Dauer der Unterhaltspflicht der Eltern für behindertes Kind
Tatbestand:
Der klagende Landschaftsverband nimmt den Beklagten (geb. 1930) als Vater seines behinderten Sohnes S. P. (geb. 9.5.1969)
in Anspruch. Der Beklagte hat zwei weitere gesunde jetzt ebenfalls volljährige Töchter.
S. P. ist seit seiner Geburt schwer geistig behindert, zeigt psychotische Fehlreaktionen und leidet unter Epilepsie. Eine
Besserung seines Zustandes ist nicht zu erwarten. Seit seinem 8. Lebensjahr ist er in Behinderteneinrichtungen untergebracht.
Seit vielen Jahren lebt S. P. für etwa 40 Tage im Jahr, vor allem während der Ferien, in der Familie des Beklagten und wird
dort betreut.
Seit 30 Jahren ist der Beklagte in der Behindertenhilfe engagiert und hat mehr als 400.000 DM für die Behindertenhilfe gespendet.
Für seine Tätigkeit ist er mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet worden.
Die Kosten der Unterbringung und Betreuung trägt der Kläger als Träger der überörtlichen Sozialhilfe im Rahmen der Eingliederungshilfe
nach §§ 39 ff. BSHG. Die Kosten für die Unterbringung und Betreuung haben sich 1994 und 1995 auf ca. 4800 - 5000 DM monatlich belaufen und auf
ca. 5700 bis 6000 DM 1996 bis 1998. Auf die Aufstellung über die erbrachten Leistungen Bl. 66 ff. d.A. wird Bezug genommen.
In der Zeit vom 23.9.1994 - 31.7.1998 hat der Kläger danach insgesamt 219.224,81 + 37.959, 88 DM = 257.184,69 DM für S. P.
unter Berücksichtigung der Leistungen der Pflegeversicherung aufgebracht. Ansonsten ist der Sohn des Beklagten einkommens-
und vermögenslos. Der Beklagte hat in dieser Zeit 148.746,- DM + 25.900,- DM = 174646, - DM an den Kläger für S. P. gezahlt.
Den Differenzbetrag von 82.538,69 DM hat der Kläger mit der Klage als Rückstand geltend gemacht. Ferner hat er für die Zeit
ab 1.8.1998 einen monatlichen Betrag von 5400,- DM geltend gemacht, auf den laufend monatlich 3700,- DM vom Beklagten gezahlt
worden sind.
Der Kläger hat behauptet, der Beklagte verfüge über ein Vermögen von nahezu 7 Millionen DM und laufende Einkünfte von monatlich
ca. 12000 DM.
Der Kläger wohnt in einem eigenen Haus, das seit 4 - 5 Jahren lastenfrei ist.
Für die Zeit ab 1.11.1999 erkennt der Beklagte eine monatliche Leistungspflicht in Höhe von 3700 DM an.
Am 20.9.1994 sei dem Beklagten eine Aufforderung zur Auskunft über seine Einkommens- und Vermögensverhältnisse zugeleitet
worden, die als Rechtswahrungsanzeige anzusehen sei.
Der Kläger hat Auffassung vertreten, daß der Beklagte angesichts seiner sehr guten Einkommens- und Vermögensverhältnisse die
Kosten der Unterbringung in vollem Umfang tragen müsse.
Der Kläger hat beantragt,
den Beklagten zu verurteilen, an ihn
1) 82.538,69 DM nebst 5,88 % Zinsen ab 26.10.1998 sowie
2) die monatlich anfallenden Unterhaltskosten von derzeit durchschnittlich 5.400 DM monatlich, beginnend mit dem 1.8.1998,
zu zahlen.
Der Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er ist der Auffassung, eine über den freiwillig gezahlten Betrag, der ca. 2/3 der entstehenden Kosten ausmache, hinausgehende
Inanspruchnahme sei unbillig und verfassungswidrig.
Durch das angefochtene Urteil hat das Amtsgericht die Klage abgewiesen. Es hat die Auffassung vertreten, eine über 2/3 der
entstehenden Kosten hinausgehende Inanspruchnahme stelle eine unbillige Härte im Sinne des § 91 II 2 BSHG dar, da das von Geburt an behinderte Kind das 27. Lebensjahr vollendet habe und der Verpflichtete schon älter als 65 Jahre
sei. Das gelte auch bei sehr vermögenden Verpflichteten.
Gegen diese Entscheidung richtet sich die Berufung des Klägers.
Er vertritt weiterhin die Auffassung, der Beklagte müsse angesichts seiner guten Vermögens- und Einkommensverhältnisse die
vollen Kosten für seinen behinderten Sohn tragen.
Der Kläger beantragt nunmehr,
den Beklagten zu verurteilen, an den Kläger rückständigen Unterhalt für die Zeit bis zum 31.10.1998 in Höhe von 87.638,69
DM nebst 5,88 % Zinsen seit dem 26.10.1998 zu zahlen,
ferner laufenden Unterhalt in Höhe von 5.400 DM monatlich ab dem 1.11.1998 abzüglich jeweils bis einschließlich Oktober 1999
monatlich geleisteter 3.700 DM zu zahlen, ab 1.11.1999 vom Betrag von 5400 DM einen Teilbetrag von 3700 DM im Wege des Anerkenntnisurteils.
