Gründe:
I. Der klagende Landkreis begehrt von dem beklagten Land die Erstattung von Aufwendungen, die ihm durch die Unterbringung
und pädagogische Betreuung des Michael S. in einem Jugendheim entstanden sind.
Michael wurde am 9. August 1969 in Großbritannien geboren. 1976 siedelte er mit seiner Familie in die Bundesrepublik Deutschland
um. Sowohl in Großbritannien, wo er mit knapp fünf Jahren eingeschult worden war, als auch in der Grundschule in Deutschland
hatte Michael soziale Schwierigkeiten. Seit der dritten Klasse der Grundschule kamen kleinere Diebereien vor. 1981 trennten
sich seine Eltern; die Ehe wurde 1984 geschieden. Im November 1983 zog die Mutter mit Michael und seinem Bruder in eine gemeinsame
Wohnung zu Herrn W., der selbst einen Sohn in die Lebensgemeinschaft mitbrachte.
Am 30. November 1984 wandte sich Michaels Mutter an das Jugendamt des Klägers und erklärte, sie werde mit der Erziehung von
Michael nicht mehr fertig. Michael habe in einem Elektrogeschäft einen Kassettenrecorder nebst Musikkassette und beim Aldi-Markt
eine Zigarettenstange gestohlen. Auch zu Hause kämen ständig Diebereien vor. Dazu kämen seine Aufsässigkeit und in letzter
Zeit auch Schulversäumnisse. In seiner psychosozialen Diagnose kam das Jugendamt zu dem Ergebnis, Michael benötige in Heimerziehung
eine konsequente Führung und Zuwendung, die ihm aufzeige, daß durch intensives Arbeiten eine Verbesserung seiner Situation
möglich sei. Es leitete deshalb den Antrag der personensorgeberechtigten Mutter vom 4. Dezember 1984, ihrem Sohn Freiwillige
Erziehungshilfe zu gewähren, an das Landesjugendamt B. des Beklagten weiter. Dieses lehnte den Antrag mit Bescheid vom 18.
März 1985 ab: Zwar sei eine Herausnahme des Minderjährigen aus dem (damaligen) familiären Rahmen erforderlich, hierzu sei
aber eine so schwerwiegende Maßnahme wie die Gewährung der Freiwilligen Erziehungshilfe nicht gerechtfertigt; vielmehr reiche
eine Hilfegewährung durch das Jugendamt gemäß den §§ 5 und 6 JWG aus. Hiergegen erhob Michaels Mutter nach erfolglosem Widerspruch
Klage. Mit Beschluß vom 10. März 1987 stellte das Verwaltungsgericht dieses Verfahren ein, nachdem die Beteiligten auf Hinweis
des Gerichts den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt erklärt hatten, weil der Minderjährige das 17. Lebensjahr vollendet
hatte.
Noch während des Widerspruchsverfahrens - am 31. Mai 1985 - hatte das Jugendamt des Klägers den Minderjährigen im Jugendheim
»Am Blauen Stein« untergebracht und die Kosten übernommen. Mit Schreiben vom 5. Juni 1985 hatte der Kläger dem Beklagten dies
mitgeteilt und erklärt, er übernehme die Kosten vorläufig und beabsichtige, Erstattung gemäß §§ 102 ff. SGB X zu verlangen. Mit Bescheid vom 6. Juli 1987 bewilligte der Kläger für Michael S. gemäß § 6 Abs. 3 JWG Hilfe zur Erziehung
über das 18. Lebensjahr hinaus, um ihm die Möglichkeit zu geben, seine Ausbildung zum Bauschlosser erfolgreich abzuschließen.
Mit Schreiben vom 12. August 1987 bat der Kläger den Beklagten, die bisher für Michael S. entstandenen und noch entstehenden
Jugendhilfeaufwendungen zu erstatten. Das lehnte der Beklagte mit Schreiben vom 8. Juli 1988, nachdem er sich bereits mit
Schreiben vom 25. März 1987 gegen den Erstattungsanspruch des Klägers verwahrt hatte, endgültig ab. Daraufhin erhob der Kläger
am 10. Oktober 1988 beim Verwaltungsgericht Klage mit dem Antrag, den Beklagten zu verurteilen, an ihn 138.045,61 DM zu zahlen.
