Rentenversicherung
Aufhebung und Erstattungsbescheid
Rückforderung für die Vergangenheit
Zugangszweifel
Adressierung
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit eines Rücknahme- und Erstattungsbescheides.
Der Kläger ist Vater und Betreuer der am 17. November 1975 geborenen A. J ... Sie ist aufgrund einer Behinderung untergebracht,
die Kosten übernahm zunächst das Landesamt für Soziales und Familie - Landessozialamt S. -, ab Juli 2003 der Landkreis S ...
Der Kläger beantragte für seine Tochter Invalidenrente für Behinderte, die die Rechtsvorgängerin der Beklagten, die Bundesversicherungsanstalt
für Angestellte (BfA), mit Bescheid vom 7. April 1994 unter der Versicherungsnummer 38 171175 J 505 ab 1. Dezember 1993 bewilligte.
Die Rente wurde monatlich auf das Konto des Klägers gezahlt.
Das Landessozialamt S. stellte mit Schreiben vom 30. April 1994 bei der BfA für die Tochter des Klägers selbst Antrag auf
Invalidenrente für Behinderte. Mit Bescheid vom 26. Januar 1995 bewilligte die BfA der Tochter des Klägers unter der Versicherungsnummer
38 171175 J 502 erneut Invalidenrente für Behinderte ab dem 1. Juni 1994. Die Rente wurde direkt auf das Konto des Landessozialamtes
S. überwiesen. Der Bescheid vom 26. Januar 1995 ist an den Kläger adressiert und ausweislich eines Vermerks in der Verwaltungsakte
der BfA am 26. Januar 1995 an ihn gesandt worden. Ob er den Bescheid erhalten hat, lässt sich nicht mehr feststellen.
Im April 2006 fiel der Beklagten im Rahmen der Bearbeitung auf, dass zwei Renten gezahlt werden. Der Kläger wurde mit Schreiben
vom 10. Mai 2006 zur beabsichtigten Aufhebung und Rückforderung eines Betrages von 35.571,82 EUR angehört. Das Schreiben war
an ihn adressiert, es wurde aber auch darauf hingewiesen, dass die Versicherte seine Tochter ist. Der Kläger wurde darauf
hingewiesen, dass die Beklagte "die Rentenangelegenheit Ihrer Tochter A. J." geprüft und dabei festgestellt habe, dass "für
die Zeit ab 01.06.1994 sowohl an Sie als auch an das Landessozialamt S. (ab Juli 2003 an das Landratsamt S.) gezahlt wurde".
Weiterhin wurde mitgeteilt, dass "die Rentenzahlung für die Zeit ab 01.06.1994 an das Landessozialamt S. mit Bescheid vom
26.01.1995 an Sie" festgestellt wurde. Es sei beabsichtigt, die gezahlten Beträge in Höhe von 35.571,82 EUR "von Ihnen zurückzufordern".
Der Kläger wies mit Schreiben vom 17. Mai 2006 darauf hin, dass er von einer zweiten Rentenzahlung erst mit Eingang des Anhörungsschreibens
in Kenntnis gesetzt wurde. Die Rente seiner Tochter sei ausschließlich für sie verwendet worden.
Mit Bescheid vom 29. Mai 2006 hob die Beklagte den Bescheid vom 7. April 1994 ab dem 1. Juni 1994 nach § 48 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB X) auf. Sie verfügte darüber hinaus: "Die dadurch entstandene Überzahlung in Höhe von 35.571,82 EUR haben Sie uns gemäß § 50 SGB X zu erstatten." Der Bescheid ist an den Kläger adressiert, als Versicherte wird seine Tochter genannt. Es findet sich wiederum
die Formulierung, dass die Beklagte die "Rentenangelegenheit Ihrer Tochter A. J." geprüft habe. Auch die weiteren im Anhörungsschreiben
verwendeten Formulierungen sind im Bescheid enthalten. Letztlich stellte die Beklagte im Hinblick auf den Erstattungsbetrag
fest: "Diesen Betrag haben Sie uns gemäß § 50 SGB X zu erstatten." Ermessenserwägungen enthält der Bescheid nicht. Der Kläger legte dagegen Widerspruch ein. Im Rahmen des Widerspruchsverfahrens
erließ die Beklagte am 7. November 2006 einen neuen Bescheid. Er war wiederum an den Kläger adressiert und wies als Versicherte
seine Tochter aus. Die Beklagte verfügte hierin, dass nicht mehr der Bescheid vom 7. April 1994 aufgehoben werde, sondern
gemäß § 45 SGB X der Bescheid vom 26. Januar 1995 von Beginn an (1. Juni 1994). Für die Bescheidaufhebung gälten die gleichen Gründe wie im
Bescheid vom 29. Mai 2006. Erneut verfügte die Beklagte im Hinblick auf den Erstattungsbetrag von 35.571,82 EUR: "Diesen Betrag
haben Sie uns gemäß § 50 SGB X zu erstatten." Ermessenserwägungen finden sich im Bescheid nicht.
