Anspruch auf Verletztenrente in der gesetzlichen Unfallversicherung
Keine Herabsetzung der Leistung nach Versorgung mit einer mikroprozessorgesteuerten C-Leg-Oberschenkelprothese
Gründe:
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte die Verletztenrente des Klägers herabsetzen durfte, weil er mit einer anderen
Prothese versorgt wurde.
Der im Jahre 1981 geborene Kläger erlitt als Schüler am 2.7.1998 einen Unfall, der zur Amputation des linken Beines im Bereich
des Oberschenkels führte. Die Beklagte versorgte den Kläger mit einer Prothese. Sie erkannte als Folgen des Arbeitsunfalls
nach Polytrauma mit unfallbedingtem Verlust des linken Beines im Bereich des Oberschenkels narbenbedingte Sensibilitätsstörungen
im Bereich des Oberschenkelstumpfes, Phantomschmerzen nach Oberschenkelamputation sowie leichte Leistungseinschränkungen und
Wahrnehmungsbeeinträchtigung nach Schädel-Hirn-Trauma an und gewährte dem Kläger eine Verletztenrente auf unbestimmte Zeit
nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 70 vH (Bescheid vom 5.7.2001).
Im März 2006 erhielt der Kläger eine mikroprozessorgesteuerte Oberschenkelprothese, ein sog C-Leg. Die Beklagte hob daraufhin
die Bewilligung der Verletztenrente in dem Bescheid vom 5.7.2001 wegen einer wesentlichen Änderung der Verhältnisse nach §
48 SGB X teilweise auf und gewährte dem Kläger ab dem 1.8.2007 nur noch eine Verletztenrente nach einer MdE von 60 vH (Bescheid vom
5.7.2007 und Widerspruchsbescheid vom 29.11.2007). Zur Begründung führte sie aus, durch die Versorgung mit der C-Leg-Prothese
sei eine deutliche Funktionsverbesserung des linken Beines eingetreten, die zu einem flüssigeren Gangbild und einer Erhöhung
der Gang- und Standsicherheit geführt habe. Dem Kläger sei nunmehr das sichere Gehen und Stehen sowie das Treppensteigen weitestgehend
ohne Gehhilfe möglich. Dadurch habe sich seine Mobilität einschließlich des Wirkungsbereiches verbessert. Ihr beratender Chirurg
habe die Unfallfolgen auf chirurgischem Fachgebiet nach der Versorgung mit der C-Leg-Prothese ab März 2006 nur noch mit 50
vH und insgesamt mit nur noch 60 vH bewertet.
Das SG hat die Bescheide der Beklagten aufgehoben (Urteil vom 29.7.2010). Das LSG hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen
(Urteil vom 17.9.2014). Zur Begründung hat es ausgeführt, die Voraussetzungen für eine Herabsetzung der Rente seien nicht
erfüllt, weil keine wesentliche Änderung eingetreten sei. Die Unfallfolgen sowohl auf neurologischem und neuropsychiatrischem
als auch auf chirurgischem Fachgebiet bestünden unverändert fort. Sie bedingten auf chirurgischem Fachgebiet weiterhin eine
MdE von 60 vH, auf neurologischem und neuropsychiatrischem Fachgebiet eine MdE von 15 vH und insgesamt weiterhin eine MdE
von 70 vH. Die Gebrauchsvorteile der prothetischen Versorgung mit einem C-Leg führten zu keiner geringeren MdE. Bei einem
Verlust der Gliedmaßen sei der objektive funktionelle Körperschaden unabhängig von dem Erfolg der prothetischen Versorgung
für die Bewertung der MdE zugrunde zu legen, denn eine entsprechende Prothese könne den Körperschaden derzeit nicht vollständig
kompensieren. Dies entspreche der herrschenden Auffassung in der unfallrechtlichen Literatur. Nur wenn ein Hilfsmittel einen
physiologisch vollwertigen Ersatz darstelle bzw Ausgleich schaffe, sei es gerechtfertigt, allein die verbleibenden Funktionseinbußen
der Bemessung der MdE zugrunde zu legen. Die verbleibenden Funktionseinschränkungen bei prothetischer Versorgung würden unabhängig
von der konkreten Art der Versorgung im Sinne einer Durchschnittsbewertung berücksichtigt. Dies führe zu einer Gleichbehandlung
und Verwaltungsvereinfachung. Dementsprechend würden weder die Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen
Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz noch die am 1.1.2009 in Kraft getretene Versorgungsmedizin-Verordnung danach differenzieren, ob die konkrete prothetische Versorgung bei Verlust von Gliedmaßen zu einer Funktionsverbesserung
führe.