Dieser Betrag ist die Summe der vom Kläger erbrachten Jugendhilfeaufwendungen für Michael S. in der Zeit vom 31. Mai 1985
bis zum 31. Juli 1988.
Das Verwaltungsgericht hat der Klage teilweise stattgegeben und den Beklagten dem Grunde nach verurteilt, dem Kläger die Aufwendungen
für die Zeit vom 31. Mai 1985 bis zum 8. August 1987 zu erstatten. Gegen dieses Urteil haben der Kläger und der Beklagte Berufung
eingelegt, der Kläger mit dem Begehren, den Beklagten zu verurteilen, die für die Unterbringung von Michael S. entstandenen
Kosten auch für den Zeitraum vom 9. August 1987 bis zum 1. Dezember 1988 zu erstatten, der Beklagte mit dem Ziel der Abweisung
der Klage in vollem Umfang. Das Oberverwaltungsgericht hat der Berufung des Klägers stattgegeben und die des Beklagten zurückgewiesen.
Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt:
Das Begehren des Klägers finde seine Rechtsgrundlage in § 105 SGB X; das Verwaltungsgericht habe zu Recht angenommen, dem (damals) Minderjährigen hätte Freiwillige Erziehungshilfe gewährt werden
müssen. Nicht anzuwenden sei dagegen § 102 SGB X in Verbindung mit §
43 SGB I, denn mit dem Antrag auf Gewährung Freiwilliger Erziehungshilfe sei das Landesjugendamt zuerst angegangen worden. Für diese
Beurteilung sei es unbeachtlich, ob der Antrag über das Jugendamt eingereicht worden sei, weil nur derjenige »angegangen«
sei, von dem die Hilfe erbeten werde. Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts lägen die Voraussetzungen des § 105 SGB X auch für die nach dem 9. August 1987 gewährte Hilfe vor. Die Geltendmachung des Erstattungsanspruches verstoße auch nicht
gegen Treu und Glauben.
Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision des Beklagten, mit der er sein Klageabweisungsbegehren weiterverfolgt. Er rügt
Verletzung des § 105 SGB X.
Der Kläger verteidigt das angefochtene Urteil.
II. Die Revision des Beklagten ist nicht begründet. Das Berufungsgericht hat im Ergebnis zu Recht den Beklagten dem Grunde
nach für verpflichtet gehalten, dem Kläger die aus der Heimunterbringung von Michael entstandenen Aufwendungen zu erstatten.
Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts ergibt sich dieser Erstattungsanspruch jedoch nicht aus § 105 SGB X, sondern bereits aus § 102 SGB X in Verbindung mit §
43 Abs.
1 Satz 1
SGB I, so daß § 105 SGB X unanwendbar ist.
Besteht ein Anspruch auf Sozialleistungen und ist zwischen mehreren Leistungsträgern streitig, wer zur Leistung verpflichtet
ist, kann nach §
43 Abs.
1 Satz 1
SGB I der unter ihnen zuerst angegangene Leistungsträger vorläufig Leistungen erbringen mit der Folge, daß nach § 102 SGB X der zur Leistung verpflichtete Leistungsträger erstattungspflichtig ist. Die Voraussetzungen dieses Erstattungsanspruchs
hat das Berufungsgericht verneint, weil es den Kläger nicht für den zuerst angegangenen Leistungsträger gehalten hat. Das