Hinsichtlich der gezahlten monatlichen 3700 DM ab 1.11.1998 erklären die Parteien die Hauptsache übereinstimmend für erledigt.
Der Beklagte beantragt im übrigen,
die Berufung zurückzuweisen.
Er verteidigt das erstinstanzliche Urteil.
Wegen aller weiterer Einzelheiten wird auf den gesamten vorgetragenen Akteninhalt Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung ist auch in der Sache teilweise begründet, im übrigen unbegründet.
Der Unterhaltsanspruch des behinderten Sohnes des Beklagten ist nur in Höhe von 4320,- DM (4/5 des geltend gemachten Gesamtbedarfs)
auf den Kläger übergegangen, eine weitergehende Inanspruchnahme würde eine unbillige Härte nach § 91 II BSHG bzw. § 91 III BSHG a.F. bedeuten, ein weitergehender Rechtsübergang (wirksame Rechtsüberleitung) hat daher nicht stattgefunden.
Da der Beklagte von dem auf den Kläger übergegangenen Anspruch einen Teilbetrag von monatlich 3700,- DM für die Zeit ab 1.11.1999
anerkannt hat, war in Höhe dieses Teilbetrages ein Anerkenntnisurteil zu erlassen. Hinsichtlich des freiwillig gezahlten Teilbetrags
von monatlich 3700,- DM für die Zeit bis zum 31.10.1999 ist die Hauptsache aufgrund der wechselseitigen Erledigungserklärungen
erledigt.
Der Beklagte ist seinem behinderten Sohn gemäß §
1601
BGB auch nach Vollendung des 27. Lebensjahrs unterhaltspflichtig, denn das Zivilrecht sieht eine zeitliche Begrenzung der elterlichen
Unterhaltspflicht für Kinder nicht vor. Der Unterhaltsanspruch umfaßt auch den behinderungsbedingten Mehrbedarf des Kindes
bei Unterbringung in einer Behinderteneinrichtung.
Der Beklagte ist zivilrechtlich leistungsfähig, da er den geforderten Unterhalt ohne Beeinträchtigung auch eines erhöhten
Selbstbehalts aus seinem laufenden Einkommen, das jedenfalls mit 10.000 DM netto monatlich zu bemessen ist, aufbringen kann.
Es kann daher dahinstehen, wie hoch das Vermögen genau ist und ob es für die Befriedigung der Unterhaltsansprüche einsatzpflichtig
wäre bzw. ob und in welchem Umfang es ggf. umzuschichten wäre. Auf die Richtlinien der Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen
Sozialhilfeträger, die sich mit der Heranziehung von Vermögen und den Freigrenzen dafür befassen, kommt es daher im Streitfall
nicht an.
Gemäß § 91 II S. 2 BSHG bzw. § 91 III BSHG a.F. (für die Zeit bis zum Inkrafttreten des FKPG am 27.6.1993 - vgl. Schellhorn/Jirasek/Seipp, BSHG, 14. Aufl. (1997) § 91 Rn.7) ist der Unterhaltsanspruch auf den Kläger aber auf 4/5 der geltendgemachten Aufwendungen beschränkt, denn im übrigen
würde der Rechtsübergang eine unbillige Härte bedeuten.
Nach § 91 II S. 2 2. Hs. BSHG liegt eine unbillige Härte in der Regel bei unterhaltspflichtigen Eltern vor, soweit einem Behinderten nach Vollendung des
21. Lebensjahrs Eingliederungshilfe für Behinderte oder Hilfe zu Pflege gewährt wird. Hier ist für den gesamten streitigen
Zeitraum Eingliederungshilfe nach §§ 39 ff. BSHG geleistet worden.
Ein Rechtsübergang findet daher nur insoweit statt, als wegen der guten wirtschaftlichen Verhältnisse der Eltern eine Ausnahme
vom Regelfall der Nichtinanspruchnahme anzunehmen ist (Schellhorn/Jirasek/Seipp, aaO., § 91 Rn. 90 ff.). Bei sehr guten wirtschaftlichen
Verhältnissen ist dabei auch nach Vollendung des 27. Lebensjahrs des Kindes eine Inanspruchnahme möglich (BVerwG NJW 1994,
66 = FamRZ 1994, 33 noch zu § 91 III BSHG a.F.). Das gilt, wenn ausgerichtet am Interesse der Allgemeinheit an einem gerechtfertigten Einsatz öffentlicher Mittel,
die Nichtinanspruchnahme der unterhaltspflichtigen Eltern unangemessen und mit dem Anliegen des Sozialhilferechts unvereinbar
wäre (BverwG NJW 1994, 66 = FamRZ 1994, 33; OLG Koblenz NJWE-FER 1998, 192; Schellhorn/Jirasek/Seipp, aaO., § 91
BSHG Rn. 90 ff.). Bei dieser Angemessenheitsprüfung ist eine Gesamtabwägung der Umstände des Einzelfalls vorzunehmen (OLG Köln,
25.Senat, FamRZ 1997, 53; OLG Oldenburg FamRZ 196, 625), bei der u.a. die Dauer und Höhe der bisherigen Unterhaltsbelastungen, die voraussichtliche
weitere Dauer, Höhe des Einkommens des Unterhaltspflichtigen und sein Alter zu berücksichtigen sind. Neben materiellen Härtegründen
sind aber auch immaterielle Härtegründe zu berücksichtigen (für die Berücksichtigung immaterieller Gründe ebenfalls Empfehlungen
des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge Nr. 18 - FamRZ 1995, 1327 (1328). Ein immaterieller Härtegrund kann nicht nur dann gegeben sein, wenn die Heranziehung zu einer nachhaltigen Störung
des Familienfriedens führen würde (diesen Faktor erwähnt OLG Köln FamRZ 1997, 53), sondern auch dann, wenn sich die Unterhaltspflichtigen in besonders nachhaltiger Weise um das behinderte Kind kümmern,
so daß eine uneingeschränkte wirtschaftliche Belastung unter Außerachtlassung der persönlichen Betreuung unbillig erscheint.
