Anspruch auf häusliche Krankenpflege, Folgebescheide als Gegenstand des Verfahrens
Gründe:
I
Es ist streitig, ob die Beklagte auch für Maßnahmen der Behandlungspflege einzutreten hat, die während des Aufenthalts des
Versicherten in einer Kindertagesstätte bzw in der Schule zu erbringen sind.
Der 1992 geborene Kläger ist bei der beklagten Krankenkasse (KK) familienversichert. Er leidet an Diabetes. Seit November
1998 benötigt er deswegen vier Mal täglich Insulininjektionen. Wegen der ganztägigen Berufstätigkeit seiner Eltern besuchte
er zunächst eine Kindertagesstätte und seit seiner Einschulung (30. August 1999) nach Schulschluss den Schulhort. Er muss
täglich zu bestimmten Zeiten sieben kleine Mahlzeiten einnehmen. Zur Bestimmung des Blutzuckers ist er selbst in der Lage.
Für das Aufziehen der Insulinspritzen und die Verabreichung der Insulininjektionen um 6.00 Uhr, 11.30 Uhr, 17.20 Uhr und 20.00
Uhr bedarf er dagegen noch der Hilfe. Diese Hilfe leisten grundsätzlich die Eltern. Lediglich die Insulininjektionen um 11.30
Uhr können sie werktags wegen ihrer Berufstätigkeit nicht selbst vornehmen. Die behandelnde Kinderärztin verordnete deshalb
quartalsweise ab 18. November 1998 häusliche Krankenpflege in Form einer täglichen Insulininjektion an fünf Tagen pro Woche.
Die Maßnahme wird von Mitarbeitern eines ambulanten Krankenpflegedienstes durchgeführt. Die Kosten wurden von der Beklagten
bis zum 31. März 1999 übernommen (Bescheid vom 23. November 1998); dabei wurde die Kindertagesstätte als "erweiterte Häuslichkeit"
angesehen. Für die Zeit vom 8. April 1999 bis zum 31. März 2000 lehnte die Beklagte hingegen die Gewährung der beantragten
häuslichen Krankenpflege ab, weil die Maßnahme in der Kindertagesstätte (bis 29. August 1999) bzw in der Schule oder im Schulhort
stattfinde, also nicht, wie in §
37 Abs
2 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (
SGB V) vorgeschrieben, im Haushalt des Versicherten oder in seiner Familie (Bescheid vom 1. Juni 1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 29. September 1999; Folgebescheide vom 18. Oktober 1999 und 19. Januar 2000).
Die Kosten der Insulininjektionen haben die Eltern des Klägers für die Zeit vom 1. Oktober 1999 bis zum 31. März 2000 in Höhe
von 1.282,70 DM (655,83 Euro) bezahlt. Für die vorangegangene Zeit (8. April 1999 bis zum 30. September 1999) hat das Pflegeunternehmen
die angefallenen Kosten in Höhe von ebenfalls 1.282,70 DM (655,83 Euro) bis zum Abschluss dieses Rechtsstreits gestundet.
Mit der Klage hat der Kläger die Ansicht vertreten, die Anspruchsvoraussetzungen für häusliche Krankenpflege seien auch dann
erfüllt, wenn ein Kind in dem elterlichen Haushalt lebe und sich werktags nur vorübergehend außer Haus aufhalte, um die Kindertagesstätte
oder die Schule zu besuchen. Hier sei von einer "erweiterten Häuslichkeit" zu sprechen, in der die "häusliche" Krankenpflege
zu erbringen sei.
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen, weil häusliche Krankenpflege nur dann gewährt werden könne, wenn der Versicherte sie "in seinem
Haushalt oder seiner Familie" erhalte. Das sei bei Aufenthalten in Kindertagesstätten und Schulen nicht der Fall (Urteil vom
7. April 2000). Das Landessozialgericht (LSG) hat dieses Urteil geändert und die Beklagte verurteilt, "dem Kläger für den
Zeitraum vom 8. April 1999 bis 31. März 2000 die Kosten für häusliche Krankenpflege zu erstatten" (Urteil vom 6. März 2002):
Da der Anspruch auf häusliche Krankenpflege nach §
37 Abs
3 SGB V nur bestehe, wenn eine im Haushalt lebende Person die Pflege nicht leisten könne, sei mit dem Tatbestandsmerkmal "in der
Familie" jeder Ort erfasst, an dem ein Familienmitglied als Haushaltsangehöriger die Pflege persönlich zu erbringen hätte.
