Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist die Feststellung einer Wirbelsäulenerkrankung des Klägers als Berufskrankheit (BK) nach Nr. 2108,
2109 und 2110 der Anlage 1 zur
Berufskrankheitenverordnung (
BKV; im Folgenden BK 2108, 2109 und 2110) bzw. als Wie-BK streitig.
Der 1938 geborene Kläger absolvierte von März 1953 bis Dezember 1956 eine Lehre zum Dachdecker. Er arbeitete sodann von Dezember
1956 bis Oktober 1959 und von Oktober 1960 bis August 1970 in diesem Beruf. Im Anschluss hieran bezog er eine Berufsunfähigkeitsrente
und durchlief eine Umschulung. Von 1973 bis 1975 war der Kläger als Versicherungskaufmann beschäftigt. Anschließend ging er
einer selbständigen Tätigkeit als Kaufmann (Autoschilderhersteller im Kfz-Bereich) nach.
Im Februar 2010 beantragte der Kläger bei der Beklagten die Feststellung einer BK. Er reichte u. a. Berichte der radiologischen
Praxis Dres. B und Kollegen vom 04. und 09. Mai 2005 ein. Aus den Berichten geht hervor, dass die Ärzte beim Kläger am 03.
Mai 2005 eine Knochenszintigraphie und eine Computertomographie durchgeführt und dass sich hierbei - in den Berichten im Einzelnen
beschriebene - degenerative Veränderungen der Wirbelsäule gezeigt hatten.
Mit Schreiben vom 25. Juni 2010 unterrichtete die Beklagte das Landesinstitut für Gesundheit und Arbeit des Landes Nordrhein-Westfalen
(LIGA) davon, dass ihres Ereachtens eine BK nicht vorliege.
Mit Bescheid vom 07. Dezember 2010 lehnte die Beklagte es unter Bezugnahme auf §
9 Abs.
1 und Abs.
2 Sozialgesetzbuch Siebtes Buch (
SGB VII) ab, beim Kläger das Vorliegen einer BK 2108, 2109 oder 2110 bzw. einer Wie-BK festzustellen. Zur Begründung führte sie im
Wesentlichen an: Eine bandscheibenbedingte Erkrankung der Wirbelsäule könne erst aufgrund der Zweiten Verordnung zur Änderung
der
Berufskrankheiten-Verordnung vom 18. Dezember 1992 (2. Änd-VO; BGBl. I S. 2343) als BK anerkannt werden. Für die neu in die Anlage zur
BKV aufgenommenen Krankheiten bestimme Art. 2 Abs. 2 der 2. Änd-VO, dass nur dann eine BK anzuerkennen sei, wenn der Versicherungsfall nach dem 31. März 1988 eingetreten sei.
Der Eintritt des Versicherungsfalls setze nicht nur voraus, dass es aufgrund der bandscheibenbedingten Wirbelsäulenerkrankung
zur Aufgabe aller Tätigkeiten gekommen ist, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit
ursächlich waren oder sein können; es sei zudem erforderlich, dass die Aufgabe der schädigenden Tätigkeit nach dem 31. März
1988 erfolgte. Da der Kläger die schädigende Tätigkeit als Dachdecker bereits im Jahr 1970 aufgegeben habe, seien seine Wirbelsäulenbeschwerden
nicht als BK anzuerkennen. Ansprüche aus der gesetzlichen Unfallversicherung seien daher nicht gegeben.
Hiergegen legte der Kläger am 14. Januar 2011 Widerspruch ein. Er machte geltend, der Versicherungsfall sei bei den BKen nicht
die Aufgabe der gefährdenden Tätigkeiten, sondern die Manifestation der BK im Vollbild.
Mit Widerspruchsbescheid vom 28. April 2011 wies die Beklagte den Widerspruch des Klägers zurück. Sie begründete ihre Entscheidung
damit, dass zum Versicherungsfall der BKen 2108, 2109 und 2110 ausweislich des Verordnungstextes auch die Aufgabe aller belastenden
bzw. gefährdenden Tätigkeiten gehöre.
