Sozialhilferecht: Angemessenheit der Kosten besonderer Pflegekräfte im Sinne des § 69 Abs. 2 S. 3 BSHG
Tatbestand:
Der Kläger ist von Geburt an behindert und gehört zu dem Personenkreis des § 24 Abs. 2 BSHG. Er lebt allein in einem eigenen Hausstand in einer 35 qm großen Wohnung. Nach seinen Angaben wird er in der Zeit von 8.00
bis 22.00 Uhr regelmäßig von zwei Pflegekräften betreut. Nachts, wenn keine Pflegeperson anwesend ist, muß er allein zurechtkommen.
Für den Notfall stehen ihm Laienhelfer zur Verfügung, die er telefonisch erreichen kann.
Neben Wohngeld erhält der Kläger Hilfe zum Lebensunterhalt und Pflegegeld. Ferner werden vom Beklagten weitgehend die Kosten
für die Pflegekräfte übernommen. Im Hinblick auf die Übernahme der Kosten besonderer Pflegekräfte kürzt der Beklagte das Pflegegeld
um 50 v.H.
Der Kläger wird - soweit möglich - von zwei Zivildienstleistenden betreut. Da zeitweise zwei Zivildienstleistende nicht zur
Verfügung standen, mußten zusätzlich nebenamtlich tätige Helfer eingesetzt werden.
Der Beklagte lehnte es ab, einen Teil dieser Kosten zu übernehmen, weil er sie nicht mehr für angemessen hielt. Die hiergegen
gerichtete Klage hatte in erster und zweiter Instanz Erfolg.
Entscheidungsgründe:
Der Kläger hat einen Anspruch darauf, daß der Beklagte die Aufwendungen für ambulante Dienste ohne Kürzung gewährt.
Anspruchsgrundlage für die Übernahme der Kosten besonderer Pflegekräfte sind die §§ 68 Abs. 1, 69 Abs. 1, Abs. 2 Satz 3 BSHG. Nach § 68 Abs. 1 BSHG ist Personen, die infolge Krankheit oder Behinderung so hilflos sind, daß sie nicht ohne Wartung und Pflege bleiben können,
Hilfe zur Pflege zu gewähren. Reichen bei diesen Personen häusliche Wartung und Pflege aus, so gelten nach Abs. 1 dieser Vorschrift die besonderen Bestimmungen des § 69 BSHG. Nach § 69 Abs. 2 Satz 1 BSHG soll der Träger der Sozialhilfe darauf hinwirken, daß Wartung und Pflege durch Personen, die dem Pflegebedürftigen nahestehen,
oder im Wege der Nachbarschaftshilfe übernommen werden. Ist neben oder anstelle der Wartung und Pflege nach Satz 1 die Heranziehung
einer besonderen Pflegekraft erforderlich, so sind die angemessenen Kosten hierfür zu übernehmen (§ 69 Abs. 2 Satz 3 BSHG).
Die Entscheidung des Rechtsstreits hängt davon ab, ob die streitigen Pflegekosten noch angemessen im Sinne des § 69 Abs. 2 Satz 3 BSHG sind. Bei dem Begriff der angemessenen Kosten handelt es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff, dessen Anwendung durch
die Behörde der vollen verwaltungsgerichtlichen Überprüfung unterliegt.
Bei der Auslegung des Begriffs der angemessenen Kosten einer besonderen Pflegekraft ist zunächst klarzustellen, daß die Kostenübernahme
nicht etwa von Gesetzes wegen auf die Kosten einer einzelnen Pflegeperson beschränkt ist. Vielmehr wird durch die Formulierung
"Heranziehung einer besonderen Pflegekraft" nur die Art der in Rede stehenden Kosten bezeichnet. Wie der Senat bereits in
seinem Beschluß vom 18.12.1991 - 24 B 3238/91 - ausgeführt hat, können sich auch verschiedene Pflegekräfte im Laufe des Tages abwechseln, wenn etwa der Krankheitszustand
des Pflegebedürftigen dies erfordert oder die Einsatzmöglichkeit der einzelnen Pflegekräfte zeitlich beschränkt ist. Auch
der Beklagte geht in seiner Verwaltungspraxis davon aus, daß die angemessenen Pflegekosten unabhängig davon zu übernehmen
sind, ob die Pflegeleistung von einer Person, zwei Halbtagsbeschäftigten oder in einer anderweitigen Aufteilung entstehen.
Allein diese Auslegung ermöglicht es, die häusliche Pflege mit angemessenen Kosten sicherzustellen.