Dazu gehörten auch Kindertagesstätten, Schulen und Schulhorte.
Mit der Revision rügt die Beklagte die Verletzung des §
37 Abs
2 SGB V.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des LSG für das Land Brandenburg vom 6. März 2002 zu ändern und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG
Frankfurt (Oder) vom 7. April 2000 zurückzuweisen.
Der Kläger hat sich im Revisionsverfahren nicht geäußert.
II
Die Revision der Beklagten ist unbegründet, soweit es um die Zeit vom 8. April 1999 bis zum 30. September 1999 geht. Allerdings
war die Beklagte insoweit nicht zur Erstattung der Kosten, sondern zur Freistellung des Klägers von den - bis zum Abschluss
des Rechtsstreits vom Pflegeunternehmen gestundeten - Kosten der häuslichen Krankenpflege zu verurteilen. Für die Folgezeit
bis zum 31. März 2000 ist die Revision der Beklagten dagegen begründet, weil die Klage insoweit bereits unzulässig war.
1) Die Klage auf Erstattung der aufgewendeten Kosten für die Pflegemaßnahmen in der Zeit vom 1. Oktober 1999 bis zum 31. März
2000 ist unzulässig, weil es an der nach §
78 Abs
1 Satz 1
Sozialgerichtsgesetz (
SGG) erforderlichen Durchführung eines Widerspruchsverfahrens gegen die diesen Zeitraum betreffenden Ablehnungsbescheide der
Beklagten vom 18. Oktober 1999 und 19. Januar 2000 fehlt.
Auf ein solches Vorverfahren konnte nicht verzichtet werden. Die Voraussetzungen des §
78 Abs
1 Satz 2
SGG, bei deren Vorliegen es eines Vorverfahrens ausnahmsweise nicht bedarf, sind nicht erfüllt. Insbesondere sind die beiden
Folgebescheide nicht schon mit ihrer Bekanntgabe Gegenstand des Klageverfahrens geworden (§
78 Abs
1 Satz 2 Nr
1 iVm §
96 Abs
1 SGG). Die Frage, ob die Tatsachengerichte die Voraussetzungen des §
96 Abs
1 SGG zu Recht angenommen haben, ist im Revisionsverfahren von Amts wegen zu prüfen (BSG SozR 3-5425 § 24 Nr 17; BSG SozR 3-1500
§ 29 Nr 1); einer Verfahrensrüge der Beteiligten bedarf es insoweit nicht.
Die Vorinstanzen haben, ebenso wie die Beklagte, die Voraussetzungen des §
96 Abs
1 SGG zu Unrecht als erfüllt angesehen. Nach dieser Vorschrift wird ein nach Klageerhebung ergangener neuer Verwaltungsakt Gegenstand
des Klageverfahrens, wenn er den mit der Klage angefochtenen Verwaltungsakt abändert oder ersetzt. An einer solchen abändernden
oder ersetzenden Funktion fehlt es, wenn der neue Verwaltungsakt bei einer regelmäßig zu erbringenden Leistung einen von dem
früheren Verwaltungsakt nicht erfassten späteren Zeitraum betrifft. Die in der Vergangenheit - auch vom erkennenden Senat
- bei vergleichbarer Prozesslage vertretene Ansicht, in solchen Fällen sei unter dem Aspekt der Prozessökonomie der neue Bescheid
zumindest dann in entsprechender Anwendung des §
96 Abs
1 SGG in das laufende Klageverfahren einzubeziehen, wenn es keine relevanten Sachverhaltsabweichungen gebe und es ausschließlich
um dasselbe Rechtsproblem gehe, hat sich nicht bewährt und ist deshalb aus Gründen der Rechtssicherheit für verschiedene Rechtsgebiete
bereits aufgegeben worden (zB BSG SozR 3-5425 § 24 Nr 17 zum Künstlersozialversicherungsrecht; BSGE 78, 98 = SozR 3-2500 § 87 Nr 12 zum Kassenarztrecht). Es ist vielfach und auch hier im Bereich der häuslichen Krankenpflege, die
von mannigfachen Voraussetzungen abhängt, nicht von vornherein erkennbar, ob es um in allen wesentlichen Punkten gleich gelagerte
Sachverhalte geht und sich ausschließlich dieselbe Rechtsfrage stellt. Dies wäre aber unabdingbare Voraussetzung, damit die
den Verwaltungsakt erlassende Behörde schon bei der Erstellung des Bescheides entscheiden kann, ob sie bei laufendem Klageverfahren
gegen einen gleichartigen früheren Bescheid erneut eine Rechtsbehelfsbelehrung nach § 36 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) über die Möglichkeit des Widerspruchs zu erteilen oder nunmehr einen Hinweis auf §
96 SGG über die Einbeziehung des Verwaltungsakts in das laufende Klageverfahren zu geben hat. Auch der Adressat des Bescheides und
das Gericht müssten im Falle eines Hinweises nach §
96 SGG sofort bei Kenntnisnahme entscheiden können, ob entgegen diesem Hinweis ein Widerspruchsverfahren durchzuführen bzw der Hinweis
auf die Einbeziehung in das Klageverfahren zu Recht erfolgt ist. Um dieser Unsicherheit vorzubeugen, ist eine entsprechende
Anwendung des §
96 Abs
1 SGG auf Folgebescheide für spätere Zeiträume auch im hier betroffenen Bereich der (quartalsweise verordneten) häuslichen Krankenpflege
