Zuerkennung des Merkzeichens G
Einschränkung des Gehvermögens
Ortsübliche Wegstrecke
Umfassender Behindertenbegriff
1. In seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt ist, wer infolge einer Einschränkung des Gehvermögens
nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahr für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen
vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden.
2. Bei der Prüfung der Frage, ob diese Voraussetzungen erfüllt sind, kommt es nicht auf die konkreten örtlichen Verhältnisse
des Einzelfalles an, sondern darauf, welche Wegstrecken allgemein - d.h. altersunabhängig von nichtbehinderten Menschen -
noch zu Fuß zurückgelegt werden.
3. Als ortsübliche Wegstrecke in diesem Sinne gilt eine Strecke von etwa zwei Kilometern, die in etwa einer halben Stunde
zurückgelegt wird.
4. Allerdings ist es für die Zuerkennung des Merkzeichens "G" nicht ausreichend, dass diese Wegstrecke nicht in dem genannten
Zeitraum bewältigt werden kann; das Gesetz fordert in §
145 Abs.
1 Satz 1, §
146 Abs.
1 Satz 1
SGB IX darüber hinaus, dass Ursache der beeinträchtigten Bewegungsfähigkeit eine Behinderung des schwerbehinderten Menschen sein
und diese Behinderung dessen Gehvermögen einschränken muss (sog. "doppelte Kausalität").
5. Der umfassende Behindertenbegriff im Sinne des §
2 Abs.
1 Satz 1
SGB IX gebietet im Lichte des verfassungsrechtlichen als auch des unmittelbar anwendbaren UN-konventionsrechtlichen Diskriminierungsverbots
(Art.
3 Abs.
3 Satz 2
GG; Art.
5 Abs.
2 UN-BRK) die Einbeziehung aller körperlichen, geistigen und seelischen Beeinträchtigungen.
Gründe:
I.
Die Beteiligten streiten über die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Erteilung des Merkzeichens G (erhebliche
Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr).
Auf den Antrag des Klägers vom 11. Juni 2014 stellte der Beklagte bei ihm mit Bescheid vom 9. Dezember 2014 einen GdB von
30 fest. Hiergegen erhob der Kläger Widerspruch. Mit Abhilfebescheid vom 21. Januar 2015 setzte der Beklagte den GdB ab Antragstellung
auf 50 herauf, lehnte aber mit Widerspruchsbescheid vom 3. Februar 2015 die Zuerkennung des Merkzeichens G ab.
Mit der Klage bei dem Sozialgericht Frankfurt (Oder) hat der Kläger sein Begehren weiter verfolgt.
Das Sozialgericht hat neben Befundberichten das Gutachten des Facharztes für Orthopädie und Unfallchirurgie Dr. L vom 16.
November 2015 eingeholt, der das orthopädische Leiden -Funktionsbehinderung der Beine nach Frakturen - mit einem Einzel-GdB
von 30 bewertet und das Vorliegen der Voraussetzungen für das Merkzeichens G verneint hat.
Mit Urteil vom 10. Februar 2016 hat das Sozialgericht den Beklagten zur Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen
des Merkzeichens G mit Wirkung ab 11. Juni 2014 verpflichtet. Zur Begründung hat es ausgeführt, der Sachverständige habe tatsächlich
bestehende funktionelle Beeinträchtigungen des Klägers beim Gehen dokumentiert. Diese seien mit einem Einzel-GdB von mindestens
40 zu bewerten, womit der "Mobilitäts-GdB" vorliege, der zur Bejahung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens
G führe.
Der Beklagten wendet sich mit der Berufung gegen diese Entscheidung. Er ist der Ansicht, dass bei dem Kläger ein "Mobilitäts-GdB"
von lediglich 30 vorliege.
Der Beklagte beantragt schriftsätzlich,
das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt (Oder) vom 10. Februar 2016 aufzuheben und die Klage im vollen Umfang abzuweisen.
Der Kläger beantragt seinem schriftlichen Vorbringen zufolge,
die Berufung zurückzuweisen.
Er verweist darauf, dass sich sein Gesundheitszustand weiter verschlechtert habe.
Wegen der weiteren Ausführungen der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze Bezug genommen. Ferner wird auf den übrigen Inhalt
der Gerichtsakte und des Verwaltungsvorgangs der Beklagten verwiesen, die vorgelegen haben und Gegenstand der Entscheidung
gewesen sind.
II.
Die Berufung des Beklagten wird nach §
153 Abs.
4 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) durch Beschluss zurückgewiesen, da der Senat sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich
hält. Die Beteiligten hatten Gelegenheit zur Stellungnahme.
Das Urteil des Sozialgerichts ist im Ergebnis nicht zu beanstanden.