Mit ihrer vom Senat zugelassenen Revision rügt die Beklagte die Verletzung der §§
73 und
56 SGB VII iVm § 48 SGB X. Die signifikante Verbesserung der Körperfunktionen des Klägers durch seine Versorgung mit dem C-Leg begründe eine wesentliche
Änderung der Verhältnisse iS des § 48 SGB X, denn die Gebrauchsvorteile dieser Prothese gegenüber einer konventionellen Versorgung im Erwerbsleben würden die Bewertung
der MdE auf chirurgischem Fachgebiet mit nur 50 vH rechtfertigen. Die Gesamt-MdE betrage daher nur noch 60 vH. Nach den gemäß
§
56 Abs
2 SGB VII für die Höhe der MdE maßgebenden Bestimmungsfaktoren seien Funktionsverbesserungen durch Heil- oder Hilfsmittel zu berücksichtigen.
Die vom LSG zugrunde gelegten, in verschiedenen Handbüchern genannten MdE-Erfahrungswerte könnten Verwaltung und Gerichte
nicht normähnlich binden.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Mecklenburg-Vorpommern vom 17.09.2014 und das Urteil des Sozialgerichts Stralsund vom
29.07.2010 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
II
Die zulässige Revision der Beklagten ist nicht begründet. Das LSG hat zu Recht die Berufung der Beklagten gegen das Urteil
des SG zurückgewiesen. Der angefochtene Verwaltungsakt im Bescheid der Beklagten vom 5.7.2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 29.11.2007 erweist sich als rechtswidrig. Eine wesentliche Änderung der Verhältnisse, die eine Herabsetzung der bisher
durch den Bescheid vom 5.7.2001 gewährten Verletztenrente nach einer MdE in Höhe von 70 vH rechtfertigen könnte, liegt nicht
vor. Es ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden, dass das LSG entschieden hat, die Versorgung des Klägers mit einer mikroprozessorgesteuerten
Oberschenkelprothese bewirke keine geringere MdE als die im Jahre 2001 festgesetzte.
Durch die Versorgung des Klägers mit einer C-Leg-Prothese im Jahre 2006 ist keine wesentliche Änderung iS des § 48 Abs 1 S 1 SGB X gegenüber den Verhältnissen im Jahre 2001 eingetreten. Nach § 48 Abs 1 S 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen
Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eingetreten ist. Diese Vorschrift wird für
Renten der gesetzlichen Unfallversicherung durch §
73 SGB VII ergänzt. Nach §
73 Abs
3 SGB VII ist eine Änderung iS des § 48 Abs 1 S 1 SGB X hinsichtlich der Feststellung der Höhe der MdE nur wesentlich, wenn sie mehr als 5 vH beträgt. Diese Voraussetzung lag in
Bezug auf den Verwaltungsakt vom 5.7.2001, der eine Verletztenrente nach einer MdE von 70 vH auf unbestimmte Zeit bewilligte,
nicht vor. Ob eine Änderung iS des § 48 Abs 1 S 1 SGB X eingetreten ist, ist durch Vergleich der Verhältnisse zum Zeitpunkt des Erlasses des ursprünglichen Verwaltungsaktes mit
den zum Zeitpunkt des Erlasses des aufhebenden Verwaltungsaktes bestehenden Verhältnissen zu ermitteln (vgl BSG vom 13.2.2013 - B 2 U 25/11 R - NZS 2013, 464 mwN). Die tatsächlichen Verhältnisse änderten sich zwar im März 2006 insoweit, als der Kläger zu diesem Zeitpunkt eine neue
Oberschenkelprothese erhielt und sich dadurch seine Mobilität und Koordination verbesserte sowie sein Aktionsradius vergrößerte.
