Sozialhilferecht - Haushaltsgemeinschaft, Kriterien für die Beurteilung der Leistungsfähigkeit eines mit einem Hilfesuchenden
in - lebenden Angehörigen; Sozialhilfe, Kriterien für die Beurteilung der Leistungsfähigkeit eines mit einem Hilfesuchenden
in Haushaltsgemeinschaft lebenden Angehörigen
Gründe:
I.
Der im Februar 1960 geborene Kläger begehrt vom Beklagten laufende Hilfe zum Lebensunterhalt. Er lebt seit 1986 mit seinem
Vater in einer 39 qm großen Einzimmerwohnung, deren Miete zunächst 420 DM, im streitgegenständlichen Zeitraum (August bis
Oktober 1995) sodann 457 DM monatlich betrug. Der Vater bezog in dieser Zeit monatlich eine Erwerbsunfähigkeitsrente in Höhe
von 1706,52 DM und eine Unfallrente in Höhe von 315,40 DM. Der Kläger ist erwerbslos.
Von 1986 bis einschließlich Juli 1995 hatte der Kläger vom Beklagten Hilfe zum Lebensunterhalt in Höhe von zuletzt 631 DM
(421 DM Regelsatz und 210 DM hälftige Mietkosten) erhalten. Mit Bescheid vom 18. Juli 1995 stellte der Beklagte die Zahlung
von Hilfe zum Lebensunterhalt mit Wirkung vom 1. August 1995 ein, weil eine Prüfung gemäß § 16 BSHG ergeben habe, daß das Renteneinkommen des Vaters ausreiche, um den notwendigen Lebensunterhalt des Klägers sicherzustellen.
Das Verwaltungsgericht hat die nach erfolglosem Widerspruch (Widerspruchsbescheid vom 26. Oktober 1995) erhobene Klage auf
Bewilligung von Sozialhilfe in Höhe von 631 DM monatlich für die Monate August 1995 bis Oktober 1995 abgewiesen. Auf die Berufung
des Klägers hat das Oberverwaltungsgericht den Bescheid vom 18. Juli 1995 in Gestalt des Widerspruchsbescheides aufgehoben
und den Beklagten verpflichtet, dem Kläger für die zeit vom 1. August 1995 bis zum 31. Oktober 1995 laufende Hilfe zum Lebensunterhalt
in Höhe von 438,54 DM monatlich zu bewilligen und die weitergehende Berufung unter Abweisung der Klage im übrigen zurückgewiesen
(FamRZ 1998, 390). Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt:
Zwar sei der Beklagte dem Grunde nach verpflichtet, dem Kläger für den streitgegenständlichen Zeitraum laufende Hilfe zum
Lebensunterhalt zu bewilligen, doch könne der Kläger laufende Leistungen nur in Höhe von monatlich 438,54 DM beanspruchen.
Da er mit seinem Vater in Haushaltsgemeinschaft lebe, sei gemäß § 16 Satz 1 BSHG zu vermuten, daß er von ihm Leistungen zum Lebensunterhalt erhalte, soweit dies nach dem Einkommen und Vermögen des Vaters
erwartet werden könne. Dies sei während des streitgegenständlichen Zeitraumes nur in Höhe eines Betrages von 210,96 DM der
Fall gewesen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts müsse das Einkommen des Verwandten deutlich über dem sozialhilferechtlichen
Bedarf der Hilfe zum Lebensunterhalt liegen und sei es sachgerecht, auf die Empfehlungen des Deutschen Vereins für öffentliche
und private Fürsorge für die Heranziehung Unterhaltspflichtiger in der Fassung vom 10. Juni 1987 zurückzugreifen. Dem sei
mit der Maßgabe zu folgen, daß für den hier gegenständlichen Zeitraum die überarbeitete Fassung der Empfehlungen vom 1. Januar
1995 zugrunde zu legen sei. Danach sei bei dem Vater des Klägers als nicht gesteigert Unterhaltspflichtigem von dem monatlichen
Einkommen in Höhe von 2021,92 DM gemäß den Unterhaltsleitlinien des zuständigen Oberlandesgerichts Hamm ein Eigenbedarf von
im Regelfall mindestens 1600 DM einschließlich der Kosten der Wohnung abzusetzen; besondere Umstände, die ein Abweichen vom
Regelfall geböten, seien nicht ersichtlich und weitere Abzüge über den angemessenen Eigenbedarf hinaus nicht vorzunehmen.
