Sozialhilferecht - Anspruchsüberleitung bei vor Sozialhilfebezug entstandenen Ansprüchen; Gleichzeitigkeit als Voraussetzung
der Anspruchsüberleitung; Sozialhilfe, Überleitung von vor Bezug von - entstandenen Ansprüchen; Überleitung von vor Sozialhilfebezug
entstandenen Ansprüchen.
Gründe:
I.
Der Kläger hatte 1975 von seiner Mutter deren landwirtschaftliches Anwesen übernommen und als Gegenleistung mit ihr ein Leibgedinge
vereinbart. Am 22. Oktober 1990 wurde die Mutter des Klägers in ein Pflegeheim aufgenommen. Am 23. November 1990 vereinbarte
sie, vertreten durch den Bruder des Klägers als ihren Betreuer, mit dem Kläger, daß dieser zur Abgeltung seiner Verpflichtungen
aus dem Leibgedingsvertrag ab dem 1. November 1990 monatlich 250 DM an sie zahlen solle. Diese Vereinbarung wurde vormundschaftsgerichtlich
genehmigt.
Ab dem 1. Juni 1993 trug der Beklagte die Pflegeheimkosten im Rahmen der Hilfe zur Pflege. Durch Bescheid vom 28. Juli 1994
leitete er in der Annahme, der Wert der Befreiung des Klägers von seiner Verpflichtung aus dem Leibgedinge übersteige den
vereinbarten Betrag von monatlich 250 DM, den Abgeltungsanspruch der Mutter des Klägers aus dem Übergabevertrag für die Zeit
vom 22. Oktober 1990 (Heimaufnahme) bis zum 31. Mai 1993 (Tag vor Beginn des Zeitraums der Gewährung von Hilfe zur Pflege)
auf sich über.
Das Verwaltungsgericht hat den Bescheid vom 28. Juli 1994 und den dazu ergangenen Widerspruchsbescheid des Beklagten aufgehoben,
der Verwaltungsgerichtshof die dagegen eingelegte Berufung des Beklagten zurückgewiesen. Beide Vorinstanzen sind der Auffassung,
daß die Überleitung von jeweils monatlich vor dem Zeitraum der Sozialhilfebewilligung fällig gewordenen Ansprüchen wegen des
Grundsatzes der Gleichzeitigkeit nach § 90 Abs. 1 Satz 1 BSHG nicht möglich sei.
Der Beklagte hat gegen das Berufungsurteil Revision eingelegt. Er rügt Verletzung von § 90 Abs. 1 Satz 1 BSHG.
Der Kläger tritt der Revision entgegen, indem er die Rechtsauffassung der Vorinstanzen verteidigt.
II.
Die Revision des Beklagten ist begründet. Die vorinstanzlichen Entscheidungen, durch die der Klage stattgegeben worden ist,
sind mit Bundesrecht (§
137 Abs.
1 Nr.
1
VwGO) nicht vereinbar, so daß sie auf die Revision des Beklagten aufzuheben sind und die Klage abzuweisen ist (§
144 Abs.
3 Satz 1 Nr.
1
VwGO).
Entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichtshofs und des Verwaltungsgerichts ermöglicht § 90 Abs. 1 Satz 1 BSHG auch die Überleitung von Ansprüchen auf laufende Leistungen, die schon vor der Leistung von Sozialhilfe fällig geworden,
aber im Zeitpunkt der Überleitung noch nicht erfüllt sind. Der Bescheid vom 28. Juli 1994, mit dem der Beklagte für die Zeit
von der Heimaufnahme der Mutter des Klägers bis zur Gewährung der Sozialhilfe Geldleistungen aus dem Leibgeding über die Vereinbarung
vom 23. November 1990 hinaus verlangt, ist daher rechtmäßig.
Im Ausgangspunkt zutreffend haben die Vorinstanzen den vom Kläger angefochtenen Überleitungsbescheid nach § 90
BSHG beurteilt. Zwar sind aus dessen Anwendungsbereich Ansprüche gegen einen nach bürgerlichem Recht Unterhaltspflichtigen durch
§ 91
BSHG i.d.F. des Gesetzes zur Umsetzung des Föderalen Konsolidierungsprogramms - FKPG - vom 23. Juni 1993 (BGBl I S. 944) herausgenommen worden. Der vom Beklagten übergeleitete Anspruch - mag er dem Berufungsgericht auch "unterhaltsrechtsähnlich"
erscheinen - ist jedoch kein "Unterhaltsanspruch" im Sinne dieser Vorschrift (vgl. BVerwGE 92, 281 >285<).
