Abzweigung des vollen Kindergeldes an den Sozialhilfeträger bei Heimunterbringung des schwerbehinderten Kindes und Unterhaltsbeitrag
der Eltern von nur 26 EUR; Der Abzweigung des Kindergeldes an eine Unterhalt gewährende Stelle steht nicht entgegen, dass
der Kindergeldberechtigte Unterhalt nach § 91 Abs. 2 BSHG leistet. Der Umfang der Unterhaltsgewährung ist bei der Ausübung des Ermessens nach § 74 Abs. 1 Satz 4 EStG zu berücksichtigen; Kindergeld-Abzweigung
Tatbestand:
Streitig ist, ob der Kläger zu Recht verlangt, dass Kindergeld an ihn ausbezahlt wird.
Kläger ist das ... amt A. Der am ... 1954 geborene B ist seit 1975 schwerbehindert mit einem Grad der Behinderung von 100.
Er ist vollstationär in den ...-Anstalten C untergebracht. A leistet als Kostenträger für die Eingliederungshilfe nach §§
39,40 Bundessozialhilfegesetz (BSHG) ab Januar 2002 Kosten der Unterkunft in Höhe von 68,08 EUR täglich, Taschengeld in Höhe von 86,41 EUR monatlich, Werkstattkosten
in Höhe von 17,87 EUR täglich sowie als Nebenkosten Bekleidungsbeihilfe in Höhe von 23 EUR monatlich und Sozialversicherungsbeiträge
in Höhe von 1.100 EUR jährlich. Der Vater von B, der zu B keinerlei Kontakt mehr hat, leistet seit 1. Januar 2002 gemäß §
91 Abs. 2 BSHG Unterhalt in Höhe von 26 EUR.
Mit Schreiben vom 22. März 2002 beantragte der Kläger bei der Agentur für Arbeit D -AA- (Beklagter) die Abzweigung des Kindergeldes
für B an sich nach §
74 Abs.
1 EStG wegen laufend gewährter Eingliederungshilfe in Höhe von ca. 2.800 EUR monatlich. Der Vater von B beantragte auf Veranlassung
der AA am 17. Mai 2002 für B Kindergeld, das ihm mit Bescheid vom 4. Juli 2002 rückwirkend ab Januar 1998 gewährt wurde. Den
Antrag des Klägers auf Abzweigung des Kindergeldes lehnte die AA mit Bescheid vom 4. Juli 2002 ab, weil dem Kläger von dem
unterhaltsverpflichteten Vater Unterhalt gewährt werde. Den hiergegen erhobenen Einspruch wies die AA mit Einspruchsentscheidung
vom 15. Juli 2002 als unbegründet zurück.
Zur Begründung der Klage wird im Wesentlichen Folgendes vorgetragen: Den notwendigen Unterhalt des unterhaltsberechtigten
B stelle der Kläger durch die Gewährung von Eingliederungshilfe für Behinderte bei vollstationärer Unterbringung sicher. Eine
Abzweigung komme nur dann nicht in Betracht, wenn die Eltern eines "untergebrachten" Kindes dieses regelmäßig (z.B. an Wochenenden,
Feiertagen, Ferien) in den elterlichen Haushalt holten und dort betreuten. Nur der Besuch im Heim erfülle nicht die Voraussetzungen
einer Unterhaltsgewährung. Im vorliegenden Fall bestehe nach der Stellungnahme der ...-Anstalten C zwischen B und seinem Vater
keinerlei Kontakt, die Mutter von B sei 1995 verstorben. Auch bei Zahlung einer Unterhaltsleistung von 26 EUR bleibe regelmäßig
eine partielle Unterhaltspflichtverletzung der Eltern im Sinne des Bürgerlichen Gesetzbuchs (
BGB) und des
EStG bestehen. Die Neuregelung des § 91 Abs. 2 BSHG zum 1. Januar 2002 berühre die Frage der rechtlichen Zulässigkeit einer Abzweigung nach §
74 Abs.
1 Satz 4
EStG nicht. § 91 BSHG befasse sich losgelöst von zivilrechtlichen Maßstäben auf Grund des Nachranggrundsatzes mit der sozialhilferechtlichen Beurteilung
der Unterhaltsverpflichtung Dritter. Auch sage die sozialhilferechtliche Inanspruchnahme Dritter nichts über den zivilrechtlichen
Unterhaltsanspruch aus, der in jedem Falle bestehen bleibe.