(§
37 SGB V) generell abzulehnen.
Die Bescheide der Beklagten vom 18. Oktober 1999 und 19. Januar 2000 sind auch nicht durch eine (gewillkürte) Klageänderung
nach §
99 Abs
1 SGG zum Gegenstand des anhängigen Prozesses gemacht worden. Der 6. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) hält es zwar unter bestimmten
Voraussetzungen für denkbar, durch prozessuale Vereinbarung zwischen den Beteiligten Folgebescheide für spätere Abrechnungszeiträume
unmittelbar zum Gegenstand eines anhängigen vertragsärztlichen Honorarstreitverfahrens zu machen, sodass es keines Widerspruchsverfahrens
mehr bedarf (BSG SozR 3-2500 § 85 Nr 12 und BSGE 78, 98 = SozR 3-2500 § 87 Nr 12). Die Frage, ob dieser Ansicht gefolgt werden kann, kann hier offen bleiben; denn im vorliegenden
Fall ist eine solche prozessuale Vereinbarung der Beteiligten nicht zu Stande gekommen. In der erweiternden Antragstellung
durch den Kläger und der rügelosen Einlassung der Beklagten auf den erweiterten Klageantrag kann zwar nach §
99 Abs
2 SGG gesetzlich eine zulässige Klageänderung liegen; dies ändert aber nichts daran, dass auch hinsichtlich der geänderten Klage
die Prozessvoraussetzung eines Vorverfahrens vorliegen muss, wenn es um einen anderen Streitgegenstand geht. Auch das Gericht
kann unzulässige Klagen nicht als sachdienlich zulassen, sondern hat vor einer Klageabweisung wegen Unzulässigkeit aus Gründen
der Prozessökonomie in der Regel Gelegenheit zu geben, das Widerspruchsverfahren noch nachzuholen (vgl Meyer-Ladewig,
SGG, 7. Aufl 2002, §
99 RdNr 10a mit Rspr-Nachweisen). In der Revisionsinstanz kommt dies freilich wegen des grundsätzlichen Klageänderungsverbots
(§
168 SGG) nicht in Betracht; eine Zurückverweisung an die Vorinstanz allein zu diesem Zwecke wäre untunlich (§
170 Abs
2 Satz 2
SGG).
Die Beklagte wird deshalb nunmehr über den in der erweiternden Antragstellung vom 7. April 2000 liegenden, mit Blick auf die
Jahresfrist des §
66 Abs
2 SGG auch fristwahrenden Widerspruch gegen die mit unrichtiger Rechtbehelfsbelehrung versehenen Folgebescheide vom 18. Oktober
1999 und 19. Januar 2000 in einem gesonderten Vorverfahren zu entscheiden haben.
