Kriegsopferfürsorge, Erstattungsstreit zwischen dem Träger der Sozialhilfe und dem Träger der Kriegsopferfürsorge
Gründe:
I. Der Kläger, ein überörtlicher Träger der Sozialhilfe, begehrt die Feststellung, daß der beklagte Freistaat als Träger der
Kriegsopferfürsorge verpflichtet ist, ab dem 1. Januar 1989 dem Versorgungsberechtigten Karl-Heinz S. Leistungen der Kriegsopferfürsorge
für die 1958 und 1962 geborenen Töchter Hannelore und Christa zu gewähren. Die Töchter sind geistig behindert und erhielten
vom Kläger Eingliederungshilfe nach den §§ 39 ff. BSHG in einer Werkstatt für Behinderte.
Der Kläger ist der Auffassung, daß mit dem Inkrafttreten der Neufassung des § 25 Abs. 4 Satz 1 BVG durch das Kriegsopferversorgungsanpassungsgesetz 1988 der Beklagte als Träger der Kriegsopferfürsorge für diese Kosten aufzukommen
habe, weil seitdem der Vater Karl-Heinz S. als Versorgungsberechtigter nach dem Bundesversorgungsgesetz Anspruch auf Leistungen der Kriegsopferfürsorge auch für seine behinderten Töchter habe. Mit Bescheiden vom 6. Juni 1989
übernahm daraufhin der Beklagte gegenüber dem Beschädigten die Kosten für die Unterbringung seiner Töchter in den B. Heimen
mit Wirkung ab Januar 1989 gemäß § 27 d Abs. 1 Nr. 6 BVG bis auf weiteres. Mit Bescheiden vom 14. August 1989 hob der Beklagte diese Bewilligung mit Ablauf des 31. August 1989 auf:
Nach Auffassung des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung (RdSchr. vom 31. Mai 1989), der er sich anschließe, werde
ein langfristig in einem Heim wohnender behinderter Erwachsener von seinen Eltern nicht überwiegend unterhalten i.S. des §
25 Abs. 4 Satz 2 BVG, da davon auszugehen sei, daß auch ohne die Kriegsbeschädigung eines Elternteils der Grundlebensbedarf nicht vom Geschädigten,
sondern über die Sozialhilfe sichergestellt worden wäre.
Der Kläger übernahm mit Bescheiden vom 4. Oktober 1989 wieder die Kosten der Eingliederungshilfe in der Werkstatt für Behinderte
in B. vorleistend ab dem 1. September 1989 bis auf weiteres und meldete beim Beklagten Anspruch auf Erstattung nach § 102 SGB X an. Der Beklagte wies dies mit Schreiben vom 6. Dezember 1993 zurück. Auf die daraufhin erhobene Klage hat das Verwaltungsgericht
festgestellt, daß der Beklagte ab dem 1. Januar 1989 Leistungen der Kriegsopferfürsorge für die Töchter Hannelore und Christa
des Herrn Karl-Heinz S. zu gewähren hat. Der Verwaltungsgerichtshof hat die Berufung des Beklagten zurückgewiesen.
Zur Begründung hat er im wesentlichen ausgeführt: Die zulässige Feststellungsklage sei begründet, weil Karl-Heinz S. mit Rücksicht
auf seine Töchter Hannelore und Christa einen Anspruch auf Leistungen der Kriegsopferfürsorge nach 25 b Abs. 1 Satz 1 Nr.
10, § 27 d Abs. 1 Nr. 6 i.V.m. 25 Abs. 4 BVG gegen den Beklagten als vorrangig verpflichteten Leistungsträger habe, nachdem der Vorrang der Sozialhilfe durch Art. 2 Nr.
2 KOVAnpG 1988 beseitigt worden sei. Beschädigte erhielten nunmehr Leistungen der Kriegsopferfürsorge auch für ihre Familienmitglieder.
Kinder zählten zu diesem Kreis auch nach Vollendung des 18. Lebensjahres, wenn - wie im vorliegenden Fall - die Vo raussetzungen
des § 25 Abs. 4 Satz 3 BVG i.V.m. § 33 b Abs. 4 Satz 2 Buchst. c BVG vorgelegen hätten und der Beschädigte ihren Lebensunterhalt ohne die Beschädigung wahrscheinlich überwiegend bestreiten würde.