Von dem verbleibenden, über den Eigenbedarf des Unterhaltspflichtigen hinausgehenden Betrag in Höhe von hier 421,92 DM sei
entsprechend der Empfehlung, in der Regel 50 % des Betrages als Unterhalt in Anspruch zu nehmen, ein Einsatz in Höhe von 210,96
DM zur Sicherstellung des notwendigen Lebensunterhalts des Klägers zu erwarten; für ein Abweichen von der Regel lägen keine
Anhaltspunkte vor. Diesem vom Vater zu erwartenden Betrag habe ein Bedarf des Klägers von monatlich 649,50 DM gegenübergestanden,
der sich aus dem ab dem 1. Juli 1995 geltenden Regelsatz von 421 DM für erwachsene Haushaltsangehörige sowie 50 % der monatlichen
Miete, bei einer Miete in Höhe von 457 DM mithin 228,50 DM, berechne. Den nach Abzug des vom Vater einzusetzenden Betrages
von 210,96 DM verbleibenden Betrag in Höhe von 438,54 DM könne der Kläger vom Beklagten als laufenden monatlichen Bedarf beanspruchen.
Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision des Beklagten, mit der er die Abweisung der Klage in vollem Umfang begehrt.
Er rügt Verletzung des § 16 Satz 1 BSHG.
Der Kläger verteidigt das angefochtene Urteil.
II.
Die Revision des Beklagten hat keinen Erfolg. Das Berufungsgericht hat bei Überprüfung des Anspruchs des Klägers auf Hilfe
zum Lebensunterhalt nach §§ 11, 12, 21, 22 BSHG zu Recht entschieden, daß gemäß § 16 Satz 1 BSHG vom Vater des Klägers nach dessen Einkommen und Vermögen Leistungen für den Lebensunterhalt des Klägers nur in Höhe von 210,96
DM erwartet werden konnten.
Mit der Bestimmung des § 16 BSHG, die an die in der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze der Familiennotgemeinschaft anknüpft, soll "nicht auf ein nach
regelsatzmäßigen Gesichtspunkten zu wertendes Einkommen der genannten Angehörigen abgestellt werden, vielmehr soll aus den
Gesamtumständen des Einzelfalles geschlossen werden, ob und in welcher Höhe nach allgemeinen Lebenserfahrungen eine Unterhaltsleistung
erwartet werden kann" (Begründung zum Entwurf eines BSHG, BTDrucks III/1799 S. 40 zu § 15). Dies setzt nach der Rechtsprechung des Senats voraus, daß das dem Verwandten oder Verschwägerten verbleibende Einkommen
deutlich über dem sozialhilferechtlichen Bedarf der Hilfe zum Lebensunterhalt liegt (vgl. zuletzt Urteil vom 29. Februar 1996
- BVerwG 5 C 2.95 - [Buchholz 436.0 § 16 BSHG Nr. 4 = NJW 1996, 2880]).
Das Berufungsgericht hat bei der Prüfung, ob dem nicht gesteigert unterhaltspflichtigen Verwandten Einkommen oberhalb eines
angemessenen Eigenbedarfs zur Verfügung steht, die auf den streitgegenständlichen Zeitraum (l. August 1995 bis zum 31. Oktober
1995) anwendbare überarbeitete Fassung der Empfehlungen des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge für die
Heranziehung unterhaltspflichtiger Personen (NDV 1995, 1 ff.) als Maßstab zugrunde gelegt. Das ist sachgerecht und wird von der Revision zu Unrecht beanstandet.