verletzt Bundesrecht (§
137 Abs.
1 Nr.
1 VwGO).
Zu Unrecht stellt das Berufungsgericht allein darauf ab, bei wem die personensorgeberechtigte Mutter den Antrag auf Gewährung
Freiwilliger Erziehungshilfe für ihren Sohn gestellt hat. Dies wird weder den Besonderheiten des vom Berufungsgericht festgestellten
Sachverhalts noch den besonderen Strukturen des im vorliegenden Fall betroffenen Sozialleistungsbereichs der Jugendhilfe nach
dem hier noch anwendbaren Gesetz für Jugendwohlfahrt - JWG - in der Fassung der Bekanntmachung vom 25. April 1977 (BGBl. I
S. 633 ber. S. 795) gerecht.
Zuerst angegangen im Sinne des §
43 Abs.
1 Satz 1
SGB I ist der Leistungsträger, der von dem Berechtigten oder seinem Vertreter mündlich oder schriftlich zuerst mit dem Leistungsbegehren
befaßt wird. Das war nach den tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts der Kläger, an dessen Jugendamt sich die
personensorgeberechtigte Mutter des Michael S. am 3O. November 1984 fernmündlich mit dem Hilferuf wandte, sie »komme mit ihrem
Sohn nicht mehr klar«, ihre erzieherischen Möglichkeiten seien erschöpft. Damit war dem Jugendamt des Klägers der Hilfefall
unterbreitet und ein aktueller erzieherischer Bedarf angemeldet.
Welche erzieherischen Hilfen und Mittel des Staates ein erzieherischer Bedarf erfordert, läßt sich häufig erst nach eingehender
fachkundiger Prüfung durch einen Träger öffentlicher Jugendhilfe sagen. Dies gilt insbesondere für Fälle wie den Vorliegenden,
in denen der geltend gemachte aktuelle Erziehungsbedarf öffentliche Jugendhilfe außerhalb des Elternhauses in einer Familie
oder in einem Heim notwendig erscheinen läßt. Derartige Hilfen können sowohl in der rechtlichen Form der Hilfen zur Erziehung
(§§ 5 und 6 JWG) als auch im Rahmen der Freiwilligen Erziehungshilfe (§§ 62 f., 69 Abs. 1 und 3 JWG) gewährt werden (vgl.
§ 6 Abs. 2 und § 69 Abs. 3 Satz 1 JWG). Für Hilfen zur Erziehung ist das Jugendamt zuständig, während Freiwillige Erziehungshilfe
vom Landesjugendamt - wenn auch unter Beteiligung des Jugendamtes - ausgeführt wird (§§ 20 Abs. 1 Nr. 6, 69 Abs. 1 JWG). Die
Abgrenzung zwischen beiden Hilfearten erfolgt nach der Schwere und dem Ausmaß der Entwicklungsstörung des Minderjährigen und
nach dem dadurch veranlaßten Erziehungsbedarf (vgl. BVerwGE 77, 30 [33 f.]), ist aber im Einzelfall schwierig und von den Eltern des Minderjährigen oder sonstigen Personensorgeberechtigten,
wenn sie über keine spezifische Fachkunde verfügen, in der Regel nicht zu leisten. Der Personensorgeberechtigte wird sich
deshalb, wenn eine Erziehung des Minderjährigen außerhalb der Familie erforderlich erscheint, in aller Regel mit einem rechtlich
nicht näher spezifizierten Jugendhilfebegehren an das Jugendamt wenden und diesem die richtige Einordnung überlassen. Denn
das Jugendamt hat insoweit eine Doppelstellung. Es ist einerseits zuständig für die Gewährung von Hilfen nach § 6 JWG, andererseits
Antragsteller für die Gewährung von Freiwilliger Erziehungshilfe (§ 63 Satz 2 JWG). Ein vom Hilfesuchenden mit einem rechtlich
nicht spezifizierten Begehren auf Jugendhilfe außerhalb des Elternhauses angesprochenes Jugendamt hat deshalb in einem solchen
Fall in die Feststellung und Würdigung des erzieherischen Bedarfs einzutreten und zu prüfen, ob es ihm mit Hilfen zur Erziehung
in eigener Zuständigkeit abhelfen kann. Verneint es dies, wird es beim Hilfesuchenden die Stellung eines Antrags auf Gewährung
Freiwilliger Erziehungshilfe anregen und diesen mit einer Stellungnahme an das Landesjugendamt weiterleiten (vgl. § 63 Satz
