Tatbestand:
Streitig ist, ob die beklagte Familienkasse (FK) zu Recht einen Antrag der Klägerin (Klin.) auf Abzweigung von Kindergeld
gemäß §
74 Einkommensteuergesetz (
EStG) abgelehnt hat.
Die Klin. ist die Stadt I (I). Diese leistete an Herrn HG (HG), geboren am ...1969, X-Straße, I, fortlaufend Leistungen nach
dem Sozialgesetzbuch XII (SGB XII) - Kapital IV - (Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung - §§ 41ff. SGB XII), zuletzt
aufgrund des Bescheides vom 10.03.2009 für den Zeitraum vom 01.04.2009 bis 31.03.2010 in Höhe von monatlich 512,09 EUR.
Dieser Betrag setzt sich wie folgt zusammen:
Stellung
gemeinsame Haushaltsführung
Regelsatz lfd. Leistung SGB XII
281,00 EUR
Mehrbedarf § 30 Abs. 1 Satz 2 SGB XII
47,77 EUR
Summe
328,77 EUR
HLU-Unterkunftskosten
183,32 EUR
Summe Bedarf
512,09 EUR
Die anrechenbaren Unterkunftskosten sind wie folgt berechnet worden:
Miete/Lasten
352,56 EUR
Heizkosten
78,00 EUR
Warmwasserkosten
./.15,60 EUR
Nebenkostenabschlag
135,00 EUR
Anrechenbare UK-Kosten
549,96 EUR
549,96 EUR
Mietanteile Dritter
./. 366,64 EUR
Berücksichtigte Unterkunftskosten
183,32 EUR
Höhe 1 Mietanteil
183,32 EUR
HG ist laut des der Stadt I vorgelegten Schwerbehindertenausweises vom 24.02.2003 (gültig bis 01/2013) schwerbehindert mit
einem Grad von 100 mit den Merkzeichen G, H,RF. HG besitzt bereits seit dem 09.08.1982 einen Schwerbehindertenausweis.
Er lebt im Haushalt seiner Eltern, des beigeladenen Herrn FG (FG), geboren am ...1934, und der Frau MG (MG), geboren am ...1936.
FG bezieht eine Altersrente in Höhe von 1.186,91 EUR/monatlich und MG eine solche in Höhe von 475,00 EUR/monatlich. HG erhält
keine Arbeitseinkünfte (z. B. von einer Werkstatt für Behinderte).
Der Beigeladene FG erhält für HG von der FK fortlaufend Kindergeld (vgl. Kindergeldbescheid vom 28.02.2008), das in Höhe von
zur Zeit 164 EUR/monatlich auf das gemeinsame Konto der Eltern des HG ausgezahlt wird. Die monatliche Miete zahlen die Eltern
ebenfalls von ihrem gemeinsamen Konto. Weder HG noch seine Eltern verfügen über nennenswertes Vermögen.
Mit Schreiben vom 09.06.2009 beantragte die Klin. bei der FK unter Berufung auf die Bundesfinanzhof(BFH)-Urteile vom 17.12.2008
III R 6/07, BFH/NV 2009, 1001 und vom 09.02.2009 III R 37/07, BFH/NV 2009, 1015 die Abzweigung des Kindergeldes gemäß §
74 EStG an sich als örtlichen Träger der Sozialhilfe. Eine Abzweigung sei möglich, wenn die/der Kindergeldberechtigte den Lebensunterhalt
nicht mindestens in Höhe des Kindergeldes sicherstelle, wobei die Aufnahme in den Haushalt keine Unterhaltsleistung darstelle.
Unterhaltsleistungen der/des Kindergeldberechtigten mindestens in Höhe des Kindergeldes seien ihr nicht bekannt.
Diesen Antrag lehnte die FK mit Bescheid vom 22.06.2009 mit der Begründung ab, eine Erstattung des Kindergeldes an die Klin.
komme nicht in Betracht, weil es sich bei der von Klin. gewährten Leistung und dem Kindergeld nicht um zweckgleiche Leistungen
handeln würde.
Den dagegen eingelegten Einspruch begründete die Klin. damit, aus den genannten Urteilen des BFH gehe nicht hervor, dass es
sich bei der durch die Klin. erbrachten Leistung um eine zweckgleiche Leistung handeln müsse.
Die FK wies den Einspruch als unbegründet zurück (Einspruchsentscheidung - EE - vom 14.07.2009).