In seinem Urteil vom 29. Februar 1996 (a.a.O.) hat der Senat bereits die entsprechende Anwendung der im damals streitgegenständlichen
Zeitraum geltenden Empfehlungen des Deutschen Vereins vom 10. Juni 1987 (NDV 1987, 273) als sachgerecht angesehen und zur Begründung ausgeführt, daß die Anwendung dieser Empfehlungen zu einer Gleichbehandlung
der "freiwillig" leistenden Unterhaltspflichtigen mit den herangezogenen führe und vom Unterhaltspflichtigen nach der Lebenserfahrung
erwartet werden könne, daß er freiwillig das zahle, was die Träger der Sozialhilfe einem Unterhaltspflichtigen an Beitrag
zum Lebensunterhalt des Unterhaltsberechtigten zumuteten. Daran ist festzuhalten. Allerdings weisen die beiden Fassungen der
Empfehlungen bei ihren Vorschlägen zur Berechnung der von unterhaltspflichtigen Personen zu erwartenden Leistungen hinsichtlich
des zu belassenden Selbstbehalts für einen angemessenen Eigenbedarf nicht unerhebliche Unterschiede auf. Die Fassung 1987
legt - soweit vorliegend von Interesse - für die Berechnung des angemessenen Eigenbedarfs des Unterhaltspflichtigen den doppelten
Regelsatz (Rn. 108), die vom Unterhaltspflichtigen zu tragenden Kosten der Unterkunft (Rn. 109) sowie zur Erhaltung des angemessenen
Lebensstandards einen Betrag von 10 % des im Sinne des § 76 Abs. 2 BSHG bereinigten Einkommens des Unterhaltspflichtigen zugrunde (Rn. 110). Demgegenüber weist die mit Rücksicht auf die Änderung
des § 91 BSHG durch das Gesetz zur Umsetzung des Föderalen Konsolidierungsprogramms vom 23. Juni 1993 (BGBl I S. 944) überarbeitete Neufassung zur Ermittlung des angemessenen Eigenbedarfs gegenüber volljährigen Kindern unter Hinweis auf Abschnitt
A Anm. 5 der Düsseldorfer Tabelle nur noch den Ausgangsbetrag von 1600 DM aus (Rn. 113), welcher gemäß Rn. 20 der einschlägigen
Leitlinien zum Unterhaltsrecht des zuständigen OLG Hamm den Eigenbedarf des Pflichtigen (Selbstbehalt) einschließlich der
Kosten für die Wohnung decken soll. Beide Fassungen enthalten die weitere Maßgabe, daß von dem über den Eigenbedarf hinausgehenden
Betrag in der Regel 50 % als Unterhalt in Anspruch zu nehmen sind (Rn. 113 der Fassung 1987 bzw. Rn. 117 der Fassung 1995).
