Altersschätzung allein aufgrund bestimmter äußerlicher körperlicher Merkmale wie Stirnfalten und Halsfalten als ausreichende
Grundlage zur Beendigung einer Inobhutnahme nach dem Sozialgesetzbuch Achtes Buch (SGB VIII)
Gründe
Die Beschwerde des Antragsgegners ist unbegründet.
Nach dem im Beschwerdeverfahren maßgebenden Prüfungsstoff (§
146 Abs.
4 Satz 6
VwGO) hat das Verwaltungsgericht zu Recht die aufschiebende Wirkung der Klage VG 18 K 261.09 gegen den Bescheid der Senatsverwaltung
für Bildung, Wissenschaft und Forschung vom 10. August 2009 wiederhergestellt. Gegenstand des Bescheides ist die Rücknahme
der auf der Grundlage von § 42 SGB VIII erfolgten Inobhutnahme der nach eigenen Angaben aus Kenia stammenden, 15 Jahre alten Antragstellerin nach § 45 SGB X, weil diese nach Ansicht des Antragsgegners das 18. Lebensjahr bereits vollendet hat.
1.
Im Rahmen der bei Verfahren nach §
80 Abs.
5 VwGO gebotenen Interessenabwägung, deren Ausgang sich regelmäßig maßgeblich nach den Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs im Hauptsacheverfahren
richtet, ist das Verwaltungsgericht zutreffend davon ausgegangen, dass der Ausgang des Hauptsacheverfahrens im Rahmen der
im einstweiligen Rechtsschutzverfahren allein möglichen, aber auch ausreichenden summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage
offen sei, weil sich nach dem gegenwärtigen Erkenntnisstand mangels ausreichender Tatsachengrundlage nicht mit der erforderlichen
Gewissheit feststellen lasse, dass die Rücknahme der Inobhutnahme durch den angefochtenen Bescheid rechtmäßig sei; es bedürfe
insoweit vielmehr näherer Aufklärung des Sachverhalts durch Einholung eines Sachverständigengutachtens zur Altersbestimmung
der Antragstellerin oder ggf. anderer Aufklärungsmaßnahmen.
Rechtsgrundlage der Rücknahme ist § 45 Abs. 1 SGB X. Danach darf ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für
die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden. Das Vorliegen dieser Voraussetzungen lässt sich nach Aktenlage
gegenwärtig nicht hinreichend sicher feststellen.
Die auf § 42 Abs. 1 SGB VIII gestützte Inobhutnahme, die der Antragsgegner hier am 9. August 2009 vorgenommen hat, ist ein begünstigender Verwaltungsakt
(vgl. Beschluss des Senats vom 12. Mai 2009 - OVG 6 S 8.09/OVG 6 M 10.09 -, [...]). Er setzt für seine Rechtmäßigkeit voraus,
dass die in Obhut genommene Person das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hat. Ob das der Fall ist, kann nach gegenwärtiger
Aktenlage nicht mit der erforderlichen Gewissheit gesagt werden.
Die Antragstellerin selbst gibt an, am 13. August 1994 geboren und damit erst 15 Jahre alt zu sein. Ihren Angaben anlässlich
der Befragung bei ihrer Erstaufnahme in die Obhut des Antragsgegners lässt sich nichts entnehmen, was hierzu in Widerspruch
stünde und deshalb die Richtigkeit ihrer Altersangabe in Zweifel zöge. Die in Fragen der Altersschätzung von Jugendlichen
aus Schwarzafrika erfahrenen Mitarbeiter des Antragsgegners (vgl. auch Beschluss des OVG Berlin-Brandenburg vom 13. Juli 2009
- OVG 3 S 24.09 -), die eine Befragung der Antragstellerin durchgeführt und sich bei dieser Gelegenheit einen Eindruck von
ihrem Alter verschafft haben, kommen zwar zu dem Ergebnis, dass die Antragstellerin älter ist als sie selbst angibt und möglicherweise
das 18. Lebensjahr bereits vollendet hat. Die insoweit getroffenen Feststellungen bilden jedoch für sich genommen keine ausreichend
zuverlässige Grundlage zur Alterseinschätzung. Die Antragstellerin hat danach zwar sehr tief eingeprägte Stirnfalten, sichtbare
Halsfalten, den Körperbau einer jungen Frau und die Statur eines jungen Erwachsenen (Bl. 5 VV). Das rechtfertigt aber für
sich genommen nicht die Annahme, sie sei bereits 18 Jahre alt. Der Antragsgegner hat nicht dargelegt und es ist auch nicht
ersichtlich, dass es Untersuchungen gibt, wonach das Vorhandensein der vom Antragsgegner festgestellten Merkmale mit ausreichender
Sicherheit diesen Schluss zuließe. Anders als etwa bestimmte Befunde aufgrund zahnmedizinischer Untersuchungen ist das Vorhandensein
von Falten an der Stirn oder am Hals kein anerkanntes Kriterium zur Altersbestimmung.