Der Kläger beantragt,
unter Aufhebung der Einspruchsentscheidung vom 15. Juli 2002 den Beklagten zu verpflichten, ab März 2002 das Kindergeld für
B an den Kläger abzuzweigen.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Eine Unterhaltspflichtverletzung des Vaters, der zu den Kosten seines vollstationär untergebrachten Kindes nach § 91 Abs. 2 BSHG in Höhe von 26 EUR - unabhängig von einer tatsächlich bestehenden Unterhaltspflicht - herangezogen wurde, stehe nicht fest
und könne auch nicht unterstellt werden. Mit der tatsächlichen Zahlung der von ihm geforderten 26 EUR komme der Vater seiner
Unterhaltspflicht im Sinne des §
74 Abs.
1 Satz 1
EStG in vollem Umfang nach, so dass eine Auszahlung an die Unterhalt gewährende Stelle nicht erfolgen könne. Der Bundesfinanzhof
habe in den Urteilen zum Kindergeldanspruch für volljährige vollstationär untergebrachte behinderte Kinder festgestellt, dass
die Leistungen der Sozialhilfeträger nicht ausreichen, um den gesamten Lebensbedarf des Kindes zu decken. Die Unterhaltspflichtverletzung
der Eltern sei Voraussetzung dafür, dass überhaupt an jemand Dritten abgezweigt werden könne, weil sonst jeder, der dem Kind
"Unterhalt" gewähre, unabhängig vom Unterhaltsaufwand der Eltern die Abzweigung an sich fordern könne.
Weitere Einzelheiten ergeben sich aus den gewechselten Schriftsätzen sowie aus den Behördenakten, auf die Bezug genommen wird.
Die Beteiligten haben auf mündliche Verhandlung verzichtet (§ 90 Abs. 2 Finanzgerichtsordnung - FGO -). Mit Beschluss vom 21. Oktober 2003 wurde der Rechtsstreit gemäß § 6 Abs. 1 FGO dem Einzelrichter zur Entscheidung übertragen.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist begründet.
1. Nach §
74 Abs.
1 Satz 4
EStG kann die Auszahlung von Kindergeld auch an die Person oder Stelle erfolgen, die dem Kind Unterhalt gewährt. Als Unterhaltsgewährung
ist auch bei einem volljährigen behinderten Kind die Erfüllung der gesetzlichen Unterhaltsansprüche, nämlich die Sicherstellung
des gesamten Lebensbedarfs (§
1610 Abs.
2 BGB) zu verstehen, der sich bei einem behinderten Kind typischerweise aus dem allgemeinen Lebensbedarf (Grundbedarf) und dem
individuellen behinderungsbedingten Mehrbedarf zusammensetzt (BFH-Urteil vom 15. Oktober 1999 VI R 40/98, BStBl II 2000, 75).
Der Kläger hat im Streitfall gegenüber B Unterhaltsleistungen in diesem Sinne erbracht. Denn er hat mit der Übernahme der
Kosten für Unterkunft und Verpflegung, dem monatlichen Taschengeld, den Werkstattkosten, der Bekleidungsbeihilfe sowie den
Sozialversicherungsbeiträgen von insgesamt ca. 2.800 EUR monatlich den Unterhalt des B sichergestellt.