Der Kläger hat auch Anspruch auf Feststellung des Vorliegens der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen G.
Gemäß §
145 Abs.
1 Satz 1
SGB IX haben schwerbehinderte Menschen, die infolge ihrer Behinderung in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt
sind, Anspruch auf unentgeltliche Beförderung. Alternativ können sie nach § 3a Abs. 2 Kraftfahrzeugsteuergesetz eine Ermäßigung der Kraftfahrzeugsteuer um 50 v. H. beanspruchen. Über das Vorliegen der damit angesprochenen gesundheitlichen
Merkmale treffen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständigen Behörden die erforderlichen Feststellungen (§
69 Abs.
1 und 4
SGB IX).
Nach §
146 Abs.
1 Satz 1
SGB IX ist in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt, wer infolge einer Einschränkung des Gehvermögens
nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahr für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen
vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden. Bei der Prüfung der Frage, ob diese Voraussetzungen erfüllt sind,
kommt es nicht auf die konkreten örtlichen Verhältnisse des Einzelfalles an, sondern darauf, welche Wegstrecken allgemein
- d.h. altersunabhängig von nichtbehinderten Menschen - noch zu Fuß zurückgelegt werden. Als ortsübliche Wegstrecke in diesem
Sinne gilt eine Strecke von etwa zwei Kilometern, die in etwa einer halben Stunde zurückgelegt wird (Bundessozialgericht -BSG-, Urteil vom 10. Dezember 1987, 9a RVs 11/87, BSGE 62, 273 = SozR 3870 § 60 Nr. 2). Allerdings ist es für die Zuerkennung des Merkzeichens "G" nicht ausreichend, dass diese Wegstrecke
nicht in dem genannten Zeitraum bewältigt werden kann. Das Gesetz fordert in §
145 Abs.
1 Satz 1, §
146 Abs.
1 Satz 1
SGB IX darüber hinaus, dass Ursache der beeinträchtigten Bewegungsfähigkeit eine Behinderung des schwerbehinderten Menschen sein
und diese Behinderung dessen Gehvermögen einschränken muss (sog. "doppelte Kausalität", siehe BSG, Urteil vom 24. April 2008 - B 9/9a SB 7/06 R -, SozR 4-3250 § 146 Nr. 1). Hierzu hatte das Bundessozialgericht die Anhaltspunkte
für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (AHP) herangezogen,
die in Nr. 30 Abs. 3 bis 5 Regelfälle beschrieben, bei denen nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse
die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "G" als erfüllt anzusehen waren und die bei der Beurteilung einer
dort nicht erwähnten Behinderung als Vergleichsmaßstab dienen konnten (so BSG, Urteil vom 13. August 1997, - 9 RVs 1/96 -, SozR 3-3870 § 60 Nr. 2). Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts gaben die AHP an, welche Funktionsstörungen
in welcher Ausprägung vorliegen mussten, bevor angenommen werden konnte, dass ein Behinderter infolge einer Einschränkung
des Gehvermögens "in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt ist". Damit wurde dem Umstand Rechnung
getragen, dass das menschliche Gehvermögen keine statische Messgröße ist, sondern von verschiedenen Faktoren geprägt und variiert
wird. Darunter sind neben den anatomischen Gegebenheiten des Körpers, also Körperbau und etwaige Behinderungen, vor allem
der Trainingszustand, die Tagesform, Witterungseinflüsse, die Art des Gehens (ökonomische Beanspruchung der Muskulatur, Gehtempo
und Rhythmus) sowie Persönlichkeitsmerkmale, vor allem die Motivation, zu nennen. Von diesen Faktoren filterten die AHP all
jene heraus, die nach dem Gesetz außer Betracht zu bleiben haben, weil sie die Bewegungsfähigkeit des schwerbehinderten Menschen
im Straßenverkehr nicht infolge einer behinderungsbedingten Einschränkung seines Gehvermögens, sondern möglicherweise aus
anderen Gründen erheblich beeinträchtigen (vgl. BSG, Urteil vom 13. August 1997, a.a.O.).