Auch in den Fällen sehr guter Einkommens- und Vermögensverhältnissen, bei denen die Inanspruchnahme nicht zu ins Gewicht fallenden
Einschränkungen der wirtschaftlichen Lebensführung führt, ist daher zu berücksichtigen, wie alt Kind und Unterhaltspflichtige
sind und ob sich die unterhaltspflichtigen Eltern in besonderer Weise langjährig für die Belange ihres behinderten Kindes
eingesetzt haben. Die Berücksichtigung dieser Umstände führt im Streitfall zu einer Begrenzung des Rechtsübergangs auf 4/5
der aufgewendeten Mittel.
Das behinderte Kind hat bereits 1996 das 27. Lebensjahr überschritten, also ein Alter erreicht, in dem auch sehr gut gestellte
Eltern nicht behinderter Kinder in aller Regel auch dann keine Unterhaltslast mehr trifft, wenn die Kinder eine Hochschulausbildung
absolviert haben (OLG Koblenz NJWE-FER 1998, 192). Entscheidend ist nach Auffassung des Senats, daß der Unterhaltspflichtige sich ungeachtet der notwendigen Unterbringung
laufend intensiv um das behinderte Kind gekümmert hat und es weiterhin etwa 40 Tage im Jahr in seinem Haushalt versorgt. Die
damit verbundene - nicht nur finanzielle - Leistung muß bei der Billigkeitsabwägung berücksichtigt werden, andernfalls würden
bei sehr guten wirtschaftlichen Verhältnissen Eltern, die sich um das behinderte Kind kümmern und solche, die das nicht tun,
zu Unrecht gleichbehandelt. Da der Beklagte und seine Familie sich schon jahrelang intensiv um das behinderte Kind gekümmert
haben, gilt diese Billigkeitswertung auch für die Zeit vor Vollendung des 27. Lebensjahrs.
An Rückständen kann der Kläger daher ebenfalls nur 4/5 der geltend gemachten Gesamtaufwendungen bis zum 31.10.1998 verlangen.
Unter Berücksichtigung der freiwillig erbrachten Leistungen bis 31.10.1998 ergibt dies den titulierten Betrag. Das Schreiben
vom 20.9.1994 ist unter den gegebenen Umständen als hinreichende Überleitungsanzeige anzusehen. Jedenfalls kannte der Beklagte
seine Unterhaltspflicht und wußte, daß der Kläger als Sozialhilfeträger weitergehende Zahlungen als die freiwillig erbrachten
verlangte. Von einer Verwirkung des rückständigen Unterhalts kann angesichts der laufenden Gespräche über die Höhe der geschuldeten
Zahlungen nicht ausgegangen werden.
Der geltend gemachte Zinsanspruch ist nur zu 4 % gerechtfertigt, denn die Urkunde Bl. 171 d.A. belegt einen höheren Zinsschaden
nicht hinreichend.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§
92,
97
ZPO. Der Senat hat die übereinstimmende Erledigungserklärung berücksichtigt. Ein Titulierungsinteresse hinsichtlich des laufend
freiwillig gezahlten Betrages kann nicht verneint werden.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §
708 Nr. 10
ZPO.
Der Senat hat die Zulassung der Revision gem. §
546 I Nr. 1
ZPO geprüft, ist aber zu dem Ergebnis gekommen, daß sie nicht veranlaßt ist, da es sich um eine von den Umständen des Einzelfalls
geprägte Entscheidung handelt und der Senat von der höchstrichterlichen Rechtsprechung nicht abweicht.
Streitwert für das Berufungsverfahren:
Für das Verfahren bis zur Erörterung in der mündlichen Verhandlung vom 28.09.1999 einschließlich: 163.539,-- DM;
für das Verfahren ab Antragstellung in der mündlichen Verhandlung vom 28.09.1999 einschließlich:
streitig: 108.039,-- DM
nicht streitig: 3.700,-- DM.