Den hiergegen eingelegten Widerspruch des Klägers wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 24. Januar 2007 zurück. Der
Widerspruchsbescheid ist ebenfalls an den Kläger adressiert und weist als Versicherte seine Tochter aus. Die Widerspruchsstelle
habe "Ihren Widerspruch" geprüft und beschlossen, dass die Widersprüche zurückgewiesen werden. Im Rahmen des § 45 SGB X müssten besondere Umstände vorliegen, um von einer Rücknahme im Wege des Ermessens abzusehen. Derartige Umstände seien nicht
erkennbar.
Das Sozialgericht Meiningen hat mit Urteil vom 1. April 2009 den Bescheid vom 29. Mai 2006 in der Gestalt des Bescheides vom
7. November 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. Januar 2007 aufgehoben. Die Voraussetzungen für eine Rücknahme
für die Vergangenheit seien nicht gegeben. Mangels nachweisbaren Zugangs des Bescheides vom 26. Januar 1995 könne nicht von
einer Kenntnis der Rechtswidrigkeit ausgegangen werden. Im Hinblick auf die Ähnlichkeit der Versicherungsnummern und des Umstandes,
dass grundsätzlich nicht damit zu rechnen sei, dass für eine Person zwei Versicherungsnummern vergeben werden, sei fraglich,
ob der Kläger dies als Hinweis auf eine Doppelzahlung hätte verstehen müssen. Darüber hinaus sei § 45 SGB X eine Ermessensentscheidung. Es liege ein Fehlgebrauch des Ermessens vor, da die Beklagte in ihre Ermessenserwägungen nicht
einbezogen habe, dass die zweite Zahlung durch eigene Fehler verursacht wurde und der Kläger an der zweiten Auszahlung nicht
mitgewirkt habe. Letztlich sei die Rückforderung vom 29. Mai 2006, wie auch der Widerspruchsbescheid, an den falschen Adressaten
gerichtet. Der Kläger sei lediglich Vertreter seiner Tochter gewesen. Eine Inanspruchnahme des Klägers in seiner Funktion
als Vertreter komme aber nur in Betracht, soweit er seine Vertretungsbefugnis überschritten habe. Davon könne hier nicht ausgegangen
werden. Eine Rückforderung nach § 50 Abs. 1 Satz 1 SGB X komme letztlich auch deswegen nicht in Betracht, weil der Kläger nichts erlangt habe.
Im Berufungsverfahren macht die Beklagte geltend, nachdem sie die Bekanntgabe des Rentenbewilligungsbescheides vom 26. Januar
1995 gegenüber dem Kläger nicht beweisen könne, werde die Rückforderung nunmehr auf § 50 Abs. 2 SGB X gestützt. Eine Auswechselung der Rechtsgrundlage sei möglich.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Meiningen vom 1. April 2009 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er ist der Meinung, dass es für eine Inanspruchnahme keine gesetzliche Grundlage gibt. Er könne zudem nicht als Vertreter
in Anspruch genommen werden.
In der mündlichen Verhandlung am 18. Dezember 2012 haben sich die Beteiligten ausdrücklich dazu erklärt, dass der Bescheid
vom 7. April 1994 nicht aufgehoben wird.
Zur Ergänzung des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Prozessakte und der Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen, der
Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung ist unbegründet. Das Sozialgericht hat zu Recht die nunmehr streitgegenständliche Rücknahme- und Erstattungsentscheidung
vom 7. November 2006 in Gestalt des Widerspruchbescheids vom 24.Januar 2007 aufgehoben. Diese ist rechtswidrig und verletzt
den Kläger in seinen Rechten.
