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BVerwG, Urteil vom 16.01.1986 - 5 C 72.84, FEVS 35, 271
a-d. Form und Höhe der Hilfe zum Lebensunterhalt:
(a) Entscheidung über die Form der Hilfegewährung Ä Geld oder Sachleistung Ä nach pflichtgemäßem Ermessen der Behörde;
(b-c) Abweichen vom Ä grundsätzlich berechtigten Ä Wunsch des Hilfeempfängers auf Gewährung der Hilfe in Form von Geld
(b) nur aufgrund besonderer Umstände des Einzelfalls;
(c) nicht allein mit der generellen Begründung, der Hilfeempfänger sei alkoholabhängig und nicht seßhaft;
(d) mögliches Abweichen vom Regelsatz im Falle geringeren Bedarfs infolge Obdachlosigkeit.
Fundstellen: BVerwGE 72, 354, DRsp V(545)97a-d, DÖV 1986, 568, FEVS 35, 271, NVwZ 1986, 380
Normenkette:
BSHG § 3 Abs.1, Abs.2, § 4 Abs.2, § 22 Abs.1
(a) »... Aus § 22 Abs. 1 BSHG läßt sich keine »Vorentscheidung« des Gesetzgebers des Inhalts entnehmen, die Hilfe zum Lebensunterhalt sei regelmäßig als Geldleistung zu gewähren. ... Der Umstand, daß die Regelsätze in Geldbeträgen ausgewiesen werden, steht dem nicht entgegen. Die festgesetzten Beträge sind das Ergebnis einer Bewertung der für die Bestreitung des notwendigen Lebensunterhalts erforderlichen Waren und Dienstleistungen, wie sie im wesentlichen in § 12 Abs. 1 BSHG und in § 1 Abs. 1 der RegelsatzVO umschrieben sind (Warenkorb). Gerade dieser Ursprung der in Geld ausgedrückten Regelsätze macht Ä wenn nötig Ä die Sachleistung möglich. ... Gibt es einerseits die.. »Vorentscheidung« des Gesetzgebers zugunsten der Geldleistung nicht, so ist andererseits die Befürchtung des Kl. unbegründet, ohne eine solche »Vorentscheidung« könnte der Träger der Sozialhilfe nach Belieben darüber befinden, in welcher Form er die Hilfe zum Lebensunterhalt gewähren will. Das dem Träger der Sozialhilfe in § 4 Abs. 2 BSHG eingeräumte Ermessen ist nicht frei; es ist vielmehr ein pflichtmäßiges. Das besagt, daß der Träger der Sozialhilfe bei seiner Entscheidung, in welcher Form er die Hilfe zum Lebensunterhalt gewährt, alle geschriebenen und ungeschriebenen Grundsätze beachten muß, die sich aus dem BSHG, dem SGB Ä AT Ä und ggf. [aus der Verfassung], insbesondere aus Art. 3 Abs. 1 GG ergeben .. .
(b-c) Nach § 3 Abs. 1 und 2 BSHG richtet sich auch die Form der Hilfe nach den Besonderheiten des Einzelfalles, vor allem nach der Person des Hilfeempfängers, der Art seines Bedarfs und den örtlichen Verhältnissen; [den] Wünschen des Hilfeempfängers, die sich auf die Gestaltung der Hilfe richten, soll entsprochen werden, soweit sie angemessen sind und keine unvertretbaren Mehrkosten erfordern (vgl. auch § 33 SGB I). Nach § 1 Abs. 2 Satz 1 BSHG soll dem Empfänger der Hilfe ermöglicht werden, ein Leben zu führen, das der Würde des Menschen entspricht. Dazu gehört, daß dem erwachsenen Menschen die Möglichkeit gelassen wird, im Rahmen der ihm nach dem Gesetz zustehenden Mittel seine Bedarfsdeckung frei zu gestalten .. . All dem wird die Bekl. gerecht, wenn sie wie andere Träger der Sozialhilfe die laufende Hilfe zum Lebensunterhalt in der ganz überwiegenden Mehrzahl der Fälle tatsächlich in Geld gewährt, das dem Hilfeempfänger im ganzen ausgezahlt wird.