2. Entgegen der Auffassung des Beklagten setzt eine Abzweigung des Kindergeldes nach §
74 Abs.
1 Satz 4
EStG weder zusätzlich voraus, dass der Kindergeldberechtigte seiner gesetzlichen Unterhaltspflicht nicht nachkommt noch dass die
Leistungen der Unterhalt gewährenden Stelle den gesamten existenziellen Lebensbedarf des behinderten Kindes decken müssen.
2.1 §
74 Abs.
1 EStG lässt die Auszahlung des Kindergeldes an das Kind zu, wenn der Kindergeldberechtigte seinen gesetzlichen Unterhaltspflichten
dem Kind gegenüber nicht nachkommt (Satz 1) oder der Kindergeldberechtigte mangels Leistungsfähigkeit nicht unterhaltspflichtig
ist und keinen Unterhalt leistet (Satz 3, 1. Alternative) oder der Kindergeldberechtigte Unterhalt nur in Höhe eines Betrags
zu leisten braucht und auch leistet, der geringer ist, als das für die Auszahlung in Betracht kommende Kindergeld (Satz 3,
2. Alternative). Nach Satz 4 kann die Auszahlung auch an die Person oder Stelle erfolgen, die dem Kind Unterhalt gewährt.
§
74 Abs.
1 Satz 4
EStG nimmt damit in keiner Weise Bezug auf die Voraussetzungen von §
74 Abs.
1 Satz 1
EStG, sondern knüpft die letztlich zu treffende Ermessensentscheidung lediglich an den dem Kind zu gewährenden Unterhalt. Die
anders lautende Ansicht der Verwaltung (Dienstanweisung zur Durchführung des Familienleistungsausgleichs - DA FamEStG; BStBl
I 2002, 365 - unter DA 74.1.1) beruht vermutlich auf dem überkommenen Verständnis der (§
74 Abs.
1 EStG vergleichbaren) Regelung in §
48 Abs.
1 des Sozialgesetzbuchs I (
SGB I). §
48 SGB I ist aber mit der gesetzlichen Überschrift versehen: "Auszahlung bei Verletzung der Unterhaltspflicht". Daraus kann geschlossen
werden, dass auch eine Auszahlung an Unterhalt gewährende Personen oder Stellen nur bei Verletzung der Unterhaltspflicht erfolgen
soll. Eine vergleichbare Überschrift trägt §
74 EStG ("Zahlung des Kindergeldes in Sonderfällen") aber nicht (vgl. Finanzgericht München, Urteil vom 28. Januar 2003, EFG 2003,
1023).
2.2 Unabhängig davon sind im Streitfall auch die Voraussetzungen des §
74 Abs.
1 Satz 3 (2. Alternative)
EStG erfüllt. Nach dieser Sonderregelung, die auch bei Auszahlung des Kindergeldes an andere Personen oder Stellen anzuwenden
ist (vgl. Kirchhof/Felix,
EStG, 3. Auflage, Rn. 1 zu §
74), kann das Kindergeld u.a. dann an Dritte ausgezahlt werden, wenn der Kindergeldberechtigte nur Unterhalt in Höhe eines Betrags
zu leisten braucht, der geringer ist als das für die Auszahlung in Betracht kommende Kindergeld. Selbst wenn man im Streitfall
mit dem Beklagten davon ausgeht, dass der Vater von B mit der tatsächlichen Zahlung der von ihm nach § 91 Abs. 2 BSHG geforderten 26 EUR seiner Unterhaltspflicht in vollem Umfang nachkommt und er nur Unterhalt in Höhe dieses Betrages zu leisten
braucht, so ist dieser Betrag jedenfalls geringer als das in Betracht kommende Kindergeld in Höhe von 154 EUR.