Hiergegen hat der Kläger Klage vor dem Sozialgericht Berlin (SG) erhoben und vorgetragen, für den Versicherungsfall komme es darauf an, wann der Zustand der Krankheit oder die Minderung
der Erwerbsfähigkeit aufgetreten sei. Diese müssten nicht gleichzeitig mit der Beendigung der gefährdenden Tätigkeit aufgetreten
sein. Es dauere Jahre bis Jahrzehnte, bis aus Fehlhaltungen ein Schaden an der Wirbelsäule entstehe.
Das SG hat die auf Feststellung einer BK 2108, 2109 und 2100, hilfsweise einer Wie-BK und Gewährung von Verletztenrente gerichtete
Klage durch Gerichtsbescheid vom 18. Juli 2012 abgewiesen.
Die Klage sei insoweit bereits unzulässig, als der Kläger die Gewährung von Verletztenrente begehre, Denn hierüber habe die
Beklagte in dem angefochtenen Verwaltungsakt nicht entschieden.
Soweit der Kläger die Feststellung einer BK 2108, 2109 und 2110, hilfsweise einer Wie-BK begehre, sei die Klage zwar zulässig,
aber unbegründet. Weder nach dem bis zum 31. Dezember 1996 geltenden § 551 Abs. 1
Reichsversicherungsordnung (
RVO) noch nach dem seitdem geltenden §
9 Abs.
1 SGB VII komme hier die Anerkennung eiern BK in Betracht.
Nach beiden Vorschriften gelte auch eine BK als Arbeitsunfall. BKen seien die Krankheiten, welche die Bundesregierung durch
Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates bezeichne und die ein Versicherter bei einer versicherten Tätigkeit erleide
(§ 551 Abs. 1 Satz 2
RVO bzw. §
9 Abs.
1 Satz 1
SGB VII). Die Bundesregierung sei ermächtigt, in der Rechtsverordnung solche Krankheiten als BKen zu bezeichnen, die nach den Erkenntnissen
der medizinischen Wissenschaft durch besondere Einwirkungen verursacht sind, denen bestimmte Personengruppen durch ihre versicherte
Tätigkeit in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung ausgesetzt sind; sie könne BKen auf bestimmte Gefährdungsbereiche
beschränken oder mit dem Zwang zur Unterlassung aller gefährdenden Tätigkeiten versehen (§ 551 Abs. 1 Satz 3
RVO bzw. §
9 Abs.
1 Satz 2
SGB VII).
Gemäß diesen Vorgaben ließen sich bei einer Listen-BK im Regelfall folgende Tatbestandsmerkmale ableiten, die ggf. bei einzelnen
Listen-BKen einer Modifikation bedürfen: Die Verrichtung einer - grundsätzlich - versicherten Tätigkeit (sachlicher Zusammenhang)
muss zu Einwirkungen von Belastungen, Schadstoffen oder Ähnlichem auf den Körper geführt haben (Einwirkungskausalität), und
die Einwirkungen müssen eine Krankheit verursacht haben (haftungsbegründende Kausalität). Die Tatbestandsmerkmale "versicherte
Tätigkeit", "Verrichtung", "Einwirkungen" und "Krankheit" müssten im Sinne des Vollbeweises, also mit an Gewissheit grenzender
Wahrscheinlichkeit, vorliegen.
Der Verordnungsgeber habe in der Anlage 1 zur
BKV die BKen 2108, 2109 bzw. 2110 wie folgt er fasst:
Nr. 2108: "Bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule durch langjähriges Heben oder Tragen schwerer Lasten oder
durch langjährige Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für
die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben ursächlich waren oder sein können".