Entgegen der Auffassung des Beklagten ist die Vorschrift des § 69 Abs. 2 Satz 3 BSHG nicht dahin auszulegen, daß nur die Kosten einer hauptamtlichen Pflegekraft übernommen werden könnten, so daß die Kostengrenze
bei maximal 40 Pflegestunden wöchentlich läge, nämlich der Pflegeleistung, die eine hauptamtliche Pflegekraft tariflich maximal
zu erbringen hat. Im Widerspruchsbescheid hat der Beklagte daraus eine Begrenzung der Kosten besonderer Pflegekräfte von monatlich
2.080 DM errechnet. Eine derart feste Kostengrenze gibt es nach dem Gesetz nicht. Der Gesetzgeber selbst hat in § 69 Abs. 2 Satz 3 BSHG die Kostengrenze dadurch bestimmt, daß die angemessenen Kosten der besondern Pflegekräfte zu übernehmen sind. Die Bestimmung
steht im Einklang mit den Vorschriften der §§ 3 und 3 a BSHG, die im "Abschnitt 1. Allgemeines" des Bundessozialhilfegesetzes stehen und deshalb auch bei der Anwendung der Vorschriften
des Abschnitts 3, zu dem § 69 BSHG gehört, heranzuziehen sind. Nach § 3 Abs. 2 Satz 1 BSHG soll Wünschen des Hilfeempfängers, die sich auf die Gestaltung der Hilfe richten, entsprochen werden, soweit sie angemessen
sind. Gemäß Satz 3 braucht der Träger der Sozialhilfe Wünschen nicht zu entsprechen, deren Erfüllung mit unverhältnismäßigen
Mehrkosten verbunden wäre. Nach § 3 a BSHG soll der Träger der Sozialhilfe darauf hinwirken, daß die erforderliche Hilfe soweit wie möglich außerhalb von Anstalten,
Heimen oder derartigen Einrichtungen gewährt werden kann. Der Zweck des § 69 BSHG ist wesentlich darauf gerichtet, mit angemessenen Kosten die häusliche Wartung und Pflege zu fördern. Die Kostengrenze ergibt
sich dabei allein aus dem Kriterium der Angemessenheit. Im Rahmen der angemessenen Kosten eine zusätzliche absolute Kostengrenze
(hier Kosten von 40 Tarifwochenstunden einer hauptamtlichen Pflegekraft) annehmen zu wollen - als solche würde sich die Praxis
des Beklagten auswirken -, läßt sich mit Sinn und Zweck des Gesetzes schon deshalb nicht vereinbaren, weil dann an sich angemessene
Kosten allein wegen Überschreitung einer fixen Kostengrenze ungedeckt blieben.
Der Senat kann dem Beklagten auch nicht in der Auffassung zustimmen, daß die Kosten einer ambulanten Pflege nicht über den
Kosten einer vergleichbaren Heimunterbringung liegen dürften.
So aber VGH Kassel, Beschluß vom 4.12.1990 - 9 TG 4614/88 -, NVwZ-RR 1991, 562.
Richtig ist allerdings, daß bei der Beurteilung der angemessenen Kosten auch die Kosten einer Heimunterbringung zu würdigen
sind. Richtig ist ferner, daß bei dem Vergleich der Kosten einer Heimunterbringung und der Kosten der häuslichen Pflege auch
die sonstigen Sozialhilfekosten, insbesondere die Kosten von Hilfe zum Lebensunterhalt wertend einzubeziehen sind. Schon aus
finanziellen Gründen dürfte es nicht möglich sind, alle Schwer- und Schwerstbehinderte, die dies wünschen, in ihrer eigenen
Wohnung zu betreuen. Bei der Beurteilung der Angemessenheit häuslicher Pflegekosten sind daher die Kosten einer entsprechenden
Heimunterbringung durchaus bedeutsam. Aber auch in diesem Zusammenhang kann nicht angenommen werden, daß der Gesetzgeber neben
dem Kriterium der Angemessenheit eine absolute Kostengrenze einführen wollte, z.B. als Kostengrenze den billigsten Heimpflegeplatz
oder die durchschnittlichen Kosten einer Heimunterbringung. Starre Grenzen sind auch hier dem Bundessozialhilfegesetz fremd. Es sind durchaus besondere Umstände denkbar, die dazu führen können, daß selbst sehr hohe Betreuungskosten in der
eigenen Wohnung noch sozialhilferechtlich angemessen sein können. Dies kann z.B. bei einem Hilfesuchenden der Fall sein, der
seit Jahrzehnten in der eigenen Wohnung betreut worden ist, und der aus berechtigten Gründen solange wie möglich eine Heimunterbringung
vermeiden möchte. Je nach dem Krankheitsverlauf und den sonstigen Umständen kann es in derartigen Fällen die Würde des Menschen
(§ 1 Abs. 2 BSHG) erfordern, den Wunsch des Pflegebedürftigen zu erfüllen, in der eigenen Wohnung bleiben zu dürfen. Eine der Menschenwürde
entsprechende Betreuung eines solchen Hilfesuchenden würde unmöglich gemacht, wenn von vornherein für die Übernahme häuslicher
Pflegekosten feste Grenzen zu beachten wären.