Gegen den Rückgriff auf die Neufassung der Empfehlungen auch für die Ermittlung der gemäß § 16 Satz 1 BSHG zu erwartenden Leistungen zum Lebensunterhalt sieht der Senat keine durchgreifenden Bedenken. Zwar orientiert sich die überarbeitete
Fassung bei der Bemessung der Leistungsfähigkeit des zum Unterhalt herangezogenen Angehörigen primär an unterhaltsrechtlichen
Maßstäben des Bürgerlichen Gesetzbuchs, doch gilt bei der Anwendung des § 16 Satz 1 BSHG unverändert der Gesichtspunkt, daß von einem Unterhaltspflichtigen erwartet werden kann, freiwillig das zu zahlen, was die
Träger der Sozialhilfe ihm an Beitrag zum Lebensunterhalt des Unterhaltsberechtigten zumuten können. Die angestrebte Gleichbehandlung
von Unterhaltspflichtigen im Rahmen des § 16 BSHG mit den nach § 91 BSHG herangezogenen Unterhaltspflichtigen besteht auch bei Anknüpfung an die Beträge aus den Leitlinien zum Unterhaltsrecht. Nicht
zu beanstanden ist auch, daß das Berufungsgericht gemäß Rn. 117 der geänderten Empfehlungen von dem über den Eigenbedarf des
Vaters hinausgehenden Betrag von 421,92 DM lediglich 50 %, also 210,96 DM, als gemäß § 16 BSHG zu erwartenden Betrag angesetzt hat. Die für den Regelfall vorgesehene Inanspruchnahme von lediglich 50 % des über den Eigenbedarf
hinausgehenden Betrags ermöglicht es, sozialhilferechtlichen Gesichtspunkten Rechnung zu tragen und Besonderheiten des Einzelfalles
zu berücksichtigen. Daß das Berufungsgericht für die vorliegende Sachverhaltsgestaltung keine vom Regelfall abweichenden Besonderheiten
gesehen hat, ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.
Entgegen der Auffassung des Beklagten ist es auch nicht zu beanstanden, daß das Berufungsgericht bei der Berechnung des sozialhilferechtlichen
Bedarfs des Klägers neben dem Regelsatz für erwachsene Haushaltsangehörige in Höhe von 421 DM einen weiteren Betrag in Höhe
von 228,50 DM als hälftigen Anteil des Klägers an der monatlichen Gesamtmiete zugrunde gelegt hat. Wenn in dem Eigenbedarf
des Pflichtigen in Höhe von mindestens 1600 DM gemäß Rn. 20 der Leitlinien des OLG Hamm schon Kosten für die Wohnung enthalten
sind, folgt daraus nicht, daß sozialhilferechtlich die Unterkunftskosten allein und in voller Höhe beim Vater des Klägers
anzusetzen wären. Es ist vielmehr zu berücksichtigen, daß von einem unterhaltspflichtigen Angehörigen auch im Rahmen des §
16 Satz 1 BSHG nicht erwartet werden kann, daß er über die Grenzen der sozialhilferechtlich zumutbaren Inanspruchnahme durch die Sozialhilfeträger
hinaus die Unterkunftskosten volljähriger Familienangehöriger voll trägt, indem er sie dauernd ohne Kostenbeteiligung bei
sich wohnen läßt. Vielmehr gehört der auf den Kläger entfallende Unterkunftskostenanteil zu dessen Lebensunterhalt, bezogen
auf den zu ermitteln ist, inwieweit Leistungen dafür von seinem mit ihm in Haushaltsgemeinschaft lebenden Vater erwartet werden
können.
Der gegen den Rückgriff auf die Neufassung der Empfehlungen des Deutschen Vereins von 1995 erhobene Einwand des Beklagten,
damit verliere § 16 BSHG neben der Geltendmachung auf den Sozialhilfeträger übergegangener zivilrechtlicher Unterhaltsansprüche jede eigenständige
Bedeutung, geht fehl. Denn für Unterhaltspflichtige, welche - wie der Vater des Klägers - einer Inanspruchnahme nach § 91 BSHG unterliegen, ist die durch sozialhilferechtliche Zumutbarkeitsgesichtspunkte geprägte Möglichkeit einer solchen Inanspruchnahme
ein geeigneter Ausgangspunkt zur Konkretisierung der in § 16 BSHG normierten Leistungserwartung. Es ist nicht der Sinn dieser Vorschrift, die sozialhilferechtliche Hilfeerwartung an unterhaltspflichtige
Angehörige über die gesetzlich vorgesehene Inanspruchnahme durch die Träger der Sozialhilfe hinaus zu erweitern.
Die Kostenentscheidung folgt aus §
154 Abs.
2 VwGO, die Gerichtskostenfreiheit aus §
188 Satz 2
VwGO.