Diese Änderung war aber nicht wesentlich iS des §
48 Abs
1 S 1
SGB VII. Denn sie begründete kein Recht der Beklagten, eine Verletztenrente in geringerer Höhe nach einer MdE von nunmehr nur noch
60 vH festzusetzen. Zutreffend hat das LSG insofern entschieden, dass die unfallbedingte MdE weiterhin 70 vH beträgt.
Eine Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen gemäß § 48 Abs 1 S 1 SGB X ist jede Änderung des für die getroffene Regelung relevanten Sachverhalts. In Betracht kommen für den Bereich der gesetzlichen
Unfallversicherung insbesondere Änderungen im Gesundheitszustand des Betroffenen (vgl BSG vom 13.2.2013 - B 2 U 25/11 R - NZS 2013, 464; BSG vom 22.6.2004 - B 2 U 14/03 R - BSGE 93, 63 = SozR 4-2700 § 56 Nr 1), wobei es zum einen auf die zum Zeitpunkt der letzten bindend gewordenen Feststellung tatsächlich
bestehenden gesundheitlichen Verhältnisse ankommt, die ursächlich auf dem Unfall beruhen. Diese sind mit den bestehenden unfallbedingten
Gesundheitsverhältnissen zu vergleichen, die zum Zeitpunkt des Erlasses des Aufhebungsbescheides vorgelegen haben (vgl BSG vom 13.2.2013 - B 2 U 25/11 R - NZS 2013, 464 mwN). Nach den nicht mit zulässigen und begründeten Rügen angegriffenen und damit für den Senat bindenden Feststellungen
des LSG (§
163 SGG) war schon keine Änderung der auf dem Arbeitsunfall beruhenden Gesundheitsstörungen des Klägers eingetreten, denn sein Gesundheitszustand
hatte sich weder auf dem neurologischen und neuropsychiatrischen noch auf dem chirurgischen Fachgebiet verändert, insbesondere
nicht verbessert.
Eine Änderung der tatsächlichen Verhältnisse war nur insoweit erfolgt, als der Kläger anstelle der bisherigen Prothese ab
März 2006 mit einer mikroprozessorgesteuerten Prothese, einem sog C-Leg, versorgt worden war und sich dadurch nach den ebenfalls
unangegriffenen Feststellungen des LSG seine Mobilität und Koordination verbessert hatte. Durch den Gebrauch des C-Legs konnte
der Kläger weitgehend ohne Gehhilfen gehen, sein Aktionsradius hatte sich vergrößert.
Das LSG hat jedoch zutreffend entschieden, dass die durch die Änderung der prothetischen Versorgung erfolgte Verbesserung
der Mobilität, der Koordination und des Aktionsradius des Klägers keine wesentliche Änderung iS des § 48 Abs 1 S 1 SGB X war. Diese Verbesserungen durch die prothetische Versorgung begründeten nach §
56 Abs
2 SGB VII keinen Anspruch der Beklagten auf Festsetzung einer Verletztenrente in geringerer Höhe als nach einer MdE von 70 vH.
Gemäß §
56 Abs
1 S 1 iVm Abs
3 SGB VII setzt der Anspruch auf eine Verletztenrente eine MdE von wenigstens 20 vH voraus. Der Zahlbetrag der Verletztenrente bestimmt
sich sodann nach der Höhe der MdE und dem Jahresarbeitsverdienst (JAV). Die MdE richtet sich nach dem Umfang der sich aus
der Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem
gesamten Gebiet des Erwerbslebens (§
56 Abs
2 S 1
SGB VII). Die Bemessung der MdE hängt damit zum einen von den verbliebenen Beeinträchtigungen des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens
und zum anderen von dem Umfang der dadurch verschlossenen Arbeitsmöglichkeiten ab. Entscheidend ist nicht der Gesundheitsschaden
als solcher, sondern vielmehr der Funktionsverlust unter medizinischen, juristischen, sozialen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten
(vgl BSG vom 22.6.2004 - B 2 U 14/03 R - BSGE 93, 63 = SozR 4-2700 § 56 Nr 1 mwN).