Soweit der Antragsgegner seine Alterseinschätzung weiter damit begründet, dass "Gestik, Mimik, Habitus sowie sichtbar gewordener
Reife- und Entwicklungsgrad [...] darauf schließen [lassen], dass es sich um eine volljährige Frau handelt", gilt dies erst
recht. Diese Ausführungen entziehen sich einer gerichtlichen Nachprüfung. Sie sind das Ergebnis einer wertenden Betrachtung,
legen aber weder dar, welches Verhalten der Antragstellerin Anlass zu dieser Einschätzung gegeben hat, noch lassen sie erkennen,
inwiefern sich Gestik, Mimik und Habitus etwa einer 15 oder 16jährigen von der einer 18jährigen unterscheiden.
Dass der Antragsgegner vorträgt, zwischenzeitlich eine zahnärztliche Begutachtung der Antragstellerin in Auftrag gegeben zu
haben, vermag an dieser Einschätzung nichts zu ändern. Insbesondere war es nicht angezeigt, mit der Entscheidung bis zur Vorlage
eines solchen Gutachtens zuzuwarten. Würde der Antragsgegner ein seine Alterseinschätzung bestätigendes, hinreichend aussagekräftiges
zahnärztliches Gutachten nachreichen, wäre dies in jedem Fall erst nach Ablauf der am 9. Oktober 2009 abgelaufenen Frist zur
Begründung der Beschwerde und damit verspätet. Denn im Beschwerdeverfahren ist der Beschwerdeführer nach Ablauf der Beschwerdebegründungsfrist
mit qualitativ neuem Vorbringen, welches über eine Ergänzung und Vertiefung der fristgerecht geltend gemachten Beschwerdegründe
hinausgeht, gemäß §
146 Abs.
4 Satz 3 und
6 VwGO grundsätzlich ausgeschlossen. Das gilt auch unabhängig davon, ob der Beschwerdeführer die nicht fristgerechte Geltendmachung
zu vertreten hat (VGH Mannheim, Beschluss vom 8. Juni 2006 - 11 S 2135/05 -, NVwZ-RR 2006, S. 849, hier zitiert nach [...], Rn. 20; ferner: Beschluss des Senats vom 26. April 2007 - OVG 6 S 2.07 -, S. 5 f. EA). Ein zahnärztliches
Gutachten wäre nach Auffassung des Senats nicht nur eine bloße - im Beschwerdeverfahren noch berücksichtigungsfähige - Vertiefung
und Ergänzung der fristgerecht vorgebrachten Beschwerdegründe, sondern ein qualitativ neues Vorbringen, das der Überprüfung
in einem neuen Verfahren vorbehalten ist. Auf die Gründe, derentwegen der Antragsgegner die Einholung eines Sachverständigengutachtens
bisher versäumt hatte (Erkrankung zweier zuständiger Mitarbeiter sowie die hohe Zahl von Flüchtlingen, die Bedarf für Überprüfung
ihrer Altersangaben auslösen), kommt es nicht entscheidend an.
2.
Ist danach der Ausgang des Hauptsacheverfahrens nicht hinreichend gewiss, ist das Verwaltungsgericht im Rahmen der vorzunehmenden
Abwägung der gegenseitigen Interessen zu Recht von einem Überwiegen der Interessen der Antragstellerin an der weiteren Inobhutnahme
ausgegangen. Dies hat es nachvollziehbar damit begründet, die vom Antragsgegner angeführte Gefährdung des pädagogischen Konzepts
der Inobhutnahme-Stelle sei nicht überzeugend dargelegt, zumal der Altersunterschied zwischen dort in Obhut genommenen 17jährigen
und einer 18jährigen nicht von so großer Qualität oder Bedeutung sei, dass hierdurch das pädagogische Konzept der Einrichtung
gefährdet oder nicht mehr durchführbar wäre. Dies allein trägt bereits das Ergebnis der Interessenabwägung und wird durch
die vom Antragsgegner mit der Beschwerde erhobenen Einwendungen, mit denen er sich im Wesentlichen gegen den vom Verwaltungsgericht
zusätzlich angeführten Gesichtspunkt wendet, auch in anderen pädagogischen Einrichtungen würde Jugendhilfe gelegentlich über
das 18. Lebensjahr hinaus gewährt, nicht in Frage gestellt.
3.
Die Kostenentscheidung folgt aus §
154 Abs.
2 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§
188 Satz 2
VwGO).
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§
152 Abs.
1 VwGO).