3 JWG).
Tritt ein vom Hilfesuchenden zuerst angesprochenes Jugendamt in diese Prüfung ein, wird es nicht nur als Beratungs-, Annahme-
und Übermittlungsstelle für ein an das Landesjugendamt gerichtetes Leistungsbegehren tätig, sondern auch und zuerst in eigener
Zuständigkeit. Der an das Landesjugendamt gerichtete Antrag auf Freiwillige Erziehungshilfe stellt sich lediglich als rechtliche
Konsequenz der vorangegangenen Befassung des Jugendamtes mit dem Hilfefall und der durch sie gewonnenen Einsicht dar, daß
dem konkreten erzieherischen Bedarf mit den Mitteln des örtlichen Jugendhilfeträgers nicht abgeholfen werden kann. In Fällen
dieser Art ist deshalb der örtliche Träger der Jugendhilfe der zuerst angegangene Leistungsträger im Sinne des §
43 Abs.
1 Satz 1
SGB I.
Das trifft nach den tatsächlichen Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts und dem Inhalt des von diesem in Bezug genommenen
Verwaltungsvorgangs auch auf das hier zu beurteilende Jugendhilfebegehren zu. Michaels Mutter hatte sich an das Jugendamt
des Klägers am 30. November 1984 fernmündlich mit einem rechtlich noch nicht näher spezifizierten Begehren auf Jugendhilfe
außerhalb des Elternhauses gewandt. Das Jugendamt hat dieses Hilfebegehren ausweislich des Schreibens vom 23. Januar 1985,
mit dem es den Antrag der Mutter auf Gewährung Freiwilliger Erziehungshilfe der Bezirksregierung B. eingereicht hat, geprüft
und ist zu dem Ergebnis gekommen, daß Hilfen nach den §§ 5, 6 JWG nicht mehr ausreichten, vielmehr Freiwillige Erziehungshilfe
geboten war.
Die weiteren Voraussetzungen des §
43 Abs.
1 Satz 1
SGB I sind hier ebenfalls erfüllt. §
43 SGB I erfaßt auch Zuständigkeitskonflikte zwischen Leistungsträgern desselben Sozialleistungsbereichs, die auf Meinungsverschiedenheiten
über die sachliche Zuständigkeit des jeweils anderen Trägers im konkreten Fall beruhen und in diesem Sinne über alternative
Leistungspflichten geführt werden (vgl. BVerwGE 89, 81 [83 f.] sowie Beschluß vom 29. Oktober 1992 - BVerwG 5 B 87.92 - [Beschlußabdruck S. 3] für den Sozialleistungsbereich »Sozialhilfe«). §
43 SGB I will nicht nur die Nachteile für den Leistungsberechtigten abwenden, die aus der institutionellen Gliederung des Sozialleistungssystems
entstehen können (vgl. BVerwGE 66, 335 [341] und Beschluß vom 23. November 1988 - BVerwG 5 B 73.88 - [Buchholz 435.11 §
43 SGB I Nr. 1]), sondern auch verhindern, daß sich die sozialleistungsbereichsinterne Verteilung von Aufgaben auf verschiedene Leistungsträger
nachteilig auf die Verwirklichung der dem Bürger eingeräumten sozialen Rechte auswirkt. Der Senat ist deshalb davon ausgegangen,
daß §
43 SGB I bei (örtlichen) Zuständigkeitskonflikten zwischen Jugendämtern grundsätzlich zur Anwendung kommen kann (vgl. BVerwGE 74,
206 [216]). Für bereichsinterne Streitigkeiten über sachliche Zuständigkeiten gilt nichts anderes.