Sie führte aus, rechtskräftige Urteile würden die Beteiligten und ihre Rechtsnachfolger gemäß § 110 Abs. 1 Finanzgerichtsordnung (FGO) binden, soweit über den Streitgegenstand entschieden worden sei. Erst durch eine Veröffentlichung von Urteilen und Beschlüssen
des BFH in Bundessteuerblatt (BStBl.) II könnten diese Entscheidungen in vergleichbaren Fällen angewendet werden. Die o. a.
Urteile seien nicht veröffentlicht worden. Sie stellten also Einzelfallurteile dar, die nur die an diesen finanzgerichtlichen
Verfahren Beteiligten binden würden. Der Einspruch könne daher keinen Erfolg haben.
Zur Begründung der hiergegen eingelegten Klage trägt die Klin. vor, bei den angeführten Urteilen handele es sich nicht um
Einzelfallentscheidungen, sondern um Urteile, die von der Finanzverwaltung zu beachten seien.
Im Ergebnis sei den Ausführungen der Urteile auch zuzustimmen. Die Voraussetzungen für eine Abzweigung des Kindergeldes lägen
dem Grunde nach vor. Nach §
74 Abs.
1 EStG könne das für ein Kind nach §
66 Abs.
1 EStG festgesetzte Kindergeld auch an die Person oder Stelle ausgezahlt werden, die dem Kind Unterhalt gewähren würde, wenn der
Kindergeldberechtigte seiner gesetzlichen Unterhaltspflicht nicht nachkomme, mangels Leistungsfähigkeit nicht unterhaltspflichtig
sei oder nur Unterhalt in Höhe eines Betrages zu leisten brauche, der geringer sei als das für die Auszahlung in Betracht
kommende Kindergeld.
Die Abzweigung setze voraus, dass der Kindergeldberechtigte zivilrechtlich nach §§
1601 ff.
Bürgerliches Gesetzbuch (
BGB) zum Unterhalt verpflichtet sei, aber keinen Unterhalt leisten wolle, keinen Unterhalt leisten könne oder als Unterhalt nur
einen geringeren Betrag als das Kindergeld zu leisten brauche.
Nach §
1601 BGB seien Verwandte in gerader Linie verpflichtet, einander Unterhalt zu gewähren. Unterhaltsberechtigt sei nach §
1602 BGB aber nur, wer außerstande sei, sich selbst zu unterhalten. Der Unterhaltsanspruch umfasse nach §
1610 Abs.
2 BGB den gesamten Lebensbedarf. Grundsicherungsleistungen seien auf einen solchen Unterhaltsanspruch nach §
94 Abs. 1 Satz 1 SGB XII anzurechnen.
Die FK habe rechtsfehlerhaft keine Ermessensentscheidung getroffen. Ob und in welcher Höhe das Kindergeld an eine andere Person
oder Stelle abgezweigt werde, stehe nach §
74 Abs.
1 EStG im Ermessen der FK. Die FK habe aber überhaupt kein Ermessen ausgeübt, da nach ihrer Auffassung die Voraussetzungen des §
74 Abs.
1 EStG für eine Abzweigung nicht gegeben gewesen seien. Die FK hätte eine genaue Prüfung des Antrages auf Abzweigung vornehmen und
dann eine entsprechende Ermessensentscheidung treffen müssen.
Die Klin. beantragt,
den Bescheid vom 22.06.2009 und die EE vom 14.07.2009 aufzuheben und die FK zu verpflichten, über den Antrag auf Abzweigung
von Kindergeld nach pflichtgemäßem Ermessen neu zu entscheiden,
hilfsweise für den Fall des Unterliegens, die Revision zuzulassen.
Die FK beantragt,
die Klage abzuweisen,
hilfsweise für den Fall des Unterliegens, die Revision zuzulassen.
Sie meint, das Kind HG sei zu 100 % behindert und trage in seinem Schwerbehindertenausweis die Merkzeichen G, H und RF. Das
Kind HG lebe im Haushalt der kindergeldberechtigten Eltern und werde von diesen betreut und versorgt. HG erhalte von der Klin.
Grundsicherungsleistungen nach dem SGB XII.
Das für ein Kind gezahlte Kindergeld könne - wenn der Kindergeldberechtigte diesem gegenüber seine Unterhaltspflicht nicht
nachkomme - an das Kind selbst oder an denjenigen, der dem Kind Unterhalt gewährt, ausgezahlt werden (§
74 Abs.
1 EStG). Materielle Voraussetzung sei, dass der tatsächlich Kindergeldberechtigte der gesetzlichen Unterhaltspflicht nicht nachkomme.