Soweit das LSG den Grad der MdE auch im Jahre 2006 weiterhin mit 70 vH festgesetzt hat, ist dies revisionsrechtlich nicht
zu beanstanden. Die Bemessung des Grades der MdE ist nach der ständigen Rechtsprechung des BSG eine tatsächliche Feststellung, die das Tatsachengericht unter Berücksichtigung der gesamtem Umstände des Einzelfalls gemäß
§
128 Abs
1 S 1
SGG nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen richterlichen Überzeugung trifft (vgl BSG vom 18.1.2011 - B 2 U 5/10 R - SozR 4-2700 § 200 Nr 3; BSG vom 2.5.2001 - B 2 U 24/00 R - SozR 3-2200 § 581 Nr 8; BSG vom 19.12.2000 - B 2 U 49/99 R - HVBG-INFO 2001, 499; BSG vom 27.6.2000 - B 2 U 14/99 R - SozR 3-2200 § 581 Nr 7; BSG vom 23.4.1987 - 2 RU 42/86 - HV-INFO 1988, 1200; BSG vom 24.5.1984 - 2 RU 12/83 - HV-INFO 1984, Nr 13, 18). Die der Feststellung der MdE zugrunde liegende, vom LSG gemäß §
128 Abs
1 S 1
SGG nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens unter Einschluss der Beweisaufnahme nach der Überzeugungskraft der jeweiligen Beweismittel
frei vorzunehmende Würdigung des Sachverhaltes kann das Revisionsgericht auf Rüge grundsätzlich nur darauf prüfen, ob das
Tatsachengericht bei der Beweiswürdigung gegen Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze verstoßen und ob es das Gesamtergebnis
des Verfahrens berücksichtigt hat (vgl BSG vom 18.3.2003 - B 2 U 31/02 R - Breith 2003, 565).
Das LSG hat festgestellt, dass die unfallbedingte MdE zum Zeitpunkt des Erlasses des Bescheides vom 5.7.2001 sowie auch zum
Zeitpunkt des Erlasses der angefochtenen, im Jahre 2007 ergangenen Bescheide weiterhin unverändert 70 vH betrug, weil auf
neurologischem und neuropsychiatrischem Fachgebiet eine MdE von 15 vH sowie auf chirurgischem Fachgebiet eine MdE von 60 vH
bestand. Diese Feststellungen zur MdE-Höhe sind als tatsachenrichterliche Erkenntnisse revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.
Die Beklagte hat die MdE-Festsetzung im konkreten Einzelfall insoweit nicht mit zulässigen und begründeten Verfahrensrügen
angegriffen.
Es bestehen aber auch keine revisionsrechtlichen Bedenken gegen die Anwendung der MdE-Tabellen als solche durch das LSG. Zwar
hat der Senat bereits entschieden, dass die Bindungswirkung der tatsächlichen MdE-Feststellung gemäß §
163 SGG nicht in vollem Umfang für die Überprüfung der in den MdE-Tabellen abstrakt niedergelegten MdE-Tabellenwerte gilt. Die Anwendung
der den MdE-Tabellenwerten zugrunde liegenden allgemeinen bzw wissenschaftlichen Erfahrungssätze unterliegt vielmehr jeweils
der revisionsrechtlichen Überprüfung dahingehend, ob diese Tabellenwerte offensichtlich falsch sind und ob sie dem neuesten
Stand der Wissenschaft entsprechen (vgl zB BSG vom 18.3.2003 - B 2 U 31/02 R - Breith 2003, 565; BSG vom 26.11.1987 - 2 RU 22/87 - SozR 2200 § 581 Nr 27; BSG vom 23.4.1987 - 2 RU 42/86 - HV-INFO 1988, 1210; BSG vom 26.6.1985 - 2 RU 60/84 - SozR 2200 § 581 Nr 23; BSG vom 30.8.1984 - 2 RU 65/83 - HVGBG RdSchr VB 122/84; vgl zum Prüfungsumfang bei allgemeinen medizinischen Erfahrungssätzen auch BSG vom 27.10.2009 - B 2 U 16/08 R - UVRecht Aktuell 2010, 418).