Die Voraussetzungen für eine Rücknahme nach § 45 Abs. 1 Satz 1 SGB X liegen nicht vor. Hiernach darf ein Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder
bestätigt hat (begünstigender Verwaltungsakt), soweit er rechtswidrig ist, unter den Einschränkungen § 45 Abs. 2 bis 4 SGB X ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden. Die Formulierung "darf"
zeigt, dass die Entscheidung im Ermessen der Behörde liegt.
Die Beklagte hat ermessensfehlerhaft entschieden. Hierbei hat sie zum einen den Umfang der Ermessensausübung verkannt. Soweit
sie im Widerspruchsbescheid, der allein eine Ermessensausübung erwähnt, ausführt, dass nur bei besonderen Umständen von einer
vollständigen Rücknahme abzusehen sei, legt sie ihrer Entscheidung ein Regel-Ausnahme-Verhältnis zugrunde, welches das Gesetz
nicht kennt. § 45 Abs. 1 Satz 1 SGB X geht nicht davon aus, dass bei rechtswidriger Leistungsbewilligung grundsätzlich zurückzunehmen ist. Anders als beispielsweise
in § 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X, in dem sich die Formulierung findet, dass ein Verwaltungsakt aufgehoben werden "soll", will der Gesetzgeber eine vollständige
Prüfung der für und gegen eine Rücknahme sprechenden Umstände. Zum anderen hat die Beklagte nicht alle wesentlichen Punkte
berücksichtigt. Die Behörde ist zwar in der Regel frei, auf welche Unstände sie bei der Ermessensausübung abstellen will.
Das Ermessen ist jedoch gerichtlich dahin zu überprüfen, ob die Verwaltung bei ihrer Entscheidung alle wesentlichen Umstände
berücksichtigt hat (vgl. Steinwedel in Kasseler Kommentar, Sozialversicherungsrecht, Stand Juni 2012, § 45 SGB X Rn. 54 m.w.N.). Die Beklagte hat bei ihrer Entscheidung aber nicht in die Ermessenserwägung einbezogen, dass die Überzahlung
nicht durch den Kläger verursacht wurde, sondern auf einem groben Verschulden der BfA beruhte. Diesen Gesichtspunkt hat sie
ausweislich des Widerspruchbescheids weder im Rahmen des Vertrauensschutzes noch im Rahmen der Ermessensentscheidung geprüft,
obwohl er sich hier aufgedrängt hätte.
Die Rücknahmeentscheidung ist im Übrigen auch deswegen rechtswidrig, weil sie zu unbestimmt ist. Nach § 33 Abs. 1 SGB X muss ein Verwaltungsakt inhaltlich hinreichend bestimmt sein. Das Bestimmtheitserfordernis verlangt zunächst, dass der Verfügungssatz
eines Verwaltungsaktes nach seinem Regelungsgehalt in sich widerspruchsfrei ist und den Betroffenen bei Zugrundelegung der
Erkenntnismöglichkeiten eines verständigen Empfängers in die Lage versetzen muss, sein Verhalten daran auszurichten; es muss
für die Beteiligten vollständig, klar und unzweideutig erkennbar sein, was die Behörde will (vgl. Bundessozialgericht (BSG), Urteil vom 15.12.2010 - Az.: B 14 AS 92/09 R, nach juris Rn. 18 m.w.N.). Auch der Adressat des Verwaltungsaktes muss erkennbar sein (vgl. Krasney in Kasseler Kommentar,
Sozialversicherungsrecht, Stand Juni 2012, § 33 Rn. 4). Das BSG hat für den Fall einer Vertretung im Anschluss an die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) entschieden, dass zwar der
Adressat des Verwaltungsaktes nicht unbedingt im Anschriftenfeld des Bescheides bezeichnet werden muss; werde dort nur der
Bevollmächtigte genannt, genüge es, dass der Adressat jedenfalls aus dem sonstigen Inhalt des Bescheides mit einer jeden Zweifel
ausschließenden Sicherheit entnommen werden kann (vgl. BSG, Urteil vom 21.02.1985 - Az.: 11 RA 6/84, nach juris Rn. 13 mit Hinweisen zur Rechtsprechung des BFH).