Diese Grundsätze gelten auch auf der Grundlage der in der Anlage zu der am 1. Januar 2009 in Kraft getretenen Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2412) festgelegten "Versorgungsmedizinischen Grundsätze" weiter, und zwar unabhängig davon, ob - wie überwiegend vertreten wird
(so Dau, jurisPR-SozR 4/2009, Anm. 4; Oppermann, in: Hauck/Noftz, GK SGB, Loseblattwerk Stand: 2013, Rn. 36a zu §
69 SGB IX; LSG Baden-Württemberg, seit Urteil vom 23. Juli 2010 - L 8 SB 3119/08 - in ständiger Rechtsprechung, zuletzt Urteil vom 24. Januar 2014 - L 8 SB 2723/13 -; LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 16. Dezember 2009 - L 10 SB 39/09 -; offen gelassen von: LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 16. Oktober 2013 - L 10 SB 154/12 -; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 19. Dezember 2011 - L 13 SB 12/08 -) - die Vorschriften über die Voraussetzungen des Merkzeichens "G" in Teil D Nr. 1d bis 1f der Anlage zu § 2 VersMedV mangels gesetzlicher Ermächtigungsgrundlage nichtig sind. Denn die in den AHP aufgestellten Kriterien wurden über Jahre hinweg
sowohl von der Verwaltung als auch von den Gerichten in ständiger Übung angewandt, weshalb die Voraussetzungen für die Zuerkennung
des Merkzeichens "G" als gewohnheitsrechtlich anerkannt zu betrachten sind (so auch LSG für das Land Nordrhein-Westfalen,
Urteil vom 16. Dezember 2009 - L 10 SB 39/09 -). Hinzu kommt, dass mit ihrer Verrechtlichung durch die VersMedV keine Änderung des Rechtszustandes beabsichtigt war, da sie materiell die Regelungen zum Merkzeichen "G" unverändert aus
den AHP übernommen hat. Den genannten Bedenken hat der Gesetzgeber inzwischen mit dem Gesetz vom 7. Januar 2015 (BGBl. II
S. 15) Rechnung getragen, indem er in §
70 Abs.
2 SGB IX mit Wirkung ab 15. Januar 2015 das Bundesministerium für Arbeit und Soziales ermächtigt hat, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung
des Bundesrates die Grundsätze aufzustellen, die für die medizinische Bewertung des Grades der Behinderung und die medizinischen
Voraussetzungen für die Vergabe von Merkzeichen maßgebend sind, die nach Bundesrecht im Schwerbehindertenausweis einzutragen
sind. Nach Ansicht des Bundessozialgerichts (Urteil vom 11. August 2015 - B 9 SB 1/14 R -, SozR 4-3250 § 69 Nr. 21) verbleibt es für eine Übergangszeit bis zum Erlass einer neuen Rechtsverordnung bei der bisherigen
Rechtslage (vgl. §
159 Abs.
7 SGB IX; hierzu BT-Drucks 18/3190, S. 5).
Die Aufzählung der Regelbeispiele in Teil D Nr. 1d bis Nr. 1f der Anlage zu § 2 VersMedV enthält indes keine abschließende Listung der in Betracht kommenden Behinderungen aus dem Formenkreis einzelner medizinischer
Fachrichtungen: Anspruch auf den Nachteilsausgleich G hat - über die genannten Regelbeispiele hinausgehend - vielmehr auch
der schwerbehinderte Mensch, der nach Prüfung des einzelnen Falles aufgrund anderer Erkrankungen mit gleich schweren Auswirkungen
auf die Gehfunktion und die zumutbare Wegstrecke dem beispielhaft aufgeführten Personenkreis gleichzustellen ist (siehe BSG, Urteil vom 11. August 2015 - B 9 SB 1/14 R -, SozR 4-3250 § 69 Nr. 21). Denn der umfassende Behindertenbegriff im Sinne des §
2 Abs.
1 Satz 1
SGB IX gebietet im Lichte des verfassungsrechtlichen als auch des unmittelbar anwendbaren UN-konventions-rechtlichen Diskriminierungsverbots
(Art.
3 Abs.
3 Satz 2
GG; Art.
5 Abs.
2 UN-BRK) die Einbeziehung aller körperlichen, geistigen und seelischen Beeinträchtigungen. Den nicht erwähnten Behinderungen
sind die Regelbeispiele als Vergleichsmaßstab zur Seite zu stellen (vgl. BSG, Urteil vom 11. August 2015 a.a.O. unter Hinweis auf das Urteil vom 13.8.1997 - 9 RVs 1/96 -, SozR 3-3870 § 60 Nr. 2).
Der Kläger erfüllt danach die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens G, da er infolge seiner Behinderung in
seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt ist. Dies hat das Sozialgericht auf der Grundlage der
tatsächlichen Feststellungen des Sachverständigen überzeugend herausgearbeitet, wobei es entgegen der Auffassung des Beklagten
unerheblich ist, ob der Einzel-GdB für die Funktionseinschränkungen der Beine mit 30 oder 40 zu bewerten ist. Der Senat folgt
den zutreffenden Gründen der erstinstanzlichen Entscheidung und sieht nach §
153 Abs.
2 SGG von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG.
Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§
160 Abs.
2 SGG) sind nicht erfüllt.