Wie die nach ständiger Rechtsprechung des erkennenden Senats revisionsrechtlich überprüfbaren allgemeinen (generellen) Tatsachen,
die für die Feststellung von Berufskrankheiten von Bedeutung sind (vgl dazu zuletzt BSG vom 23.4.2015 - B 2 U 10/14 R - BSGE 118, 255 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 6), sind auch die MdE-Tabellenwerte allgemeine (generelle) Tatsachen, die für die Bestimmung
des Inhalts einer Rechtsnorm - nämlich des in §
56 Abs
2 SGB VII verwendeten Begriffs der MdE - und damit für eine Vielzahl gleichgelagerter Fälle relevant sind. Bei einer Vielzahl von Unfallfolgen
haben sich im Laufe der Zeit für die Schätzung der MdE-Erfahrungswerte herausgebildet. Sie sind in Form von Rententabellen
oder Empfehlungen zusammengefasst und dienen als Hilfsmittel für die MdE-Einschätzung im Einzelfall. Diese zumeist in jahrzehntelanger
Entwicklung von dem versicherungsrechtlichen und versicherungsmedizinischen Schrifttum herausgearbeiteten allgemeinen Erfahrungssätze
sind zwar nicht für die Entscheidung im Einzelfall bindend, bilden aber als in sich stimmiges Beurteilungsgefüge (so Ruppelt
in Schulin, Handbuch des Sozialversicherungsrechts, Band 2, UV, § 48 RdNr 25) die Grundlage für eine gleichförmige Bewertung der MdE (vgl BSG vom 18.3.2003 - B 2 U 31/02 R - Breith 2003, 565 mwN), ohne dass hier eine exakte rechtsdogmatische Einordnung der MdE-Tabellen erforderlich wäre (vgl hierzu Pense, Die Rechtsnatur
von MdE-Tabellen, 1995, S 59 f: "Erkenntnisquelle" ohne Rechtssatzqualität; vgl auch Pfitzner, NZS 1998, 61).
MdE-Tabellen bezeichnen typisierend das Ausmaß der durch eine körperliche, geistige oder seelische Funktionsbeeinträchtigung
hervorgerufenen Leistungseinschränkungen in Bezug auf das gesamte Erwerbsleben und ordnen körperliche oder geistige Funktionseinschränkungen
einem Tabellenwert zu. Die in den Tabellen und Empfehlungen enthaltenen Richtwerte geben damit auch allgemeine Erfahrungssätze
über die Auswirkungen bestimmter körperlicher Beeinträchtigungen auf die Erwerbsfähigkeit aufgrund des Umfangs der den Verletzten
versperrten Arbeitsmöglichkeiten wieder und gewährleisten, dass die Verletzten bei der medizinischen Begutachtung nach einheitlichen
Kriterien beurteilt werden (vgl BSG vom 5.9.2006 - B 2 U 25/05 R - SozR 4-2700 § 56 Nr 2; BSG vom 18.3.2003 - B 2 U 31/02 R - Breith 2003, 565).
Wendet ein Tatsachengericht solche allgemein akzeptierten MdE-Tabellen an, ist revisionsrechtlich die Prüfung des BSG darauf beschränkt, ob diese Tabellenwerte erkennbar falsch sind, etwa weil sie dem Stand des medizinischen Wissens oder des
Erfahrungswissens anderer einschlägiger Wissenschaftsgebiete (wie hier beispielsweise auch der Arbeitsmarktforschung) widersprechen.