Nr. 2109: "Bandscheibenbedingte Erkrankungen der Halswirbelsäule durch langjähriges Tragen schwerer Lasten auf der Schulter,
die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben
der Krankheit ursächlich waren oder sein können".
Nr. 2110: "Bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule durch langjährige, vorwiegend vertikale Einwirkung von
Ganzkörper-Schwingungen im Sitzen, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung
oder das Wiederaufleben ursächlich waren oder sein können".
Diese BKen seien durch die 2. Änd-VO in die Anlage 1 zur
BKV aufgenommen worden. Gemäß §
6 Abs.
4 BKV könne eine durch die 2. Änd-VO eingeführte BK nur dann als BK anerkannt werden, wenn der Versicherungsfall nach dem 31. März
1988 eingetreten sei. Diese auf Art. 2 Abs. 2 der 2. Änd-VO zurückgehende Begrenzung der Einbeziehung früherer Versicherungsfälle
in den Versicherungsschutz sei nicht nur von der Ermächtigung des § 551 Abs. 1
RVO bzw. des § 9 Abs. 1
RVO gedeckt, sondern auch verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden (Urteile des Bundessozialgerichts [BSG] vom 25. August 1994
- 2 RU 42/93 -, in SozR 3-2200 § 551 Nr. 6 und vom 19. Januar 1995 - 2 RU 14/94 -, in juris).
Der Versicherungsfall der BK trete erst dann ein, wenn sämtliche Tatbestandsmerkmale der in der
BKV aufgeführten Krankheit erfüllt seien. Im vorliegenden Fall sei der Versicherungsfalle- sofern ein solcher sich überhaupt
verwirklicht habe - jedenfalls vor dem 31. März 1988 eingetreten, denn der Kläger habe die angeschuldigte wirbelsäulenbelastende
Tätigkeit als Dachdecker im Jahr 1970 aufgegeben, d. h. der von den drei BK-Tatbeständen geforderte Zwang zur "Unterlassung
aller Tätigkeiten...., die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben ursächlich waren oder sein können",
habe letztmalig im Jahr 1970 eintreten können. Sofern die Einwirkungen, denen der Kläger bis 1970 ausgesetzt gewesen sei,
eine Erkrankung der Wirbelsäule verursachten haben sollten, so wäre das Krankheitsbild jedenfalls vor dem 31. März 1988 vorhanden
gewesen. Die Wahrscheinlichkeit des Ursachenzusammenhangs nehme mit der Länge des Zeitraums zwischen dem Ende der Exposition
und der erstmaligen Diagnose ab. Ein durch die Einwirkung von Belastungen i. S. d. BK 2108, 2109 oder 2110 verursachtes Krankheitsbild
könne daher nicht erstmals 18 Jahre nach Unterlassen der gefährdenden Tätigkeit eingetreten sein.
Es handele sich bei der Wirbelsäulenerkrankung auch nicht um eine Wie-BK i. S. d. § 551 Abs. 2
RVO bzw. §
9 Abs.
2 SGB VII. Nach §
9 Abs
2 SGB VII müssten für die Feststellung der Wie-BK folgende Voraussetzungen erfüllt sein: (1) Ein "Versicherter" müsse die Feststellung
einer bestimmten Krankheit als Wie-BK beanspruchen, (2) die Voraussetzungen einer in der Anlage 1 zur
BKV bezeichneten Krankheit dürften nicht erfüllt sein, (3) die Voraussetzungen für die Bezeichnung der geltend gemachten Krankheit
als Listen-BK durch den Verordnungsgeber nach §
9 Abs
1 Satz 2
SGB VII müssten vorliegen; es müsse eine bestimmte Personengruppe durch die versicherte Tätigkeit besonderen Einwirkungen in erheblich
höherem Grade als die übrige Bevölkerung ausgesetzt (gewesen) sein, und es müssten medizinisch-wissenschaftliche Erkenntnisse
über das Bestehen einer Einwirkungs- und Verursachungsbeziehung vorliegen, (4) diese medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisse
müssten neu sein und (5) im Einzelfall müssten die abstrakten Voraussetzungen der Wie-BK konkret erfüllt sein.