2) Hinsichtlich der Zeit vom 8. April 1999 bis zum 30. September 1999 ist die Revision der Beklagten unbegründet. Der den
Leistungsanspruch für diesen Zeitraum verneinende Bescheid vom 1. Juni 1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom
29. September 1999 ist rechtswidrig.
Gegenstand des Verfahrens ist insoweit kein Kostenerstattungsanspruch, wovon die Vorinstanzen noch ausgegangen waren, sondern
ein Freistellungsanspruch, weil der Kläger (bzw seine Eltern) die notwendige Krankenpflege selbst beschafft, aber noch nicht
bezahlt hat; das Pflegeunternehmen hat die Vergütung bis zum Abschluss dieses Rechtsstreits gestundet. Ein solcher Freistellungsanspruch
wird von der auf Kostenerstattung zugeschnittenen Regelung des §
13 Abs
3 SGB V umfasst (BSGE 85, 287 = SozR 3-2500 §
33 Nr
37; stRspr).
Die Voraussetzungen des §
13 Abs
3 SGB V sind auch - abgesehen von der Bezahlung der Leistung - erfüllt: "Konnte die KK eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig
erbringen oder hat sie eine Leistung zu Unrecht abgelehnt und sind dadurch Versicherten für die selbstbeschaffte Leistung
Kosten entstanden, sind diese von der KK in der entstandenen Höhe zu erstatten, soweit diese Leistung notwendig war." Der
Kläger hat die montags bis freitags - mit Ausnahme der Ferienzeiten - notwendige pflegedienstliche Versorgung mit den mittäglichen
Insulininjektionen jeweils vor Quartalsbeginn rechtzeitig unter Vorlage der vertragsärztlichen Verordnung beantragt, die Behandlungsmaßnahmen
mussten aus medizinischen Gründen jeweils zu den angegebenen Zeiten erfolgen, waren also nicht aufschiebbar (1. Alternative),
und für die Zeit nach Erteilung des Bescheides vom 1. Juni 1999 lag zudem eine Selbstbeschaffung der Leistung infolge rechtswidriger
Ablehnung durch die Beklagte (2. Alternative) vor.
Dem Kläger stand während des streitigen Zeitraums ein Sachleistungsanspruch auf Gewährung von Behandlungspflege gemäß §
37 Abs
2 Satz 1
SGB V zu. Nach dieser Vorschrift erhalten Versicherte in ihrem Haushalt oder ihrer Familie als häusliche Krankenpflege Behandlungspflege,
wenn sie zur Sicherung des Ziels der ärztlichen Behandlung erforderlich ist. Die medizinische Notwendigkeit der regelmäßigen
und zeitgenauen Insulininjektionen ist unbestritten. Hierbei handelt es sich auch um eine Maßnahme der Behandlungspflege iS
des §
37 Abs
2 Satz 1
SGB V. Zur Behandlungspflege gehören nach ständiger Rechtsprechung des Senats (BSGE 82, 27 = SozR 3-3300 § 14 Nr 2; BSG SozR 3-3300 § 14 Nr 3 und 11) alle Pflegemaßnahmen, die durch eine bestimmte Erkrankung erforderlich
werden, auf den Krankheitszustand des Versicherten ausgerichtet sind und dazu beitragen, die Krankheit zu heilen, ihre Verschlimmerung
zu verhüten bzw Krankheitsbeschwerden zu verhindern oder zu lindern. Die Insulininjektionen waren ärztlich verordnet und dienten
der Sicherung der ärztlichen Behandlung der Diabeteserkrankung des Klägers.
Entgegen der Auffassung des SG und der Beklagten steht dem Anspruch des Klägers aus §
37 Abs
2 Satz 1
SGB V nicht entgegen, dass die Behandlungspflegemaßnahmen zunächst in der Kindertagesstätte und danach im Schulgebäude, also nicht
im von der Familienwohnung begründeten "häuslichen" Bereich, durchgeführt worden sind. §
37 Abs
2 Satz 1
SGB V begrenzt die Leistungspflicht der KK nicht räumlich auf den Haushalt des Versicherten oder "seine Familie" als Leistungsort
und schließt medizinisch erforderliche Maßnahmen, die bei vorübergehenden Aufenthalten außerhalb der Familienwohnung anfallen,
dann nicht aus, wenn sich der Versicherte ansonsten ständig in seinem Haushalt bzw in seiner Familie aufhält und dort seinen
Lebensmittelpunkt hat.