Das sei rein tatsächlich zu verstehen. Es komme nicht darauf an, dass der Kindergeldberechtigte in seiner Person die Voraussetzungen
der Unterhaltspflicht erfülle; auf die Leistungsfähigkeit des Berechtigten komme es folglich nicht an.
Im vorliegenden Fall lägen keinerlei Anhaltspunkte vor, die eine Unterhaltspflichtverletzung seitens des Kindergeldberechtigten
rechtfertigen könnten.
Das Kind lebe im Haushalt des Berechtigten und werde dort versorgt. Auch von der Klin. selbst sei nichts Entsprechendes vorgetragen
worden.
Weder im Abzweigungsantrag noch im Einspruchsverfahren oder in der Klageschrift sei vorgetragen worden, dass der Kindergeldberechtigte
dauerhaft seine Unterhaltspflicht verletze. Allein die Berufung auf die BFH-Rechtsprechung lasse den Schluss einer Unterhaltsverletzung
seitens des Berechtigten nicht zu. Die fallspezifische Begründung eines Antrags obliege der Klin. Insoweit sei daher allein
die Ablehnung des Abzweigungsantrages ermessensgerecht.
Im Übrigen würden die zitierten BFH-Entscheidungen andere Sachverhalte regeln und die FK sei an die eindeutige Weisungslage
gebunden. Danach sei eine Unterhaltspflichtverletzung nicht gegeben, solange das Kind im Haushalt des Berechtigten lebe.
Der Berichterstatter hat den Kindergeldberechtigten FG gemäß § 60 Abs. 3 FGO mit Beschluss vom 29.10.2009 zum Verfahren beigeladen. Dieser hat keinen Antrag gestellt.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die vorgelegten Verwaltungsvorgänge sowie auf den Inhalt der zwischen den Beteiligten
gewechselten Schriftsätze Bezug genommen.
Der Senat hat in diesem Verfahren am 30.11.2009 mündlich verhandelt. Auf die Niederschrift hierüber wird verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist begründet, da die FK ihr Ermessen nicht ausgeübt und deshalb der Bescheid vom 22.06.2009 rechtswidrig ist.
Gemäß §
74 Abs.
1 Satz 1 und Satz 3
EStG kann das für ein Kind festgesetzte Kindergeld an das Kind ausgezahlt werden, wenn der Kindergeldberechtigte seiner gesetzlichen
Unterhaltspflicht nicht nachkommt, mangels Leistungsfähigkeit nicht unterhaltspflichtig ist oder nur Unterhalt in Höhe eines
Betrages zu leisten braucht, der geringer als das Kindergeld ist.
Die Auszahlung kann nach §
74 Abs.
1 Satz 4
EStG auch an die Person oder Stelle erfolgen, die dem Kind Unterhalt gewährt.
Soweit die Behörde ermächtigt ist, nach ihrem Ermessen zu handeln oder zu entscheiden, prüft das Gericht gemäß § 102 Satz 1 FGO nur, ob der Verwaltungsakt oder die Ablehnung oder Unterlassung des Verwaltungsakts rechtswidrig ist, weil die gesetzlichen
Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessenen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden
Weise Gebrauch gemacht worden ist. Die Behörde kann ihrer Ermessenserwägungen hinsichtlich des Verwaltungsaktes bis zum Abschluss
der Tatsacheninstanz eines finanzgerichtlichen Verfahrens ergänzen (§ 102 Satz 2 FGO). Insbesondere setzt eine fehlerfreie Ermessensentscheidung voraus, dass die Behörde ihre Entscheidung auf der Grundlage
des einwandfrei und erschöpfend ermittelten Sachverhaltes trifft und dabei die Gesichtspunkte tatsächlicher und rechtlicher
Art. berücksichtigt, die nach Sinn und Zweck der Norm, die das Ermessen einräumt, maßgeblich sind (BFH-Urteil vom 22.02.1972
VII R 80/69 BStBl. II 1972, 544 und vom 22.06.1990 III R 150/85 BStBl. II 1991, 864, FG München Urteil vom 12.12.2007 10 K 4917/06 EFG 2008, 698).