§
43 SGB I steht im systematischen und teleologischen Zusammenhang mit §
17 Abs.
1 Nr.
1 SGB I, der die Leistungsträger verpflichtet, darauf hinzuwirken, daß jeder Berechtigte die ihm zustehenden Sozialleistungen in
zeitgemäßer Weise, umfassend und schnell erhält. Beide Vorschriften sind Konkretisierungen des das Sozialgesetzbuch beherrschenden
Grundsatzes der Effektuierung der sozialen Rechte (vgl. §
2 Abs.
2 SGB I). Sie sollen sicherstellen, daß die sozialen Rechte möglichst weitgehend verwirklicht werden. Dem würde es widersprechen,
die Vorleistungsnorm des §
43 SGB I auf bereichsinterne Streitigkeiten über örtliche Zuständigkeiten zu beschränken. Denn das Schutzbedürfnis des Leistungsberechtigten
gegenüber Leistungsverweigerungen und Leistungsverzögerungen ist, wenn diese aus Streitigkeiten über sachliche Zuständigkeiten
herrühren, nicht kleiner. Dies gilt in besonderem Maße im Bereich der Jugendhilfe nach dem hier noch anwendbaren Gesetz über
Jugendwohlfahrt, in dem die Zuständigkeitsverteilung zwischen örtlichen und überörtlichen Trägern der Jugendhilfe eingebunden
war in ein System der abgestuften, vom Bedarf im Einzelfall abhängigen Hilfe (vgl. BT-Drucks. III/2226 S. 27 zu § 62 sowie
BVerwGE 77, 30 [33]), die Abstufung gerade aber an dem Punkt, an dem die Zuständigkeit für die erzieherische Hilfe vom Jugendamt (»normale«
Heimerziehung im Rahmen der Hilfe zur Erziehung [§ 6 Abs. 2 JWG]) auf das Landesjugendamt (Freiwillige Erziehungshilfe in
einem Heim [§ 69 Abs. 3 Satz 1 JWG]) überging, nur geringe Unterschiede aufwies (vgl. BVerwGE 77, 30 [33 ff.]). In derartigen Zuständigkeitsordnungen sind Kompetenzstreitigkeiten nicht selten. Das Bedürfnis des auf die Sozialleistung
Angewiesenen, vor den aus Zuständigkeitskonflikten resultierenden Nachteilen für die Verwirklichung seiner sozialen Rechte
in Schutz genommen zu werden, ist demgemäß besonders groß. Das gilt um so mehr, als die Kompetenzkonflikte in dem hier in
Rede stehenden Sozialleistungsbereich auf einer relativ hohen (Bedarfs-)Stufe öffentlicher Jugendhilfe ausgelöst wurden, mithin
in Situationen, in denen der Jugendliche einen besonders nachhaltigen und dringlichen erzieherischen Bedarf hat und Verweigerungen
oder auch nur Verzögerungen öffentlicher Erziehungshilfe schweren und häufig irreparablen Schaden anrichten können.
Gerade bei Zuständigkeitsstreitigkeiten zwischen Jugendamt und Landesjugendamt besteht demnach ein besonderes Bedürfnis, dem
Berechtigten durch Einräumung eines Vorleistungsanspruchs nach §
43 Abs.
1 Satz 2
SGB I ein Mittel an die Hand zu geben, um seinen Anspruch auf öffentliche Jugendhilfe unkompliziert, schnell und damit bedarfsgerecht
durchsetzen zu können. Diesem besonderen Schutzbedürfnis wird auch weder durch § 105 SGB X noch durch die §§ 11 Satz 2, 83 JWG in Verbindung mit § 103 BSHG Rechnung getragen. Denn § 105 SGB X gewährt dem Jugendhilfeberechtigten keinen Anspruch auf (Vor-)Leistung durch den unzuständigen Leistungsträger, und § 11
Satz 2 JWG beschränkt die Zuständigkeit des Jugendamtes auf vorläufige Maßnahmen, gilt also nicht für Hilfeleistungen, die
- wie die Heimunterbringung des Michael S. - von Anfang an auf Dauer angelegt sind (vgl. BVerwGE 74, 206 [216]).