Den Vorinstanzen ist auch darin zu folgen, daß die Überleitungsbefugnis nach § 90
BSHG dem Erfordernis der Gleichzeitigkeit des überzuleitenden Anspruchs des Hilfeempfängers und der Sozialhilfeleistung unterliegt.
Doch entspricht es nicht dem Gesetz, daß das Berufungsgericht diese Voraussetzung einschränkend dahin versteht, "die Überleitung
(könne) sich bei laufenden monatlichen Ansprüchen ... nur auf die Ansprüche beziehen, die für den Zeitraum (zeitabschnittsweise)
fällig werden, für den auch Sozialhilfe geleistet wird". Die vom Verwaltungsgerichtshof für erforderlich gehaltene "Identität
der Verrechnungszeiträume", die ohnehin nur im Verhältnis zwischen laufenden Sozialhilfeleistungen und Ansprüchen auf wiederkehrende
Leistungen (vgl. S. 5 Mitte des Berufungsurteils: "... jeweils - unterhaltsrechtsähnlich - ... fällig gewordene ... Abgeltungsansprüche
aus dem Leibgedingsvertrag") bestehen kann, mag vor Inkrafttreten des Bundessozialhilfegesetzes Voraussetzung für eine Überleitung
gewesen sein, als außer der Gleichzeitigkeit der dem Hilfebedürftigen von einem anderen geschuldeten Leistungen mit den Fürsorgeleistungen
auch die Gleichartigkeit dieser Ansprüche rechtlich verlangt war; denn der Überleitung unterlagen nur "Rechtsansprüche gegen
einen Dritten auf Leistungen zur Deckung des Lebensbedarfs" (vgl. § 21 a Abs. 1 Satz 1 RVF). Der Gesetzgeber hat sich jedoch
schon in der ursprünglichen Fassung von § 90
BSHG vom 30. Juni 1961 (BGBl I S. 815) für eine umfassendere Regelung entschieden, indem er, an dem Grundsatz der Gleichzeitigkeit festhaltend, ohne aber auch
den Grundsatz der Gleichartigkeit zu übernehmen, (jedweden) "Anspruch gegen einen anderen ... für die Zeit, für die ... Hilfe
... gewährt wird", zur Überleitung vorgesehen hat. Dementsprechend hat der Anwendungsbereich des § 90
BSHG stets auch Ansprüche gegen Dritte auf einmalige Leistungen umfaßt (vgl. z.B. BVerwGE 66, 82 >87 f.<: Anspruch auf Rückzahlung eines Darlehens, Anspruch auf Rückgewähr einer Schenkung nach §
528
BGB).
Die von den Vorinstanzen vertretene enge Auslegung des Merkmals der Gleichzeitigkeit findet auch in dem Gesetzeszweck des
§ 90
BSHG keine Stütze. Diese Vorschrift dient, wie der Senat bereits in BVerwGE 85, 136 (137 f.) ausgeführt hat, der Durchsetzung des Grundsatzes des Nachrangs der Sozialhilfe (§ 2 Abs. 1
BSHG), indem sie den Träger der Sozialhilfe in die Lage setzt, durch Eintritt in die Gläubigerposition des Hilfeempfängers den
Zustand nachträglich herzustellen, der dem vom Gesetz gewollten Vorrang der Verpflichtung anderer entspricht, die dem Hilfeempfänger
die erforderliche Hilfe hätten gewähren müssen. Die Überleitungsermächtigung zielt also auf die Herstellung derjenigen Haushaltslage
beim Sozialhilfeträger, die bestünde, wenn der Anspruch des Hilfeempfängers schon früher erfüllt worden wäre. Dabei kommt
dem Tatbestandsmerkmal "Hilfeempfänger" in § 90 Abs. 1 Satz 1 BSHG in Zusammenhang mit dem Prinzip der Gleichzeitigkeit, dem "Haben eines Anspruchs für die Zeit, für die Hilfe gewährt wird",
(lediglich) die Funktion zu, den Anspruch zu identifizieren, dessen Erfüllung unter dem Aspekt der Gleichzeitigkeit die Hilfegewährung
entbehrlich gemacht hätte und der deshalb nunmehr zur Wiederherstellung des Nachrangs der Sozialhilfe übergeleitet werden
soll (s. BVerwG, a.a.O., S. 138).