Ein Nachschieben von Ermessenserwägungen im Klageverfahren ist nur durch Ergänzungen der Ermessenserwägungen möglich. Diese
setzen voraus, dass solche zuvor zumindest ansatzweise angestellt worden sind (BFH-Urteil vom 25.05.2004 VIII R 21/03 BFH/NV 2005, 171).
Im vorliegenden Fall geht die Klin. zu Recht davon aus, dass dem Grunde nach die Voraussetzungen für eine Ermessensentscheidung
nach §
74 Abs.
1 EStG erfüllt sind.
Der Beigeladene ist als Vater des HG diesem gegenüber gesetzlich zum Unterhalt verpflichtet (§§
1601 ff.
BGB), da dieser sich nicht selbst unterhalten kann.
Nach §
1601 BGB sind Verwandte in gerader Linie verpflichtet, einander Unterhalt zu gewähren. Unterhaltsberechtigt ist nach §
1602 BGB aber nur, wer außerstande ist, sich selbst zu unterhalten.
Zum unterhaltsrechtlich maßgeblichen Einkommen zählen grundsätzlich sämtliche Einkünfte, die geeignet sind, den gegenwärtigen
Lebensbedarf des Einkommensbeziehers sicherzustellen. Dazu zählen auch Grundsicherungsleistungen, soweit sie nicht subsidiär
sind. Nach § 43 Abs. 2 Satz 1 SGB XII bleiben Unterhaltsansprüche des Leistungsberechtigten gegenüber ihren Eltern unberücksichtigt,
sofern deren jährliches Gesamteinkommen im Sinne des §
16 des Vierten Buches Sozialgesetzbuch (
SGB IV) unter 100.000 EUR liegt. Daher sind im Streitfall die Grundsicherungsleistungen für das Kind HG des Beigeladenen nicht nachrangig
und mindern den unterhaltsrechtlichen Bedarf (Urteil des Bundesgerichtshofs - BGH - vom 20.12.2006 XII ZR 84/04, Zeitschrift für das gesamte Familienrecht - FamRZ - 2007, 1158). Sie führen nicht zu einem gesetzlichen Übergang der Unterhaltsansprüche der Kinder gegen ihre Eltern auf den Leistungsträger
(§ 94 Abs. 1 Satz 3 Halbsatz 2 SGB XII), sondern lassen die Unterhaltspflicht der Eltern in diesem Umfang erlöschen (Urteil
des Bundessozialgerichts - BSG - vom 08.02.2007 B 9b SO 5/06 R, FamRZ 2008, 51). Da die Grundsicherungsleistungen das Existenzminimum des Kindes sichert, braucht der Beigeladene insoweit seinem Kind HG
keinen Unterhalt zu zahlen.
Gleichwohl bleibt der Beigeladene dem Grunde nach zum Unterhalt gegenüber seinem Kind HG verpflichtet, auch wenn die Unterhaltsansprüche
des Kindes nach § 43 Abs. 2 Satz 1 SGB XII aufgrund seiner Einkommensverhältnisse unberücksichtigt bleiben. Würde er Unterhalt
leisten, wären die Leistungen auf die Grundsicherung anzurechnen (BGH-Urteil vom 20.12.2006 a. a. O.). Daher ist der Tatbestand
des §
74 Abs.
1 Satz 3
EStG (keine Unterhaltspflicht mangels Leistungsfähigkeit) erfüllt (vgl. zum Vorstehenden BFH-Urteil vom 17.12.2008 III R 6/07 BFH/NV 2009, 1001).
Der Beigeladene ist dieser Unterhaltspflicht nicht nachgekommen, da er objektiv und dauerhaft für den wesentlichen Unterhalt
des HG nicht aufgekommen ist. Ob er seine Unterhaltspflicht schuldhaft verletzt hat oder mangels Leistungsfähigkeit nicht
oder nur eingeschränkt Unterhalt leisten kann, ist gleichgültig, da §
74 Abs.
1 Satz 1 und Satz 3
EStG für jede dieser Fallkonstellationen die Abzweigung in das Ermessen der FK stellt.
Entgegen der Auffassung der FK kommt es im vorliegenden Fall nicht entscheidend darauf an, dass der Beigeladene durch die
Aufnahme des Kindes HG in seinen Haushalt und durch die Versorgung des Kindes gewisse Unterhaltsleistungen erbracht hat.