Dem kann nicht entgegengehalten werden, §
43 SGB I diene nicht dazu, materiellrechtliche Streitigkeiten über das Vorliegen des geltend gemachten Sozialleistungsanspruchs auszutragen,
indem der Vorleistende einem anderen Träger, der sich ausdrücklich zu seiner Regelungszuständigkeit bekenne, seine Auffassung
von der Anwendung des materiellen Rechts aufzwingen könne. §
43 SGB I setzt tatbestandlich voraus, daß ein Anspruch auf Sozialleistungen besteht und zwischen mehreren Leistungsträgern streitig
ist, wer zur Leistung verpflichtet ist. Diese Voraussetzungen sind auch erfüllt, wenn über das Bestehen eines Anspruchs auf
öffentliche Jugendhilfe an sich kein Streit besteht, sondern nur über die Intensität des erzieherischen Bedarfs und die davon
abhängige konkrete rechtliche Einkleidung des Anspruchs. Ist hiervon die sachliche Zuständigkeit des einen oder des anderen
Sozialleistungsträgers abhängig, die Intensität des erzieherischen Bedarfs aber in Streit, dann wird nicht nur über das materiellrechtliche
Bestehen des Anspruchs gestritten, sondern notwendigerweise auch über die Zuständigkeit des einen oder des anderen Leistungsträgers.
Der überörtliche Träger der Jugendhilfe, der die Erforderlichkeit Freiwilliger Erziehungshilfe bestreitet, bekennt sich deshalb
auch nicht ausdrücklich zu seiner Regelungszuständigkeit, sondern leugnet sie gerade und behauptet die sachliche Zuständigkeit
des anderen Trägers. Derartige Streitigkeiten durch Vorleistung des zuerst angegangenen Leistungsträgers zu überbrücken, entspricht
gerade dem Sinn des §
43 SGB I. Denn auch hier kommt der Hilfebedürftige in die aus der Sicht des Sozialgesetzbuches unzumutbare Situation, trotz bestehenden
Anspruchs keinen Leistungsträger zu finden, der diesen Anspruch schnell, zeit- und bedarfsgerecht erfüllt. Leistet der örtliche
Träger der Jugendhilfe, gestützt auf §
43 SGB I, tatsächlich Freiwillige Erziehungshilfe für den an sich sachlich zuständigen überörtlichen Jugendhilfeträger vor, kann nach
alledem sein Handeln auch nicht als offensichtlich rechtswidrig bezeichnet und ein Erstattungsanspruch unter diesem Gesichtspunkt
in Frage gestellt werden. Denn derartiges zuständigkeitsüberschreitendes Handeln des zuerst angegangenen Leistungsträgers
ist gerade durch §
43 SGB I legitimiert. Insoweit gilt für die Vorleistungsnorm des §
43 SGB I nichts anderes als für § 28 Abs. 5 SchwbG F. 1979 (= § 31 Abs. 5 SchwbG F. 1986), den der Senat in seinem Urteil vom 12. September 1991 - BVerwG 5 C 52.88 - (BVerwGE 89, 39 [42 ff.]) in ähnlicher Weise ausgelegt hat. Im übrigen ist darauf hinzuweisen, daß das Sozialgesetzbuch die Erstattung nach
Vorleistung davon abhängig macht, daß der endgültig zur Leistung verpflichtete Leistungsträger zu Unrecht seine Leistungspflicht
geleugnet hat. Der Vorwurf rechtswidrigen Handelns trifft deshalb nicht den vorleistenden, sondern allenfalls den erstattungspflichtigen
Leistungsträger.