Das sei der Fall. § 25 Abs. 4 BVG meine mit dem "Lebensunterhalt" nur den normalen Lebensbedarf, nicht einen behinderungsbedingten Sonderbedarf. Diesen normalen
Lebensbedarf seiner Töchter hätte Karl-Heinz S. ohne die Schädigung wahrscheinlich bestreiten können. Dies werde nicht dadurch
in Frage gestellt, daß Karl-Heinz S. bei Gewährung von Sozialhilfe nach § 91 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 2 BSHG a.F. bzw. § 91 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 BSHG n.F. nicht mit einer Inanspruchnahme zu Unterhaltsleistungen für seine Töchter zu rechnen brauchte. Denn die Härteklausel
des § 91 BSHG stehe in keinem sachlichen Zusammenhang mit dem Kausalitätserfordernis des § 25 Abs. 4 Satz 2 BVG und habe auf die Beurteilung der Ursächlichkeit der Schädigung schlechthin keine Auswirkung. Das Kausalitätserfordernis diene
dem Ziel, den Ausgleich der Folgen der Beschädigung angemessen zu regeln. Die Härteklausel dagegen solle die Inanspruchnahme
unterhaltspflichtiger Eltern durch den Sozialhilfeträger verhindern, nicht aber sachlich der Kriegsopferfürsorge zuzurechnende
Vorgänge der Sozialhilfe zuordnen. Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision des Beklagten, mit der dieser seinen Klagabweisungsantrag
weiterverfolgt. Er rügt Verletzung des § 25 Abs. 4 BVG.
Der Kläger verteidigt das angefochtene Urteil. Die Beteiligten haben übereinstimmend auf mündliche Verhandlung verzichtet.
II. Die Revision des Beklagten.
Über die das Bundesverwaltungsgericht gemäß § 141 Satz 1 i.V.m. §
125 Abs.
1 Satz 1 und §
101 Abs.
2 VwGO ohne mündliche Verhandlung entscheiden kann, ist unbegründet, so daß sie zurückzuweisen ist (§
144 Abs.
2 VwGO). Die Ansicht des Berufungsgerichts, Träger der Kriegsopferfürsorge seien zu Leistungen der Kriegsopferfürsorge an Familienmitglieder
eines Beschädigten auch dann verpflichtet, wenn der Beschädigte als Unterhaltspflichtiger mit einer Heranziehung wegen der
Härteklausel des § 91 BSHG nicht rechnen müsse, verletzt Bundesrecht (§
137 Abs.
1 Nr.
1 VwGO) nicht.
Zu Recht hat das Berufungsgericht angenommen, daß der Beklagte als Träger der Kriegsopferfürsorge für die dem Beschädigten
mit Rücksicht auf seine Töchter zu leistende Hilfe ab dem 1. Januar 1989 vorrangig verpflichtet ist. Nach § 25 Abs. 2 BVG ist es Aufgabe der Kriegsopferfürsorge, sich der Beschädigten und ihrer Familienmitglieder in allen Lebenslagen anzunehmen,
um die Folgen der Schädigung oder des Verlustes des Ehegatten, Elternteils, Kindes oder Enkelkindes angemessen auszugleichen
oder zu mildern. Dementsprechend haben Beschädigte nach § 25 Abs. 4 Satz 1 BVG grundsätzlich Anspruch auf Leistungen der Kriegsopferfürsorge auch für Familienmitglieder. Bis zum 1. Januar 1989, dem Inkrafttreten
des Art. 2 Nr. 2 des Gesetzes über die siebzehnte Anpassung der Leistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz (KOV-Anpassungsgesetz 1988 - KOVAnpG 1988) vom 21. Juni 1988 (BGBl I S. 826), war dieser Anspruch bei behinderten Familienmitgliedern auf nichtbehinderungsbedingte Leistungen beschränkt, weil dem Anspruch
auf Leistungen für Familienmitglieder der Vorbehalt beigefügt war, "soweit diese... nicht wegen Tuberkulose oder Behinderung
Anspruch auf Leistungen nach anderen Öffentlich-rechtlichen Vorschriften haben".