Nach der Rechtsprechung des BFH sind zwar bei der Ausübung des Ermessens, ob und in welcher Höhe das Kindergeld an den - dem
Kind anstelle des Kindergeldberechtigten Unterhalt gewährenden - Sozialleistungsträger abzuzweigen ist, auch geringe Unterhaltsleistungen
der Eltern zu berücksichtigen. Sind die Leistungen mindestens so hoch wie das Kindergeld, wird eine Abzweigung nicht als ermessensgerecht
angesehen (BFH-Urteil vom 23.02.2006 III R 65/04 BStBl. II 2008, 753 m. w. N.). Dem Beigeladenen sind durch die Aufnahme des Kindes HG in seinem Haushalt aber keine Unterhaltsleistungen
entstanden. Den Unterhalt für sein Kind hat die Klin. durch die Leistungen der Grundsicherung, die auch Unterkunft und Verpflegung
umfassen, erbracht (vgl. zum Vorstehenden BFH-Urteil vom 17.12.2008 III R 6/07 BFH/NV 2009, 1001).
Der Beigeladene erhält hier eine Altersrente in Höhe von 1.186,91 EUR/monatlich und seine Ehefrau eine solche in Höhe von
400,75 EUR/monatlich. Der Beigeladene und seine Ehefrau verfügen insoweit nur über für ihren Unterhalt notwendige finanzielle
Mittel. Es ist daher davon auszugehen, dass der Beigeladene, der sich um die Belange seines Sohnes HG kümmert, den Unterhalt
der Familie aus den erhaltenen Mitteln (Altersrenten und Grundsicherung) bestreitet (sog. Wirtschaften aus einem Topf). Für
die Annahme, der Beigeladene könnte aus seiner Altersrente und die seiner Ehefrau für das - über eigene Mittel verfügende
- Kind HG erhebliche Leistungen erbringen, ist nichts ersichtlich (vgl. dazu auch BFH-Urteil vom 17.12.2008 VIII R 6/07 BFH/NV 2009, 1001).
Der Umfang, in dem der Beigeladene tatsächlich Unterhalt geleistet hat, ist bei der Entscheidung darüber, ob und ggf. in welcher
Höhe eine Abzweigung zu erfolgen hat, von der Familienkasse zu berücksichtigen (BFH-Urteil vom 23.02.2006 III R 65/04 BStBl. II 2008, 753). Insoweit hat die FK ihre Ermessensentscheidung auf der Grundlage eines fehlerfrei festgestellten Sachverhaltes
zu treffen.
Im vorliegenden Fall ist der die Abzweigung zugunsten der Klin. ablehnende Bescheid vom 22.06.2009 und die EE vom 14.07.2009
bereits mangels Ermessensausübung entsprechend dem Zweck des §
74 Abs.
1 EStG (§
5 AO) rechtswidrig.
Ob und in welcher Höhe das Kindergeld an eine andere Person oder Stelle abgezweigt wird, steht nach §
74 Abs.
1 EStG im Ermessen der FK ("kann"). Die FK hat hier aber kein Ermessen ausgeübt, weil nach ihrer Auffassung die Voraussetzung des
§
74 Abs.
1 EStG für eine Abzweigung nicht gegeben sind (sog. Ermessensunterschreitung durch Ermessensnichtgebrauch).
Im Ablehnungsbescheid hat sie sich überhaupt nicht mit den Voraussetzungen des §
74 Abs.
1 EStG befasst, sondern lediglich ausgeführt, eine Erstattung des Kindergeldes an die Klin. komme nicht in Betracht, weil es sich
bei der von der Klin. gewährten Leistung und dem Kindergeld nicht um zweckgleiche Leistungen handele. Die Entscheidung beruhe
auf §
74 Abs.
2 EStG.
In der EE hat sie sich auf den Standpunkt gestellt, der Klin. stehe materiell-rechtlich kein Anspruch auf Abzweigung zu, ohne
dieses weiter zu begründen. Sie hat lediglich Ausführungen dazu gemacht, dass sie die von der Klin. zitierten BFH-Urteile
vom 17.12.2008 III R 6/07 BFH/NV 2009, 1001 und vom 09.02.2009 III R 37/07 BFH/NV 2009, 101 S erst nach der Veröffentlichung im BStBl. II anwenden dürfe. Die Urteile seien nicht veröffentlicht worden. Sie würden somit
Einzelfallurteile darstellen, die gemäß § 110 Abs. 1 FGO nur die an diesen finanzgerichtlichen Verfahren Beteiligten binden würden.