2.3 Nach dem eindeutigen Gesetzeswortlaut, der im Gegensatz zu § 12 Abs. 3
Bundeskindergeldgesetz a.F. (
BKGG) nicht eine vollständige oder zumindest überwiegende Unterhaltsgewährung durch die begünstigte Person verlangt, sondern lediglich
eine Unterhaltsgewährung voraussetzt, ist es grundsätzlich unerheblich, in welcher Höhe die in §
74 Abs.
1 Satz 4
EStG genannte Stelle Unterhalt leistet. Deshalb kann jede Form der Unterhaltsgewährung durch einen Dritten eine Auszahlungsanordnung
zu Gunsten des Dritten rechtfertigen. Zu berücksichtigen ist der Umfang der Unterhaltsgewährung jedoch bei der Ermessensausübung
und bei der Bestimmung des auszuzahlenden Geldbetrags (Felix in Kirchhof/Söhn,
EStG, Anm. B 22 zu §
74). Bei der Entscheidung, ob das Kindergeld an Unterhalt gewährende Personen oder Stellen abgezweigt werden soll, handelt es
sich nach dem gesetzlichen Wortlaut ("kann") um eine Ermessensentscheidung, bei der vor allem die besonderen Umstände des
Einzelfalles zu berücksichtigen sind.
Im Streitfall hat der Beklagte die Abzweigung des Kindergeldes allein deshalb abgelehnt, weil dem Kläger von dem unterhaltsverpflichteten
Vater des B Unterhalt gewährt wird, was nach Auffassung des Beklagten eine Abzweigung des Kindergeldes nicht möglich mache.
Der Beklagte ist davon ausgegangen, dass bereits die Tatbestandsvoraussetzungen der Ermessensvorschrift des §
74 Abs.
1 Satz 4
EStG nicht vorliegen, und hat deshalb das ihm mit dieser Vorschrift eingeräumte Ermessen nicht ausgeübt (Ermessensunterschreitung).
Dies ist unzutreffend. Wie bereits dargelegt sind entgegen der Auffassung des Beklagten die Voraussetzungen des §
74 Abs.
1 Satz 4
EStG (zusätzlich auch i.V.m. Satz 3) erfüllt, so dass der beklagte eine Ermessensentscheidung hätte treffen müssen. Zwar ist das
Gericht bei Feststellung einer Ermessensunterschreitung grundsätzlich darauf beschränkt, die angefochtene Entscheidung aufzuheben.
Zum Erlass einer Ermessensentscheidung mit einem bestimmten Inhalt kann das Gericht den Beklagten aber verpflichten, wenn
die vom Gericht vorzunehmende Sachverhaltsermittlung ergibt, dass nur der Erlass eines Verwaltungsakts mit dem beantragten
Inhalt ermessensfehlerfrei ist (sog. Ermessensreduzierung auf Null; vgl. BFH-Urteil vom 4. Oktober 1989 V R 104/84, BStBl II 1990, 179). Diese Voraussetzungen liegen hier vor. Der Kläger hat im Streitfall - mit Ausnahme der 26 EUR - sämtliche Kosten der Unterbringung
und Versorgung und zusätzlich die Werkstattkosten, das monatliche Taschengeld, die Sozialversicherungsbeiträge, Bekleidungsbeihilfe
und den Betreuungsaufwand in Höhe von insgesamt ca. 2.800 EUR monatlich getragen. In Anbetracht dessen, dass damit der Vater
von B zu dessen Unterhalt nicht einmal ein Prozent der vom Kläger für B aufgewendeten Kosten beiträgt, ist es mit der Zielsetzung
staatlicher Unterstützungsleistungen nicht zu vereinbaren, das Kindergeld - auch nicht teilweise - beim Kindergeldberechtigten
zu belassen. Das Gericht sieht daher die Abzweigung des vollen Kindergeldes an den Kläger als allein zutreffende rechtmäßige
Entscheidung an.
3. Das Gericht hat keine Veranlassung gesehen, den Kindsvater zum Verfahren beizuladen (§ 60 FGO), weil der Kindergeldanspruch selbst unstreitig ist (BFH-Urteil vom 14. Mai 2002 VIII R 88/01, BFH/NV2002, 1156).
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.