Für die Zeit nach dem 31. März 1988 komme die Feststellung einer Wie-BK schon deshalb nicht in Betracht, weil durch die Aufnahme
der BK 210, 2109 und 2110 in die Anlage 1 zur
BKV rückwirkend ab dem 01. April 1988 entsprechende Listen-BKen geschaffen worden seien. Zu prüfen sei daher lediglich, ob bis
zum 31. März 1988 ein Anspruch des Klägers auf Feststellung einer Wie-BK entstanden und durch die spätere Aufnahme der BKen
2108, 2109 und 2110 in die Anlage 1 zur
BKV nicht wieder erloschen sei. Dies sei hier nicht der Fall, da neue medizinisch-wissenschaftliche Erkenntnisse im oben genannten
Sinne für die Zeit bis zum 31. März 1988 nicht vorgelegen hätten. Vielmehr hätten solche Erkenntnisse erst nach dem Inkrafttreten
derjenigen Verordnung vorgelegen, welche der 2. Änd-VO vorangegangen sei; hierbei handele es sich um die Verordnung zur Änderung
der
Berufskrankheiten-Verordnung vom 22. März 1988 (1. Änd-VO; BGBl. I S. 400), welche zum 01. April 1988 in Kraft getreten sei. Auf diesen Rückwirkungszeitraum
(ab dem 01. April 1988) habe der Verordnungsgeber der 2. Änd-VO die Rückwirkung erstreckt. Die Rückwirkungsvorschrift des
Art. 2 Abs. 2 der 2. Änd-VO schließe somit auch aus, für alte Versicherungsfälle außerhalb des vorgeschriebenen Rückwirkungszeitraums
noch eine Wie-BK festzustellen (Urteil des BSG vom 25. August 1994 - 2 RU 42/93 -, in SozR 3-2200 § 551 Nr. 6).
Gegen den am 30. Juli 2012 zugestellten Gerichtsbescheid richtet sich die am 03. August 2012 bei dem Landessozialgericht Berlin-Brandenburg
(LSG) eingegangene Berufung, mit der der Kläger sein erstinstanzliches Begehren fortführt. Er ist der Auffassung, die Klage
auf Verletztenrente sei zulässig. Hierzu existiere eine jahrzehntelange gewohnheitsrechtliche Praxis der Sozialgerichte. Darüber
hinaus verkenne das SG die rechtliche Grundlage des § 551 Abs. 2
RVO.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 18. Juli 2012 sowie den Bescheid der Beklagten vom 07. Dezember 2010 in
der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. April 2011 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen,
1. seine Wirbelsäulenerkrankung als BK 2108, 2109 und 2110, hilfsweise als Wie-BK anzuerkennen und
2. ihm Entschädigungsleistungen, insbesondere eine Verletztenrente zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend.
Durch Beschluss des Senats vom 21. September 2012 ist der Rechtsstreit gemäß §
153 Abs.
5 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) der Berichterstatterin als Einzelrichterin zur Entscheidung mit den ehrenamtlichen Richtern übertragen worden.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der
beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.
Die Klage ist entgegen der Auffassung des Klägers - wie das SG zutreffend unter Bezugnahme auf die ständige Rechtsprechung des BSG dargelegt hat - insoweit unzulässig und die Berufung daher unbegründet, als der Kläger die Gewährung von "Entschädigungsleistungen,
insbesondere in Form von Verletztenrente" begehrt. Die Beklagte hat in ihrem angefochtenen Bescheid erkennbar nicht über die
Gewährung eiern konkreten Leistung entschieden. Der Antrag auf "Entschädigungsleistungen" ist im Übrigen mangels vollstreckbaren
Inhalts unzulässig.
Die Berufung war daher zurückzuweisen.