Soweit sich die Revision in den soeben erörterten Zusammenhängen auf das Urteil des Senats vom 5. August 1982 - BVerwG 5 C 102.81 - (Buchholz 436.51 § 62 JWG Nr. 1 = FEVS Bd. 32, 133 [137 f.]) beruft, berücksichtigt sie nicht genügend, daß diese Entscheidung
keinen Erstattungsanspruch aus vorläufiger Leistung nach §
43 Abs.
1 SGB I behandelt (dieser schied nach den Urteilsgründen vielmehr »offensichtlich« aus), sondern einen als Ausgleichs- bzw. »Abwälzungsanspruch«
bezeichneten Erstattungsanspruch, der zwischen öffentlichen Leistungsträgern entstehe, wenn ein Nichtverpflichteter anstelle
des eigentlich Verpflichteten geleistet habe. Derartige Ansprüche haben mit Wirkung vom 1. Juli 1983 (Art. II § 25 Abs. 1
des Gesetzes vom 4. November 1982 [BGBl. I S. 1450] eine umfassende Kodifizierung in den §§ 103 ff. SGB X gefunden (vgl. BVerwGE 87, 31 [33 ff.]). Inwieweit die in der Entscheidung des Senats vom 5. August 1982 dargelegten Grundsätze für diese Erstattungsregelungen
noch Gültigkeit haben, bedarf im vorliegenden Fall, der allein die §§
43 SGB I, 102 SGB X betrifft, keiner Entscheidung.
Bleibt es nach alledem dabei, daß §
43 SGB I unter der Geltung des Jugendwohlfahrtsgesetzes bei sachlichen Zuständigkeitskonflikten zwischen Jugendamt und Landesjugendamt
anwendbar war, so ergeben sich auch sonst gegen den Erstattungsanspruch des Klägers dem Grunde nach keine Bedenken. Nachdem
auch der Beklagte seine Zuständigkeit als Landesjugendamt für die begehrte Erziehungshilfe verneint hatte, war zwischen dem
örtlichen und dem überörtlichen Träger der Jugendhilfe streitig, wer von ihnen zur Gewährung erzieherischer Hilfe verpflichtet
war. Des weiteren hat das Verwaltungsgericht - unter zutreffender Anwendung der vom Bundesverwaltungsgericht herausgearbeiteten
Abgrenzungskriterien zwischen Freiwilliger Erziehungshilfe und anderen Arten öffentlicher Jugendhilfe (vgl. BVerwGE 77, 30 [32 ff.]) - festgestellt, daß Michael S. die Gewährung Freiwilliger Erziehungshilfe vom Beklagten nach § 62 JWG verlangen
konnte und diese Form der Hilfe vom Kläger im Jugendheim »Am Blauen Stein« auch tatsächlich erhalten hat. Das Berufungsgericht
hat sich diese tatsächlichen Feststellungen und Würdigungen des Verwaltungsgerichts zu eigen gemacht. Der Beklagte hat hiergegen
keine Revisionsrügen vorgebracht, so daß das Revisionsgericht hieran gemäß §
137 Abs.
2 VwGO gebunden ist. Hat demnach das Jugendamt des Klägers aufgrund des §
43 Abs.
1 Satz 1
SGB I für das Landesjugendamt des Beklagten vorläufig Freiwillige Erziehungshilfe gewährt, dann ist der Beklagte nach § 102 Abs. 1 SGB X dem Grunde nach erstattungspflichtig. Daß Bestandskraft, Tatbestands- und Bindungswirkung ablehnender Bescheide des erstattungspflichtigen
Leistungsträgers Erstattungsansprüchen des aufgrund gesetzlicher Vorschriften vorleistenden Leistungsträgers nicht entgegengehalten
werden können, hat der Senat bereits in seinem Urteil vom 12. September 1991 - BVerwG 5 C 52.88 - (BVerwGE 89, 39 [45 f.]) eingehend dargelegt. Die dort angeführten Gründe zu vertiefen, gibt der Vortrag der Revision keinen Anlaß. Auch
die in §
43 Abs.
1 Satz 1
SGB I normierte Vorleistungsbefugnis bei Kompetenzkonflikten schließt es aus, dem ablehnenden Bescheid eines an diesem Kompetenzkonflikt
beteiligten Leistungsträgers eine für den Erstattungsanspruch des Vorleistenden vorgreifliche Verbindlichkeit beizumessen.