Aus der Sicht des Nachranggrundsatzes hängt die Anwendbarkeit des § 90
BSHG somit nur davon ab, ob und inwieweit infolge der Nichterfüllung der in Rede stehenden Verpflichtung eines Dritten Sozialhilfe
zur Abwendung der Notlage hat geleistet werden müssen. Das Merkmal der Gleichzeitigkeit verweist insoweit mithin auf einen
(hypothetischen) Kausalzusammenhang zwischen Sozialhilfeleistung und Nichterfüllung des Anspruchs des Hilfeempfängers gegen
einen Dritten. Auf Entstehungsgrund und Beschaffenheit dieses Anspruchs (als Anspruch auf einmalige Leistung oder auf wiederkehrende
Leistungen) kommt es - anders als im Rahmen von § 91
BSHG - nicht an. In zeitlicher Hinsicht wird lediglich vorausgesetzt, daß der Anspruch gegen den Dritten im Zeitpunkt der Sozialhilfeleistung
fällig und seinem Gegenstand nach geeignet gewesen sein muß, die Notlage abzuwenden bzw. den Hilfebedürftigen zur Selbsthilfe
(§ 2 Abs. 1
BSHG) zu befähigen. Dies entspricht dem "Bezug zur Bedarfszeit" als einer gemeinsamen Voraussetzung für die Einsetzbarkeit von
Einkommen und Vermögen, die nach der Rechtsprechung des Senats ebenfalls "Zeitraumidentität" nur in dem Sinne erfordert, daß
Einkommen und/oder Vermögen in der Zeit des sozialhilferechtlichen Bedarfs zur Bedarfsdeckung verfügbar sein müssen, während
es nicht darauf ankommt, ob diese Mittel für einen mit dem Bedarfszeitraum identischen Zeitraum "bestimmt" sind (vgl. BVerwGE
108, 296 >298<). Deshalb sind auch in der Vergangenheit entstandene Ansprüche überleitungsfähig, wenn und soweit sie im Zeitpunkt
der Hilfegewährung noch nicht erfüllt sind.
Nach diesen Grundsätzen sind die vom Beklagten behaupteten Ansprüche der Mutter des Klägers aus Art. 18 BayAGBGB, die über
die unter dem 23. November 1990 vereinbarten Beträge hinausgehen, nach § 90
BSHG überleitungsfähig: Diese Ansprüche waren noch nicht erfüllt und bestanden - sofern höhere als die vereinbarten Leistungen
denn vom Kläger überhaupt geschuldet waren - im Zeitpunkt der Gewährung von Hilfe zur Pflege (ab 1. Juni 1993) noch als Anspruch
auf Nachentrichtung von Geldrentenleistungen fort.
Der vom Kläger mit dem Verwirkungseinwand geltend gemachte Vertrauensschutz gegenüber einer unerwarteten nachträglichen Heranziehung
zu über die Vereinbarung vom 23. November 1990 hinausgehenden Zahlungen betrifft ebensowenig wie die Frage der Wirksamkeit
dieser Vereinbarung und der Tragweite ihrer vormundschaftsgerichtlichen Genehmigung die Überleitungsfähigkeit eines entsprechenden
Nachzahlungsanspruchs, sondern die Frage, ob ein solcher Anspruch überhaupt besteht. Diese Frage fällt aber - da der vom Beklagten
behauptete Anspruch auch unter diesen Gesichtspunkten nicht offensichtlich ausscheidet (Negativevidenz, vgl. dazu z.B. BVerwGE
92, 281 >283 f.<) - in die Prüfungszuständigkeit der Zivilgerichte.
Aus diesen Gründen war der Revision des Beklagten mit der Kostenfolge für den Kläger aus §
154 Abs.
1
VwGO stattzugeben. Die Gerichtskostenfreiheit folgt aus §
188 Satz 2
VwGO.