Durch Art. 2 Nr. 2 KOVAnpG 1988 ist dieser relative (vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 13. August 1992 BVerwG 5 C 47.87 - (Buchholz 436.7 § 25 BVG Nr. 4 = DVBl. 1992, 1602)) - Nachrang der Leistungen der Kriegsopferfürsorge für Familienmitglieder ersatzlos gestrichen worden. Der erkennende Senat
hat dies in seinem vorgenannten Urteil vom 13. August 1992 dahin verstanden, daß hiermit der entschädigungsrechtlich begründete
Vorrang der Kriegsopferfürsorge verwirklicht werden sollte. Diese strukturelle Änderung des Bundesversorgungsgesetzes ist
auf Vorschlag des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung in das KOV-Anpassungsgesetz 1988 aufgenommen und damit begründet
worden, daß die in § 25 Abs. 4 Satz 1 BVG F. 1982 enthaltene Verweisung auf die Eingliederungshilfe und Hilfe zur Pflege der Sozialhilfe eine "teilweise Ausgrenzung
behinderter Familienmitglieder" bedeute, die dem entschädigungsrechtlich begründeten Vorrang der Kriegsopferfürsorge widerspreche
und dazu führe, daß bei Leistungen für behinderte Familienmitglieder - je nach Art der Hilfe - unterschiedliche Behörden zuständig
seien (Bericht des 11. Ausschusses, BTDrucks II/2315, S. 12 zu Art. 1 a Nr. 2). Der damit begründete Vorrang des Anspruchs
auf Kriegsopferfürsorgeleistungen auch für behinderte Familienmitglieder war ausweislich der zitierten Begründung umfassend
gemeint. Die dem § 25 Abs. 4 Satz 2 BVG beigegebene Beschränkung des entschädigungsrechtlichen Kreises der Familienmitglieder auf solche, deren Lebensunterhalt der
Beschädigte Überwiegend bestreitet, vor der Schädigung bestritten hat oder ohne die Schädigung wahrscheinlich bestreiten würde,
kann deshalb nicht so interpretiert werden, daß ein großer Teil der behinderten Familienmitglieder über Satz 2 wieder auf
den Vorrang der Sozialhilfe verwiesen und damit gerade der Kreis der am stärksten behinderten Familienmitglieder wieder der
Ausgrenzung überantwortet würde, die mit der Strukturänderung gerade vermieden werden sollte.
Zu Recht hat deshalb das Berufungsgericht - in Übereinstimmung mit dem Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung (vgl. RdSchr.
vom 31. Mai 1989 (BArbBl. 1989 S. 120) und das dort in Bezug genommene Auslegungsschreiben an das Bayerische Staatsministerium
für Arbeit und Sozialordnung vom 9. November 1988 - VI a 2 - 52 600 und Teilabschnitt 2.4.3.1 der Empfehlungen zur Kriegsopferfürsorge
(Verf.: Gemeinsame Arbeitsgruppe der Länderreferenten und der Arbeitsgemeinschaft der Deutschen Hauptfürsorgestellen unter
Mitwirkung des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung und des Bundesrechnungshofs) - den in § 25 Abs. 4 Satz 2 BVG enthaltenen Begriff des "Lebensunterhalts" als den durch die Höhe des jeweiligen Familieneinkommens bestimmten Grundlebensbedarf
des Familienmitglieds unter Ausschluß des behinderungsbedingten Sonderbedarfs, wie er bei behinderten Familienmitgliedern
in aller Regel besteht, verstanden und für die Berechtigung dieser Auslegung auch auf die Entstehungsgeschichte der Vorschrift
hingewiesen, die in ihrer bis zum 10. KOV-Anpassungsgesetz geltenden Fassung Kriegsopferfürsorgeleistungen an Familienmitglieder
davon abhängig machte, daß der Beschädigte ihr "Ernährer" gewesen ist oder ohne die Schädigung geworden wäre, mithin ihren
Grundlebensbedarf Überwiegend getragen hat oder getragen hätte. Daß der Beschädigte diesen Grundlebensbedarf seiner Töchter
ohne seine Schädigung zumindest überwiegend hätte bestreiten können, hat das Berufungsgericht festgestellt, ohne daß der Beklagte
hiergegen Revisionsgründe vorgebracht hätte. Das Bundesverwaltungsgericht ist deshalb hieran gebunden (§