Insoweit gilt hier nichts anderes, als was der Senat in seinem Urteil vom 12. September 199 1 (aaO. S. 46 f.) zu den Vorleistungsnormen
des § 28 Abs. 5 Satz 1 SchwbG F. 1979 und § 6 Abs. 2 RehaAnglG ausgeführt hat.
Im Ergebnis zu Recht hat das Berufungsgericht die Erstattungspflicht des Beklagten dem Grunde nach auch für die nach dem 9.
August 1987 - dem Zeitpunkt des achtzehnten Geburtstages von Michael S. - gewährte Hilfe bejaht. Die Fortsetzung öffentlicher
Jugendhilfe über den Zeitpunkt des Eintritts der Volljährigkeit hinaus (§ 6 Abs. 3, § 75 a JWG) betrifft nur den (zeitlichen)
Umfang des Erstattungsanspruchs. Dieser aber richtet sich gemäß § 102 Abs. 2 SGB X ohnehin nach den für den vorleistenden Leistungsträger geltenden Rechtsvorschriften. Aus der Tatsache allein, daß das Jugendamt
des Klägers gegenüber dem Hilfeempfänger als Rechtsgrundlage der Weitergewährung der Erziehungshilfe § 6 Abs. 3 JWG zitiert
hat, kann deshalb nicht geschlossen werden, das Jugendamt des Klägers habe damit eine Entscheidung in eigener Zuständigkeit
und zu eigenen Lasten treffen wollen. Dies gilt um so mehr, als das Jugendwohlfahrtsgesetz die Fortsetzung öffentlicher Jugendhilfe
über den Zeitpunkt des Eintritts der Volljährigkeit hinaus für alle Hilfen zur Erziehung, unabhängig davon, wer für ihre Durchführung
Verantwortung trägt, inhaltlich nach einheitlichen Grundsätzen geregelt hat. Auch ansonsten sind keine Anhaltspunkte erkennbar,
die dafür sprechen könnten, der Kläger habe die Fortsetzung der Erziehungshilfe für Michael S. über den 9. August 1987 hinaus
aus eigener Kompetenz gewähren wollen. Aus den vom Berufungsgericht wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes
in Bezug genommenen Verwaltungsvorgängen ergibt sich vielmehr, daß der Kläger mit Schreiben vom 12. August 1987, also wenige
Tage, nachdem Michael S. volljährig geworden ist, vom Beklagten die Erstattung der entstandenen und noch entstehenden Jugendhilfeaufwendungen
begehrt hat, weil Michael zu dem Personenkreis gehört habe und gehöre, dem Freiwillige Erziehungshilfe zu gewähren sei.
Das Berufungsgericht hat demnach im Ergebnis zu Recht den Beklagten dem Grunde nach für verpflichtet gehalten, dem Kläger
die für Michael S. in der Zeit von 31. Mai 1985 bis zum 1. Dezember 1988 erbrachten Leistungen zu erstatten. Die Revision
des Beklagten war deshalb zurückzuweisen. Mit Rücksicht hierauf waren dem Beklagten die Kosten der erfolglosen Revision aufzuerlegen;
§
154 Abs.
2 VwGO erfaßt auch das erfolglose Rechtsmittel gegen ein Grund- oder ein Teilurteil, die als solche grundsätzlich nicht mit einer
Kostenentscheidung versehen werden (vgl. BVerwGE 36, 16 [21]; vgl. auch BGHZ 110, 196 [205]; BFHE 143, 223 [226]). Die Gerichtskostenfreiheit folgt aus §
188 Satz 2
VwGO, der auch für Erstattungsstreitigkeiten zwischen Rechtsträgern der öffentlichen Hand gilt (BVerwGE 47, 233 [238]).