Der Wortlaut der hier maßgeblichen Vorschrift rechtfertigt die von der Beklagten und dem SG angenommene Begrenzung nicht. Die erweiternde Auslegung des §
37 Abs
2 Satz 1
SGB V ist nach seinem Wortlaut nicht nur möglich, sondern nach Sinn und Zweck der Bestimmung sowie nach dem Gebot "versichertenfreundlicher"
Auslegung, wie es aus §
2 Abs
2 Sozialgesetzbuch - Allgemeiner Teil - (
SGB I) zu entnehmen ist, auch geboten. Nach dieser Vorschrift sind die in den §§
3 ff
SGB I aufgeführten sozialen Rechte, zu denen auch die notwendige Krankenversorgung im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung
(GKV) gehört (§
4 Abs
2 Satz 1
SGB I), bei der Auslegung des SGB und bei der Ausübung von Ermessen zu beachten; dabei ist sicherzustellen, dass die sozialen Rechte
möglichst weit gehend verwirklicht werden (Effektuierungsgrundsatz, vgl Mrozynski,
SGB I, 2. Aufl 1995, §
2 RdNr
15 ff; Rode SGb 1977, 268, 272). Nach §
2 Abs
1 SGB I dienen die sozialen Rechte der Erfüllung der in §
1 SGB I genannten Aufgaben, insbesondere der Schaffung gleicher Voraussetzungen für die freie Entfaltung der Persönlichkeit junger
Menschen. Dazu gehört bei Kindern die Wiederherstellung und Sicherung der Möglichkeit zur sozialen Integration unter Gleichaltrigen
(BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 27) in einem Kindergarten bzw in einer Kindertagesstätte sowie der Schulfähigkeit nach Eintritt der
Schulpflicht (BSG SozR 2200 § 182 Nr 73; BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 22).
Der Wortlaut des §
37 Abs
2 Satz 1
SGB V führt mit "in ihrem Haushalt" und "in ihrer Familie" zwei Alternativen auf, bei denen als häusliche Krankenpflege Behandlungspflege
zu erbringen ist. Zumindest die Alternative "in ihrer Familie" lässt sich räumlich nicht begrenzen. Der im Schrifttum teilweise
unternommene Versuch (vgl etwa Krauskopf, Krankenversicherung, Soziale Pflegeversicherung, Stand: Dezember 2001, § 37 RdNr
3; Keß ErsK 1991, 357, 358), hieraus die Begrenzung auf den Haushalt der Familie abzuleiten, ist nicht überzeugend. Schon
bei einer Beschränkung des Begriffs "Familie" auf den des Familienrechts im Bürgerlichen Gesetzbuch (
BGB) ergeben sich je nach Anzahl der Verwandten mehrere denkbare Familienhaushalte (so auch Höfler in: KassKomm
SGB V §
37 RdNr 15; Poske, Hauspflege, 1990, S 167). Die Formulierung "in ihrer Familie" (statt: "in dem ihrer Familie") legt zudem
nicht die Beschränkung auf einen Haushalt der Familie nahe, sondern spricht eher dafür, dass es auf den jeweiligen Aufenthaltsort
eines von unter Umständen mehreren, vom Versicherten frei wählbaren Familienverbünden ankommt, dem der Versicherte angehört.
In diesem Sinn hat das BSG bereits zur Übernahme von Fahrtkosten nach Abschluss einer Krankenhausbehandlung entschieden (BSGE
40, 88, 89 = SozR 2200 § 184 Nr 2).
Der unklare Gesetzeswortlaut bringt den Willen des Gesetzgebers nur unzureichend zum Ausdruck. Dem Gesetzgeber ging es bei
der Umschreibung des Aufenthaltsortes des Versicherten im Rahmen der Behandlungspflege vor allem um die Abgrenzung zur Leistungserbringung
im stationären Bereich (Foerster/Pampel-Jabrane, "Häuslich muss nicht immer zu Hause sein", ZfSH/SGB 2000, 214, 215). Die Regelung geht davon aus, dass Behandlungspflege dort zu erbringen ist, wo die Versorgung des Versicherten mit
Grundpflege und hauswirtschaftlicher Hilfe, vergleichbar der Versorgung bei stationärer Behandlung im Krankenhaus, sicher
gestellt ist (Wenig, KrV 1978, 116, 117). Im Schrifttum wird daher auch angenommen, der Versicherte könne sich ausschließlich
zum Zwecke der häuslichen Pflege in "seine" Familie begeben, auch wenn er sonst einen eigenen Hausstand habe; dies habe zur
Folge, dass er dort Behandlungspflege zu Lasten der KK in Anspruch nehmen könne, soweit sie von den Familienangehörigen -
etwa mangels einschlägiger Qualifikation - nicht erbracht werden kann (vgl Peters, Handbuch der Krankenversicherung, §