137 Abs.
2 VwGO).
Zu Recht hat das Berufungsgericht auf dieser tatsächlichen Grundlage entschieden, daß die damit begründete entschädigungsrechtliche
Kausalität und der hieraus folgende entschädigungsrechtliche Vorrang der Kriegsopferfürsorge nicht durch die sozialhilferechtliche
Härteklausel des § 91 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 (inhaltsgleich § 91 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 2 a.F.) BSHG i.d.F. des Art, 7 Nr. 19 des Gesetzes zur Umsetzung des Föderalen Konsolidierungsprogramms - FKPG - vom 23. Juni 1993 (BGBl I S. 944) in Frage gestellt wird. Zwar ist dem Beklagten und dem Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung (RdSchr. vom 31. Mai
1989 (aaO.)) zuzugeben, daß die Lebenswirklichkeit behinderter Erwachsener, die nach Vollendung des 21. Lebensjahres im Rahmen
der sozialhilferechtlichen Eingliederungshilfe stationär betreut werden, dadurch geprägt wird, daß auch für ihren allgemeinen,
nicht behinderungsbedingten Lebensbedarf, der von der Eingliederungshilfe mitumfaßt wird (§ 27 Abs. 3 BSHG), wegen § 91 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 BSHG in aller Regel die Sozialhilfe und nicht ihre unterhaltspflichtigen Eltern aufkommen (vgl. hierzu und zu den gesetzgeberischen
Gründen BVerwGE 56, 220 (223 f.); 92, 330 (333 f.); 98, 106 (109 f.)). Das beruht aber auf einer allein das System der Sozialhilfe betreffenden Billigkeitsentscheidung
des Gesetzgebers, der dieser keine systemübergreifende Bedeutung beigemessen hat und die deshalb nicht dazu dient, die Kriegsopferfürsorge
als einen gegenüber der Sozialhilfe vorrangigen Leistungsträger von seinen Verpflichtungen freizustellen (so zu Recht Teilabschnitt
2.4.3.2 der Empfehlungen zur Kriegsopferfürsorge). Denn anderenfalls hätte der Gesetzgeber sein bei der strukturellen Änderung
der Kriegsopferfürsorge durch das KOV-Anpassungsgesetz 1988 ausdrücklich erklärtes Ziel, auch für die Hilfe zur Pflege und
die Eingliederungshilfe den umfassenden Vorrang der Kriegsopferfürsorge vor der Sozialhilfe und damit eine umfassende Systemsubsidiarität
der Sozialhilfe herzustellen, in weitem Umfang nicht erreichen können. Bestätigt wird dies durch das nachträgliche Verhalten
des Gesetzgebers. Denn nachdem er bemerkt hatte, daß die Leistungen der Kriegsopferfürsorge wegen ihrer Abhängigkeit vom Einkommen
des Beschädigten im Einzelfall hinter den bis Ende 1988 erbrachten Leistungen der Sozialhilfe zurückbleiben konnten und eine
Aufstockung aus Sozialhilfemitteln erforderten, wenn die Strukturreform nicht zum Nachteil behinderter Familienmitglieder
ausschlagen sollte (BTDrucks II/6760 S. 11 f. zu Nr. 5 (§ 25 Abs. 4)), hat er durch Art. 1 Nrn. 11 b und 12 des KOV-Anpassungsgesetzes
1990 - KOVAnpG 1990 - (BGBl I S. 1211) seine Strukturreform rückwirkend auf den 1. Januar 1989 (Art. 13 Abs. 2 KOVAnpG 1990) komplettiert und angeordnet, daß bei
der Hilfe zur Pflege wie bei der Eingliederungshilfe für ein Kind, das sein 21. Lebensjahr vollendet hat, davon abgesehen
werden soll, Einkommen und Vermögen des Beschädigten einzusetzen (§ 26 c Abs. 12, § 27 d Abs. 7 BVG). Damit hat er im Rahmen des Systems Kriegsopferfürsorge eine wertungsgleiche Entscheidung getroffen wie im Rahmen des Systems
Sozialhilfe durch § 91 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 BSHG und zugleich zu erkennen gegeben, daß er davon ausgeht, der Systemvorrang der Kriegsopferfürsorge greife auch gegenüber dem
in § 91 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 BSHG umschriebenen Personenkreis. Schließlich hat auch das Inkrafttreten des durch Art. 1 Nr. 8 KOVAnpG 1990 mit Wirkung zum 1. Juli 1990 (Art. 13 Abs. 1 KOVAnpG 1990) eingefügten § 25 Abs. 4 Satz 3 BVG den Erstattungsanspruch des Klägers nicht beeinträchtigt. Denn der Verwaltungsgerichtshof hat mit gemäß §
137 Abs.
2 VwGO bindender Wirkung festgestellt, daß die Voraussetzungen, unter denen behinderte Kinder nach dieser Vorschrift i.V.m. § 33 b Abs. 4 Satz 2 Buchst. c BVG auch über die Vollendung des 18. Lebensjahres hinaus als Familienmitglieder i.S. der Kriegsopferfürsorge gelten, im Falle
der Hannelore und Christa S. vorgelegen haben.
Die Kosten des Revisionsverfahrens fallen nach §
154 Abs.
2 VwGO dem Beklagten zur Last.
Die Gerichtskostenfreiheit ergibt sich aus §
188 Satz 2
VwGO, der auch für Erstattungsstreitigkeiten zwischen Sozialleistungsträgern gilt (BVerwGE 47, 233 (238)).