Diesen Anforderungen genügt die Rücknahmeentscheidung nicht. Es ist hier sowohl die Auslegung möglich, dass der Kläger selbst
Adressat war, als auch dass er nur als Vertreter seiner Tochter die Bescheide erhielt. Für die erste Auslegung spricht, dass
der nunmehr noch streitgegenständliche Bescheid vom 29. Mai 2006 wie der vorhergehende Bescheid und das Anhörungsschreiben
an den Kläger ohne Vertretungszusatz adressiert war. Der Kläger wurde auch immer persönlich angesprochen. Es finden sich weiter
sowohl im Anhörungsschreiben als auch im Bescheid vom 29. Mai 2006 die Formulierungen, dass die Rente "an Sie", also den angesprochenen
Kläger festgestellt und gezahlt wurde. Dies lässt die Deutung zu, dass die Behörde davon ausging, dass die Rente an ihn gezahlt
wurde und nun ihm gegenüber zurückgenommen werden müsse. Andererseits findet sich der Hinweis, dass die Versicherte die Tochter
des Klägers sei und dass es sich um die "Rentenangelegenheit Ihrer Tochter A. J." handle. Dies spricht dafür, dass der Kläger
nur als Vertreter gemeint war. Die Unklarheit, wer Adressat ist, wurde auch nicht durch den Widerspruchsbescheid ausgeräumt.
Die Beklagte hat ausdrücklich über Widersprüche des Klägers, nicht über die seiner Tochter entschieden. Auch im Widerspruchsbescheid
findet sich keine Klarstellung. Die sich so ergebenden Zweifel gehen zu Lasten der Beklagten.
Da die Rücknahmeentscheidung bereits wegen fehlender Bestimmtheit und wegen fehlerhafter Ermessensausübung rechtswidrig ist,
braucht der Senat nicht zu entscheiden, ob die übrigen Voraussetzungen des § 45 SGB X, insbesondere das Entfallen des Vertrauensschutzes gegeben sind. Weitere Ermittlungen sind nicht veranlasst.
Aufgrund der Rechtswidrigkeit der Rücknahmeentscheidung kommt eine Erstattung nach § 50 Abs. 1 SGB X nicht in Betracht. Entgegen der Auffassung der Beklagten kann die Erstattungsentscheidung auch nicht auf § 50 Abs. 2 Satz 1 SGB X gestützt werden.
Der Senat kann offen lassen, ob ein solches Auswechseln der Rechtsgrundlage zulässig ist, weil die Voraussetzungen dieser
Vorschrift nicht vorliegen. Hiernach sind Leistungen zu erstatten, soweit sie ohne Verwaltungsakt zu Unrecht erbracht worden
sind. Die Beklagte geht allerdings selbst davon aus, dass die zweite Invalidenrente aufgrund eines Verwaltungsaktes gezahlt
wurde, nämlich aufgrund des Bescheides vom 26. Januar 1995. Darüber hinaus gelten nach § 50 Abs. 2 Satz 2 SGB X die §§ 45 und 48 SGB X entsprechend. Da es sich um eine anfänglich rechtswidrige Leistung handelt, ist der Anwendungsbereich des § 45 SGB X betroffen, so dass eine Ermessensentscheidung zu treffen ist. Dies hat die Beklagte nicht getan. Letztlich hat sie dem Kläger
auch keine Leistungen erbracht. Das "Erbringen" umfasst die Erfüllungshandlung der Behörde und den Erfolg. Erforderlich ist
ein bewusstes und zweckgerichtetes Handeln des Leistungsträgers, das beim Leistungsempfänger zu einer Vermögensmehrung führt.
Das Gesetz sagt nicht ausdrücklich, wer Erstattungsgläubiger und wer Erstattungsschuldner ist. Aus dem Sinnzusammenhang ergibt
sich aber, dass die Erstattung diejenige Behörde verlangen kann, die die Leistung erbracht hat, und erstattungspflichtig derjenige
ist, dem die Leistung erbracht wurde (vgl. Freischmidt in Hauck/Noftz, SGB X, Stand Juni 2012, § 50 Rn. 13a). Dem Kläger wurden durch die BfA keine Leistungen erbracht. Die hier als Erstattung geltend gemachte "zweite" Invalidenrente
für seine Tochter wurde direkt an das Landessozialamt S. ausgezahlt. Der Senat kann offen lassen, ob hierdurch dem Landessozialamt
S. oder der Tochter des Klägers etwas erbracht wurde. In keinem Fall ist es bei dem Kläger selbst zu einer Vermögensmehrung
gekommen.
Die Revision war nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des §
160 Abs.
2 SGG nicht vorliegen.