Erstmals im Klageverfahren hat die FK im Schriftsatz vom 28.09.2009 Ausführungen dazu gemacht, ob unter Berücksichtigung der
hier vorliegenden Umstände die Voraussetzungen des §
74 Abs.
1 EStG vorliegen würden. Sie ist dabei zum Ergebnis gekommen, dass bereits die materiell-rechtlichen Voraussetzungen des §
74 Abs.
1 EStG nicht vorliegen würden. Dazu sei erforderlich, dass der tatsächlich Kindergeldberechtigte der gesetzlichen Unterhaltspflicht
nicht nachkomme. Im vorliegenden Fall lägen keinerlei Anhaltspunkte vor, die eine Unterhaltspflichtverletzung des Kindergeldberechtigten
rechtfertigen könnten. Das Kind lebe im Haushalt des Berechtigten und werde dort versorgt.
Diese Auffassung ist unzutreffend. Entscheidend ist hier, dass der Beigeladene seiner grundsätzlich bestehenden Unterhaltspflicht
mangels Leistungsfähigkeit nicht nachkommen konnte (§
74 Abs.
1 S. 3
EStG), vgl. oben. Da hier entgegen der Meinung der FK die tatbestandlichen Voraussetzungen des §
74 Abs.
1 EStG für eine Abzweigung erfüllt sind, hatte die FK das ihr in dieser Vorschrift eingeräumte Rechtsfolgeermessen, ob und ggfl.
in welcher Höhe das Kindergeld an die Klin. auszuzahlen ist, auszuüben (BFH-Urteile vom 17.11.2004 VIII R 30/04 BFH/NV 2005, 692 und vom 25.05.2004 VIII R 21/03 BFH/NV 2005, 171).
Die FK ist als Folge ihrer Rechtsauffassung, dass der Tatbestand des §
74 Abs.
1 EStG mangels Unterhaltspflichtverletzung des Beigeladenen nicht erfüllt sei, ihrer Pflicht zur Ermessensausübung nicht nachgekommen
(sog. Ermessensunterschreitung durch Ermessensnichtgebrauch, vgl. dazu Kruse in Tipke/Kruse, AO/FGO-Kommentar, Stand Sept.
2009, § 5 Rdn. 40 m. w. N.).
Im vorliegenden Fall war auch nicht von dem Erlass eines Bescheidungsurteils gemäß § 101 Satz 2 FGO abzusehen. Von der Aufhebung eines mangels Ermessensausübung rechtswidrigen Ablehnungsbescheides kann abgesehen werden, wenn
allein die Ablehnung ermessensgerecht ist (sog. Ermessensreduzierung auf Null).
Denn dann ist das Finanzgericht befugt - abweichend von § 102 FGO - seine Entscheidung an die Stelle der Ermessensentscheidung der Verwaltungsbehörde zu setzen (BFH-Urteil vom 10.10.2001
XI R 52/00 BStBl. II 2002, 201). Eine Ermessensreduzierung auf Null liegt hier jedoch nicht vor. Bei der Ausübung des Ermessens ist
der Zweck des Kindergeldes zu berücksichtigen (§
5 AO). Das Kindergeld dient der steuerlichen Freistellung des Existenzminimums eines Kindes und, soweit es dafür nicht erforderlich
ist, der Förderung der Familie (§
31 Sätze 1 und 2
EStG).
Kein Kindergeld wird deshalb gewährt, wenn die eigenen Einkünfte und Bezüge des Kindes den - am steuerlich zu belassenden
Existenzminimum eines Erwachsenen orientierten - Jahresgrenzbetrag des §
32 Abs.
4 Satz 2
EStG übersteigen. In einem solchen Fall sind die Eltern in der Regel wirtschaftlich nicht mehr in einer Weise belastet, die eine
Entlastung im Wege des Familienleistungsausgleichs erfordert. Bei Einkünften und Bezügen des Kindes bis zur Höhe des Jahresgrenzbetrages
wird dagegen typisierend eine Belastung der Eltern mit Unterhaltsaufwendungen unterstellt und daher unter den weiteren Voraussetzungen
des §
32 Abs.
4 EStG Kindergeld gewährt.
Hiervon abweichend hängt der Anspruch auf Kindergeld für ein volljähriges behindertes Kind davon ab, dass das Kind außer Stande