Es ist bei Anwendung dieses Prüfungsmaßstabs nicht erkennbar, dass die von dem LSG angewandten MdE-Tabellenwerte nicht mehr
dem aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand entsprechen und deshalb als wissenschaftlich unhaltbar der Rechtsfindung
nicht zugrunde gelegt werden durften. Das LSG hat für die MdE auf chirurgischem Fachgebiet den in den Standardwerken derzeit
für eine Oberschenkelamputation gängigen MdE-Tabellenwert von 60 vH zugrunde gelegt, wobei überwiegend nicht danach differenziert
wird, ob eine Versorgung mit einer mikroprozessorgesteuerten Prothese anstelle einer herkömmlichen Prothese möglich oder erfolgt
ist (vgl Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 8. Aufl 2010, S 691; Mehrhoff/Ekkernkamp/Wich,
Unfallbegutachtung, 13. Aufl 2012, S 193; Nehls in Podzun, Der Unfallsachbearbeiter, Stand Juni 2014, US 0500, S 38; vgl auch
im Ergebnis eine Differenzierung nach Versorgungsqualität ablehnend: Schwerdtfeger in Trauma und Berufskrankheit 2001, S 353,
354 ff). Bei seiner Entscheidung hat das LSG auch berücksichtigt, dass bislang die gängigen Tabellenwerte zur Einschätzung
der MdE bei der Amputation der unteren Gliedmaßen nicht grundsätzlich geändert wurden. Das LSG ist mithin zumindest im Ergebnis
davon ausgegangen, dass es nach wie vor dem Stand des Erfahrungswissens in der unfallmedizinischen Literatur entspricht, bei
Amputationen die Qualität der prothetischen Versorgung für die Einschätzung der Höhe der MdE nicht zu berücksichtigen, weil
die derzeit gängigen Tabellenwerke keine Differenzierung nach der Qualität der Hilfsmittelversorgung enthalten. Dies ist entgegen
der Auffassung der Beklagten revisionsrechtlich nicht zu beanstanden, weil nicht feststellbar ist, dass die vom LSG zugrunde
gelegten MdE-Tabellenwerte nicht mehr dem neuesten Stand der unfallmedizinischen Wissenschaft entsprechen oder offensichtlich
falsch sind.
Ein medizinischer Erfahrungssatz entspricht in der Regel dem aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand, wenn er von allen
oder den meisten in dem entsprechenden Fachgebiet Kundigen vertreten wird. Er kann aber auch dann den aktuellen wissenschaftlichen
Erkenntnissen entsprechen, wenn er nicht von allen im jeweiligen Erkenntnissystem Handelnden geteilt wird und auch abweichende
Auffassungen vertreten werden. Deshalb kann allein aus dem Vorliegen unterschiedlicher Auffassungen bei den im entsprechenden
Fachgebiet Kundigen nicht geschlossen werden, dass ein Erfahrungssatz falsch ist oder nicht mehr dem aktuellen wissenschaftlichen
Erkenntnisstand entspricht (vgl BSG vom 23.4.2015 - B 2 U 10/14 R - BSGE 118, 255 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 6, RdNr 28).
Zwar wird vereinzelt in der unfallmedizinischen Literatur bei einer Bemessung der MdE für Beinamputationen eine Differenzierung
nach der Hilfsmittelqualität und für den Fall der bestmöglichen Versorgung, zB mit einer mikroprozessorgesteuerten Prothese,
ein geringerer MdE-Wert vorgeschlagen (vgl Ludolph/Schürmann, MedSach 2016, S 60, 68; Schürmann in Trauma und Berufskrankheit
2014, S 204, 207 ff; J. Becker, MedSach 2008, S 142, 145 f; Koss, MedSach 2004, S 92, 93; Plagemann, MedSach 2004, S 94, 96).
Allein aufgrund dieser Literaturmeinungen kann jedoch nicht festgestellt werden, dass die vom LSG zugrunde gelegten Erfahrungssätze
nicht mehr dem aktuellen Stand der Wissenschaft entsprechen oder offensichtlich falsch sind.
