf höchstrichterliche Rechtsprechung zu vergleichbaren Sozialversicherungsabkommen. Die Klägerin
stützt sich jedoch allein darauf, dass eine erneute Kontaktaufnahme und Einholung einer Zustimmung bei der Beklagten zur Auslandsbehandlung
bei bereits erfolgter Ablehnung in der Sache ebenso nicht erforderlich sei, wie dies auch bei einer Behandlung in einem Mitgliedstaat
der Europäischen Union nicht erforderlich wäre. Soweit die Klägerin sinngemäß damit geltend macht, sie sei so zu behandeln,
als habe sie den chirurgischen Eingriff in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union durchführen lassen, hat dieses Vorbringen
keinen Bezug zur gestellten Rechtsfrage. Sofern die Klägerin sinngemäß die Rechtsfrage stellen wollte, ob die Türkei (ungeachtet
des bilateralen Abkommensrechts und ihres gemeinschaftsrechtlichen Assoziierungsstatus) einem Mitgliedstaat krankenversicherungsrechtlich
gleichzustellen sei, legt sie deren Klärungsbedürftigkeit nicht dar. Die Klägerin geht nicht einmal ansatzweise auf das Gemeinschaftsrecht
ein.
Im Übrigen fehlt es auch an der Entscheidungserheblichkeit dieser sinngemäßen Rechtsfrage, weil sie voraussetzt, dass die
vorrangig zu beantwortende erste Rechtsfrage den Anforderungen des §
160a Abs
2 S 3
SGG entspricht, was hier - wie ausgeführt - nicht der Fall ist.
2. Der Senat sieht von einer weiteren Begründung ab (§
160a Abs
4 S 2 Halbs 2
SGG).
3. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des §
193 SGG.