37 SGB V RdNr 62; Mrozynski in: Wannagat
SGB V, §
37 RdNr 19).
Die Notwendigkeit einer Abgrenzung zum stationären Bereich der Heimpflege stand dann bei der Diskussion anlässlich der Erweiterung
des Anspruchs auf häusliche Krankenpflege durch das Krankenversicherungs-Kostendämpfungsgesetz (KVKG) vom 27. Juni 1977 (BGBl
I S 1069) im Vordergrund (vgl zum Gesetzgebungsverfahren: Zipperer, DOK 1978, 11, 20). Aus der Notwendigkeit eines eigenen
Haushalts wurde der Schluss gezogen, dass bei einem Daueraufenthalt in Einrichtungen der Alten- oder Behindertenhilfe ein
Leistungsanspruch nur dann bestehe, wenn die Versorgung des Versicherten nicht (vertraglich) umfassend von der Einrichtung
geschuldet sei (vgl Hanau/Rolfs, VSSR 1993, 237, 252; Gerlach in: Hauck/Noftz,
SGB V, Stand: 1. August 1999, §
37 RdNr 15; Höfler in: KassKomm
SGB V §
37 RdNr 14). Die Frage, ob der Haushalt im räumlichen Sinn alleiniger Ort der Leistungserbringung ist, wurde im Zusammenhang
mit der Ausweitung des Anspruchs auf häusliche Krankenpflege im KVKG nicht erörtert.
Die Verwendung der Umschreibung "in ihrem Haushalt oder ihrer Familie" als bloße Unterscheidung von der Krankenhausversorgung
(vgl Poske, Hauspflege, 1990, S 70 ff, 112 ff) wird schon aus der Ursprungsfassung des § 185
Reichsversicherungsordnung (
RVO) aus dem Jahr 1911 deutlich: "Die Kasse kann mit Zustimmung des Versicherten Hilfe und Wartung durch Krankenpfleger, Krankenschwestern
oder andere Pfleger namentlich auch dann gewähren, wenn die Aufnahme des Kranken in ein Krankenhaus geboten, aber nicht ausführbar
ist, oder ein wichtiger Grund vorliegt, den Kranken in seinem Haushalt oder in seiner Familie zu belassen." Die Formulierung
wurde dann als Voraussetzung für den Anspruch auf Behandlungssicherungspflege übernommen, die mit dem KVKG vom 27. Juni 1977
(BGBl I S 1069) als § 185 Abs 1 Satz 2
RVO zunächst als Satzungsleistung eingeführt wurde. Durch das Gesetz über die 19. Anpassung der Leistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz sowie zur Änderung weiterer sozialrechtlicher Vorschriften (KOV-AnpG 1990) vom 26. Juni 1990 (BGBl I S 1211) wurde die Behandlungssicherungspflege
in §
37 Abs
2 Satz 1
SGB V zur Regelleistung bestimmt. Im Gesetzentwurf (BT-Drucks 11/7343, S 1) wurde dies damit begründet, dass sich die bisherige
Ausgestaltung der häuslichen Krankenpflege zur Sicherung des Ziels der ärztlichen Behandlung nicht bewährt habe. Zahlreiche
KKn hätten die Satzungsleistung befristet, weil sie beitragsrelevante Einnahmeausfälle durch die fehlende Ausgleichsfähigkeit
von satzungsmäßigen Mehrleistungen in der Krankenversicherung der Rentner befürchteten. Bei der Einstellung oder Einschränkung
von Krankenpflegemaßnahmen zur Sicherung des Ziels der ärztlichen Behandlung müsse aber mit einer wesentlich kostenaufwendigeren
Leistungserbringung im Rahmen der ärztlichen Behandlung gerechnet werden. Gesetzgeberisches Leitmotiv war damit die Kostenersparnis.
Im Hinblick auf die hier umstrittene Frage der Erbringung von Behandlungspflege außerhalb der Familienwohnung lassen sich
aus der Entstehungsgeschichte somit keine Erkenntnisse gewinnen, die für einen Leistungsausschluss sprechen. Insbesondere
finden sich keine Äußerungen, die darauf hindeuten, dass ein Leistungsanspruch bei kurzfristigem Verlassen des familiären
Wohnbereichs ausgeschlossen und damit ein versorgungsfreier Raum geschaffen werden sollte, in dem der Versicherte trotz des
Bestehens einer behandlungsbedürftigen Krankheit von einem Anspruch auf Krankenbehandlung ausgeschlossen sein sollte.