Es erscheint damit durchaus möglich, dass der Tabellenwert für die MdE bei einer Amputation im Oberschenkelbereich niedriger
angesetzt werden könnte, wenn eine heute technisch mögliche, verbesserte Prothesenversorgung zu geringeren Funktionseinschränkungen
führt und deshalb den Verletzten mehr Betätigungsfelder im Erwerbsleben offen stehen. Eine dahin gehende generelle Änderung
der MdE-Tabellenwerte ist in der entsprechenden unfallmedizinischen Literatur bisher jedoch nicht erfolgt. Allenfalls werden
- wie jetzt auch in neuesten Auflagen der unfallmedizinischen Standardwerke (vgl zB Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall
und Berufskrankheit, 9. Aufl 2017, S 725, 727) - unterschiedliche Tabellenwerte unkommentiert und gleichrangig wiedergegeben,
ohne dass erkennbar oder Stellung dazu bezogen wird, welche der beiden Auffassungen den nunmehr aktuellen wissenschaftlichen
Erkenntnisstand wiedergibt.
Für den Senat ist auch sonst nicht feststellbar, dass der von der unfallmedizinischen Literatur zugrunde gelegte Tabellenwert
einer MdE von 60 vH bei Versorgung mit einer mikroprozessorgesteuerten Prothese offensichtlich falsch ist und ein geringerer
MdE-Wert bei Versorgung mit einem C-Leg anzusetzen wäre. Der bisherige MdE-Tabellenwert von 60 vH bestimmt sich zwar anhand
der Amputationshöhe und knüpft damit an die Strukturverletzung an, berücksichtigt aber - da der Erfolg der prothetischen Versorgung
und damit die verbliebene Funktion maßgeblich von der Amputationshöhe abhängen - pauschalierend das Ausmaß der Funktionsstörungen.
Damit findet die Möglichkeit einer prothetischen Versorgung bereits jetzt Eingang in die MdE-Bemessung. So setzten die MdE-Werte
nach einigen Tabellenwerken voraus, dass "der Zustand des Stumpfes sehr gut ist und dass der Verletzte gut passende orthopädische
Hilfsmittel tragen kann" (vgl Nehls in Podzun, Der Unfallsachbearbeiter, Stand Juni 2014, US 0500, S 38; Ricke in Kasseler
Komm,
SGB VII, Stand Juni 2016, §
56 RdNr 70). Für den Senat ist jedenfalls nicht ersichtlich, dass die prothetische Versorgung mit einem C-Leg die Funktionsstörungen
bei einer Oberschenkelamputation derart kompensieren könnte, dass unter Berücksichtigung der in §
56 Abs
2 SGB VII ausdrücklich genannten Anforderungen des Arbeitsmarktes nunmehr Erwerbsmöglichkeiten in einem Umfang eröffnet würden, dass
deshalb ein MdEW ert von 60 vH den Umfang der verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens
offensichtlich fehlerhaft beschreibt.
Kritisch anzumerken bleibt, dass aufgrund der Regelungsstruktur des §
56 Abs
2 SGB VII prinzipiell unklar bleibt, welche medizinischen Referenzgrößen und welche arbeitsmarktpolitischen bzw soziologischen Erkenntnisse
die Verfasser der MdE-Tabellen in ihre Überlegungen grundsätzlich einzustellen haben. Es würde einen Gewinn an Rechtssicherheit
und -klarheit darstellen, wenn der Gesetzgeber selbst in §
56 Abs
2 SGB VII eine Delegation zum Erlass von MdE-Tabellen aussprechen würde, die den Kriterien des Art
80 Abs
1 S 2
GG genügen würde. Dabei wäre der Gesetz- bzw Verordnungsgeber auch berufen, die allgemeinen Maßstäbe und das Verfahren der Erstellung
der MdE-Tabellen - wie es etwa durch die Versorgungsmedizin-Verordnung vom 10.12.2008 (BGBl I 2412) für die Bestimmung des Grades der Behinderung iS von §
69 Abs
1 S 5
SGB IX und im sozialen Entschädigungsrecht für den Grad der Schädigungsfolgen nach § 30 Abs 1 BVG geschehen ist - zu normieren.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§
183,
193 SGG.