ist, sich selbst zu unterhalten (§
32 Abs.
4 Satz 1 Nr.
3 EStG). Es wird typisierend davon ausgegangen, dass den Eltern Unterhaltsaufwendungen für das Kind entstehen, wenn dessen eigene
finanzielle Mittel nicht seinen gesamten Lebensbedarf abdecken. Der Lebensbedarf eines behinderten Kindes besteht aus dem
allgemeinen Lebensbedarf (Grundbedarf) in Höhe des Existenzminimums eines Erwachsenen, zu dem z. B. auch Kontakte zur Familie,
Teilnahme am kulturellen Leben und Erholung gehören und dem individuellen behinderungsbedingten Mehrbedarf, der auch ergänzende
persönliche Betreuungsleistungen der Eltern und Fahrtkosten umfasst (vgl. BFH-Urteil vom 15.10.1999 VI R 40/98 BStBl. II 2000, 75 und vom 21.07.2000 VI R 153/99 BStBl. II 2000, 566).
Da das Kindergeld die finanzielle Belastung der Eltern durch den Unterhalt für das Kind ausgleichen soll, hängt die Entscheidung
über die Abzweigung davon ab, ob und in welcher Höhe ihnen - den Grund- und den behinderungsbedingten Mehrbedarf betreffende
- Aufwendungen für das Kind entstanden sind. Dabei sind auch im Verhältnis zu den Kosten des Sozialleistungsträgers geringe
Aufwendungen für das Kind mit einzubeziehen, nicht aber fiktive Kosten für die Betreuung des Kindes. Zu berücksichtigen sind
nur die den Eltern im Zusammenhang mit der Betreuung und dem Umgang mit dem Kind tatsächlich entstandenen und glaubhaft gemachten
Aufwendungen (vgl. zum Vorstehenden BFH-Urteil vom 09.02.2009 III R 37/07 BFH/NV 2009, 1015).
Entstehen dem Kindergeldberechtigten Aufwendungen für das volljährige behinderte Kind mindestens in Höhe des Kindergeldes,
kommt eine Abzweigung an den Sozialleistungsträger nicht in Betracht. Dies folgt mittelbar aus §
74 Abs.
1 Satz 3 Alternative 2
EStG. Danach kann Kindergeld auch abgezweigt werden, wenn der Kindergeldberechtigte mangels Leistungsfähigkeit nicht oder nur
in Höhe eines unter dem Kindergeld liegenden Betrages unterhaltspflichtig ist. Eine Abzweigung ist somit ermessensfehlerhaft,
wenn der Kindergeldberechtigte Unterhalt in Höhe des Kindergeldes oder darüber hinaus leistet (BFH-Urteil vom 23.02.2006 III R 65/04 BStBl. II 2008, 753 und vom 09.02.2009 III R 37/07 BFH/NV 2009, 1015).
Da somit keine fiktiven Kosten (z. B. in Höhe des halben Kindergeldes) für die Betreuung des HG anzusetzen sind, ist zweifelhaft,
ob die durch die FK im Einzelnen nicht ermittelten evtl. Aufwendungen des Beigeladenen mindestens so hoch wie das Kindergeld
sind. Die Voraussetzungen für eine Ermessensreduzierung auf Null waren daher nicht gegeben.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO.
Die Revision war nicht zuzulassen, weil die hierfür erforderlichen Voraussetzungen des § 115 Abs. 2 FGO nicht vorliegen, insbesondere hat die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung im Sinne von § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO.
Eine Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung im Sinne von § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO, wenn eine Rechtsfrage zu entscheiden ist, an deren Beantwortung ein allgemeines Interesse besteht, weil ihre Klärung das
Interesse der Allgemeinheit an der Fortentwicklung und Handhabung des Rechts berührt. Es muss sich um eine aus rechtssystematischen
Gründen bedeutsame und auch für die einheitliche Rechtsanwendung wichtige Frage handeln. Eine durch den BFH bereits geklärte
Rechtsfrage ist regelmäßig nicht mehr klärungsbedürftig und kann somit keine grundsätzliche Bedeutung mehr haben. Eine Ausnahme
von dieser Regel gilt dann, wenn gewichtige neue rechtliche Gesichtspunkte in der Rechtsprechung oder in der Literatur vorgetragen
worden sind, die der BFH noch nicht geprüft hat (vgl. BFH-Beschluss vom 23.01.1992 II B 64/91, BFH/NV 1992, 676 m. w. N.).