Das Kriterium des Haushalts wurde bei Einführung der Pflegeversicherung auch zur Abgrenzung der Ansprüche bei häuslicher Pflege
und stationärer Pflege übernommen. Die im Wortlaut des §
36 Elftes Buch Sozialgesetzbuch (
SGB XI) zunächst enthaltene Begrenzung auf den Haushalt des Pflegebedürftigen oder einen anderen Haushalt, in den der Pflegebedürftige
aufgenommen ist, wurde aber bereits im Jahre 1996 durch das 1.
SGB XI-ÄndG vom 14. Juni 1996 (BGBl I S 830) aufgegeben, weil als selbstverständlich davon ausgegangen worden war, dass es insoweit
auf die Örtlichkeit der Pflegemaßnahme nicht ankommen sollte, sondern nur auf die Art der Durchführung (vgl Udsching,
SGB XI, 2. Aufl 2000, §
36 RdNr 4; Mrozynski, SGb 1995, 104, 110 unter Hinweis auf die Begründung zum ursprünglichen Gesetzentwurf BT-Drucks 12/5262, S 112).
Ebenso wie im Bereich der Pflegeversicherung kann auch bei der Behandlungspflege der Anspruch des Versicherten nicht davon
abhängen, ob er sich zu Hause aufhält. Im Hinblick auf den vorrangigen Zweck der Behandlungspflege, das Ziel der ärztlichen
Behandlung, also die Heilung, Besserung oder die Verhütung einer Verschlimmerung einer Krankheit zu sichern, ist der Aufenthaltsort
des Versicherten - sofern nicht Krankenhausbehandlung oder vollstationäre Pflege vorliegt - ohne Belang. Im vorliegenden Fall
kann die Sicherung des Erfolgs der ärztlichen Behandlung des Klägers während des Kindergarten- und Schulbesuchs in gleicher
Weise erreicht werden wie zu Hause.
Auch die Stellungnahme des Bundesgesundheitsministeriums, auf die sich die Beklagte beruft (BT-Drucks 14/6758, S 46 f), hebt
trotz der Erwähnung des Haushalts nach ihrem Gesamtzusammenhang lediglich die fehlende Leistungspflicht nach §
37 Abs
2 SGB V im stationären Bereich hervor.
Die Leistungspflicht der KK scheidet auch nicht deshalb aus, weil das kurzfristige Verlassen des Wohnbereichs dadurch veranlasst
wird, dass der Kläger mit dem Besuch einer Schule der gesetzlichen Schulpflicht nachkommt. Eine Leistungspflicht des Schulträgers
ist nicht ersichtlich (OVG NRW NVwZ-RR 2001, 34 = DVBl 2000, 1793; OVG Niedersachsen FEVS 52, 140). Ansprüche gegen den Träger der Eingliederungshilfe sind gemäß § 2 Abs 1 Bundessozialhilfegesetz (BSHG) gegenüber dem Anspruch auf Leistungen der GKV subsidiär.
Der Anspruch des Klägers ist schließlich auch nicht gemäß §
37 Abs
3 SGB V ausgeschlossen. Nach dieser Vorschrift besteht der Anspruch auf häusliche Krankenpflege nur, soweit eine im Haushalt lebende
Person den Kranken in dem erforderlichen Umfang nicht pflegen und versorgen kann. Die Eltern des Klägers sind zwar in der
Lage, ihren Sohn mit den erforderlichen pflegerischen Maßnahmen zu versorgen, und erfüllen diese Aufgabe auch immer dann,
wenn er zu Hause ist. Ihnen ist es jedoch wegen ganztägiger Berufstätigkeit nicht möglich, ihren Sohn auch während des Schulbesuchs
mit Insulininjektionen zu versorgen. Der Senat hat bereits in anderem Zusammenhang deutlich gemacht, dass der Inanspruchnahme
von Haushaltsangehörigen zur Entlastung der Krankenversicherung nach §
37 Abs
3 SGB V Grenzen der Zumutbarkeit gesetzt sind (BSG SozR 3-2500 §
37 Nr 2). Dazu gehört grundsätzlich auch die - vollständige oder teilweise - Aufgabe eines Arbeitsplatzes.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 Abs
1 SGG aF.