Aufgrund aller dieser Überlegungen hat der Kl. wie andere Empfänger von Hilfe zum Lebensunterhalt grundsätzlich einen Anspruch darauf, daß ihm die laufende Hilfe zum Lebensunterhalt in Form von Geld gewährt wird; das ist sein ausdrücklicher Wunsch, ohne daß hierdurch unvertretbare Mehrkosten entstehen.
Will die Bekl. die Form der Hilfegewährung gegenüber dem Kl. abweichend von diesem Grundsatz regeln, so müssen besondere Umstände vorliegen, die geeignet sind, zum Zwecke der Erfüllung der Aufgabe der Sozialhilfe im Einzelfall die Abweichung zu rechtfertigen. Von daher ist es von vornherein nicht zulässig, die Sachleistung als Mittel zu dem Zweck einzusetzen, [wegen des verstärkten Zuzugs Nichtseßhafter diese] ganze Gruppe von Hilfesuchenden von der Geltendmachung eines Hilfeanspruchs gegenüber einem bestimmten Träger der Sozialhilfe abzuschrecken ... Die überwiegende Sachleistung läßt sich ferner nicht allein mit der Begründung rechtfertigen, der Kl. sei alkoholabhängig und nichtseßhaft; und die Kombination von Biwak und Geldleistung sei bei einem Alkoholiker keine sinnvolle und sachgerechte Hilfe... Auch dieser Begründung liegt eine abstrakte, gruppenspezifisch Betrachtung zugrunde, ohne daß die Umstände des Einzelfalles geprüft sind. Es kann nicht darum gehen, ob die ausnahmslose Geldleistung eine geeignete Maßnahme ist, oder darum, ob die teilweise Sachleistung schadet. Vielmehr kommt es vor dem Hintergrund der oben dargestellten Erwägungen grundsätzlicher Art darauf an, ob die teilweise Sachleistung Ä eben die von der Bekl. ergriffene Maßnahme Ä geeignet ist, den in der Person des Kl. bestehenden Defiziten, die seine Hilfebedürftigkeit bedingen Ä Alkoholabusus und Nichtseßhaftigkeit Ä, mit einiger Aussicht auf Erfolg zu begegnen.
Zu dieser Fragestellung hat der VGH zutreffend bemerkt: Alkoholismus als krankhaftes Geschehen könne nur durch zusammenwirkende ärztliche, psychologische und soziale Hilfen therapiert werden; und da der Kl. außerdem ein Nichtseßhafter sei, bedürfe es eines an § 72 BSHG ausgerichteten Gesamtkonzepts. Von daher erscheine die bloße Sachleistung statt der Geldleistung von vornherein als eine unzureichende und damit ungeeignete Maßnahme, den genannten Defiziten entgegenzuwirken. ...
(d) Die Höhe der dem Kl. dem Grunde nach uneingeschränkt in Geld zu gewährenden laufenden Leistung zum Lebensunterhalt richtet sich nach den Regelsätzen. Angesichts dessen, daß dies in § 22 Abs. 1 Satz 1 BSHG eindeutig ausnahmslos bestimmt ist, ist nicht problematisch, daß die RegelsatzVO auch für die Bemessung der Hilfe zum Lebensunterhalt für einen Obdachlosen anzuwenden sind. Im Regelsatz ist der in einem Warenkorb zusammengefaßte, den notwendigen Lebensunterhalt ausmachende Bedarf an Waren und Dienstleistungen des täglichen Lebens in Geld ausgedrückt. Auch ein Obdachloser hat diesen Bedarf in vielerlei Hinsicht, auf jeden Fall den in der Bedarfsgruppe »Ernährung« und mindestens teilweise den Bedarf in den Bedarfsgruppen »Körperpflege und Reinigung«, »persönliche Bedürfnisse des täglichen Lebens«, und »Instandhaltung von Schuhen, Kleidung und Wäsche«. Dagegen wird hinsichtlich [anderer Bedarfsgruppen] ein Bedarf nicht bestehen. Soweit hieran und an den in der RegelsatzVO verwendeten Begriffen gemessen, Obdachlosigkeit eine Besonderheit im Einzelfall ist, bietet Satz 2 des § 22 Abs. 1 BSHG eine Rechtsgrundlage für eine etwa notwendige Korrektur. Diese ist nach oben oder nach unten vorzunehmen, je nach dem, ob man vom Regelsatz für einen sonstigen Haushaltsangehörigen oder von demjenigen für einen Haushaltsvorstand ausgeht. ...«