Die grundsätzliche Bedeutung ist hier schon deshalb nicht gegeben, weil die streitige Rechtsfrage geklärt ist. Die FK meint,
eine Abzweigung des Kindergeldes gemäß §
74 Abs.
1 EStG komme nur in Betracht, wenn der Unterhaltsverpflichtete seine Unterhaltspflicht gegenüber dem Kind nicht nachkomme. Eine
Unterhaltspflichtverletzung ist nach Auffassung der FK nicht gegeben, solange das Kind im Haushalt des Berechtigten lebe.
Diese Auffassung hat das Bundeszentralamt für Steuern in seiner Anweisung (Newsletter 1/2005) bereits früher vertreten. Diese
Auffassung hat der BFH jedoch im Urteil vom 17.12.2008 III R 6/07, BFH/NV 2009, 1001, in dessen Sachverhalt auf diesen Newsletter hingewiesen worden ist, als unzutreffend angesehen. Der BFH hat dazu ausgeführt,
dass das Finanzgericht zutreffend davon ausgegangen ist, dass der Beigl. durch die Aufnahme der Kinder in den elterlichen
Haushalt keine Unterhaltsleistungen mindestens in Höhe des Kindergeldes erbracht habe, die eine Abzweigung an die Klin. ausschließen
würde.
Der Senat hält diese Auffassung des BFH für zutreffend und legt bei seiner Entscheidung die Rechtsgrundsätze zugrunde, die
der BFH seinem Urteil vom 17.12.2008 a. a. O. zugrunde gelegt hat.
Allein wegen der Tatsache, dass die Finanzverwaltung - hier die FK - nicht die vom BFH entwickelten Rechtsgrundsätze anwenden
will, solange dieses BFH-Urteil noch nicht im BStBl. Teil II veröffentlicht worden ist, kann einer Rechtssache keine grundsätzliche
Bedeutung zukommen.
Einer Rechtssache kann zwar grundsätzliche Bedeutung zukommen, weil die Finanzverwaltung bei einem gleichen Sachverhalt nicht
nach den vom BFH entwickelten Rechtsgrundsätzen verfährt (BFH-Beschluss vom 21.01.1999 IX B 74/98, BFH/NV 1999, 749 unter Hinweis auf BFH-Beschluss vom 09.08.1968 VI B 46/68, BStBl. II 1968, 779 m. w. N.). Es liegt hier aber kein Sachverhalt vor, wonach das Bundesministerium der Finanzen im Einvernehmen
mit den obersten Finanzbehörden der Länder die Rechtsprechung des BFH im BFH-Urteil vom 17.12.2008 a. a. O. in Form eines
Nichtanwendungserlasses nicht anwenden will. Ein derartiger Erlass liegt (noch) nicht vor.
Der Vertreter der FK hat in der mündlichen Verhandlung am 30.11.2009 lediglich darauf hingewiesen, dass die Weisung vom 07.04.2005
(Newsletterausgabe I/2005) des Bundeszentralamtes für Steuern weiter gelten würde.
Ein derartiger Hinweis der FK - selbst wenn dieser aufgrund einer mündlichen Weisung aus dem Bundeszentralamt für Steuern
erfolgt sein sollte - macht die Rechtssache nicht zu einer von grundsätzlicher Bedeutung.
Es ist zum einen in diesem Zwischenstadium, in dem nicht abschließend geklärt ist, ob ein Nichtanwendungserlass zu den o.
a. BFH-Urteil vom 17.12.2008 erfolgen wird, davon auszugehen, dass sie Finanzverwaltung ebenfalls die Rechtsgrundsätze des
BFH-Urteils vom 17.12.2008 anwenden wird, da sog. Nichtanwendungserlasse zur BFH-Rechtsprechung nur in Ausnahmefällen erlassen
werden.
Zum anderen hat hier die FK bisher nicht die grundsätzliche Bedeutung schlüssig dargelegt (vgl. dazu im BFH-Beschluss vom
17.03.1998 VIII B 67/97, BFH/NV 1998, 1066 m. w. N.). Die FK hat keine beachtlichen vom BFH bei seinem Urteil vom 17.12.2008 a. a. O. nicht berücksichtigten Gesichtspunkte
vorgebracht, so dass es an der erforderlichen Klärungsbedürftigkeit auch insoweit fehlt (vgl. dazu BFH-Beschluss vom 27.08.2003
I B 186/02, BFH/NV 2003, 1581).