Der Senat kommt insgesamt zu dem Ergebnis, daß die Angemessenheit der Kosten besonderer Pflegekräfte im Sine des § 69 Abs. 2 Satz 3 BSHG anhand aller sozialhilferechtlich bedeutsamen Umstände des Einzelfalles zu prüfen ist. Hierzu gehören beispielsweise der
Gesundheitszustand und die Lebensumstände des Pflegebedürftigen, sein Alter und die voraussichtliche Dauer der Pflegebedürftigkeit,
die Höhe und die Dauer der Kosten besonderer Pflegekräfte und der sonstigen Kosten der sozialhilferechtlichen Betreuung (einschließlich
der Kosten von Hilfe zum Lebensunterhalt) einerseits und der Kosten einer vergleichbaren Heimunterbringung andererseits. Nähere
Maßstäbe dazu ergeben sich aus der systematischen Stellung der häuslichen Pflege, der der Gesetzgeber den Vorrang vor der
Hilfe in einem Heim eingeräumt hat (§§ 3 a, 69 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 BSHG). Dieser Vorrang ist bei der Ausfüllung des Begriffs der angemessenen Kosten besonderer Pflegekräfte gebührend zu berücksichtigen.
Hieraus folgt bereits ganz allgemein, daß Kosten einer häuslichen Pflege auch dann noch angemessen sein können, wenn sie über
den Kosten einer entsprechenden Heimpflege liegen. Im Rahmen der Gesamtwürdigung des Einzelfalles darf grundsätzlich in die
Beurteilung auch der Umstand einbezogen werden, ob und in welchem Umfang der Hilfesuchende Pflegegeld nach § 69 Abs. 3 bis 6 BSHG erhält. Dabei ist jedoch zu beachten, daß das Pflegegeld anderen Zwecken als der Bestreitung der unmittelbaren Kosten einer
besonderen Pflegekraft dient, nämlich der Erhaltung der Pflegebereitschaft der Pflegepersonen.
Vgl. BVerwG, Beschluß vom 12.10.1981 - 5 B 79.81 - Buchholz 436.0, § 69 BSHG Nr. 8, OVG NW, Urteil vom 25.1.1988 - 8 A 1052/86 -, FEVS 38, 64 (73).
Wegen dieser Zweckbestimmung des Pflegegeldes wird das Pflegegeld in der Regel erst dann in diesem Zusammenhang von Bedeutung
sein können, wenn die Kosten der besonderen Pflegekräfte die Grenze der Angemessenheit überschritten haben. In einem derartigen
Fall mag eine einvernehmliche Lösung dahin erfolgen, daß der Sozialhilfeträger die (noch) angemessenen Kosten der besonderen
Pflegekräfte übernimmt und der Hilfebedürftige selbst die darüber hinausgehenden Kosten aus eigenen Mitteln - z.B. auch dem
Pflegegeld - trägt.
Für den vorliegenden Rechtsstreit wertet der Senat die Gesamtumstände dahin, daß die streitigen Kosten besonderer Pflegekräfte
noch angemessen im Sinne des § 69 Abs. 2 Satz 3 BSHG sind. Von wesentlicher Bedeutung ist insbesondere der Umstand, daß der Kläger im streitigen Zeitraum grundsätzlich durch
zwei Zivildienstleistende betreut werden sollte. Höhere Kosten sind jeweils nur entstanden, soweit die Pflege des Klägers
durch Zivildienstleistende nicht vollständig sichergestellt werden konnte. Nach den vorliegenden Verwaltungsvorgänge hat der
Kläger außer den Kosten der besonderen Pflegekräfte monatlich rund 1000 DM Sozialhilfeleistungen erhalten (Hilfe zum Lebensunterhalt
und - gekürztes - Pflegegeld). Im streitigen Zeitraum sind höchstens 2.875 DM Kosten besonderer Pflegekräfte im Juli 1989
entstanden (zwei Zivildienstleistende und 175 Stunden Pflege durch Laienhelfer). Dem stehen aber auch erheblich niedrigere
Beträge gegenüber, so im November 1988 und im Januar und Februar 1989 monatlich nur 600 DM. Unter diesen Umständen machen
in einzelnen Monaten auftretende Spitzenbeträge die Pflegekosten noch nicht unangemessen. Dies ist auch bei einem Vergleich
mit entsprechenden Heimpflegekosten zu berücksichtigen. Heimpflegekosten für den gesamten streitigen Zeitraum würden deutlich
über den jetzt entstandenen durchschnittlichen monatlichen Sozialhilfekosten liegen.