Sozialhilferecht: Rücknahme rechtswidriger Bewilligungsbescheide bzw. Geltendmachung von Erstattungsansprüchen gegenüber dem
Erben des Hilfeempfängers
Tatbestand:
Die Klägerin wendet sich gegen die Zurücknahme von Bewilligungsbescheiden über Sozialhilfe und gegen die Rückforderung solcher
Hilfe.
Mit Bescheid vom 16.12.1982 gewährte die Beklagte dem Vater der Klägerin ab 01.12.1982 Hilfe in besonderen Lebenslagen nach
dem BSHG (im wesentlichen Übernahme ungedeckter Heimkosten). Weitere Bescheide vom 06.07.1983, vom 28.09.1983 und vom 24.11.1983 folgten;
der Vater der Klägerin erhielt die Hilfe bis zu seinem Tode am 19.05.1984 (insgesamt knapp eineinhalb Jahre). Die Schwester
der Klägerin schlug das Erbe aus, so daß die Klägerin Alleinerbin wurde. Erstmals im Januar 1983 äußerte die Beklagte die
Vermutung, der Vater der Klägerin habe jedenfalls 1980 über erhebliches Sparguthaben verfügt (Schreiben vom 17.01.1983 an
den Ehemann der Schwester der Klägerin, der Gebrechlichkeitspfleger des Verstorbenen gewesen war). Anläßlich eines Rechtsstreits
zwischen der Klägerin und ihrer Schwester wurden der Beklagten Vorgänge bekannt, aus denen sie den Schluß zog, der Verstorbene
habe während des Bezugs von Sozialhilfe gegen die Klägerin und ihre Schwester Rückzahlungsforderungen wegen nichtiger Schenkungen
in Höhe von jeweils knapp 60 000,-- DM gehabt (Schriftsatz der Prozeßbevollmächtigten der Schwester der Klägerin vom 18.06.
1986). Zuvor hatte die Beklagte die Klägerin mit Bescheid vom 10.09.1984 zum Kostenersatz nach § 92 c BSHG herangezogen; diese Heranziehung war in Höhe von 1 277,84 DM bestandskräftig geworden.
Mit Bescheid vom 06.10.1987 nahm die Beklagte gegenüber der Klägerin als Erbin des Hilfeempfängers ihre Bescheide vom 16.12.1982,
vom 06.07.1983, vom 28.09.1983 und vom 24.11.1983 zurück und forderte die Klägerin zur Rückzahlung zu Unrecht geleisteter
Sozialhilfe in Höhe von 14 216,10 DM auf. Hiergegen erhob die Klägerin Widerspruch, den das Landratsamt K mit der Maßgabe,
daß der zurückgeforderte Betrag wegen bestandskräftiger Heranziehung der Klägerin zum Kostenersatz nach § 92 c BSHG in Höhe von 1 277,84 DM auf 12 938,-- DM ermäßigt wurde -- mit Widerspruchsbescheid vom 03.02.1988 zurückwies. Zur Begründung
wurde im wesentlichen ausgeführt, der Hilfeempfänger habe zu Lebzeiten Vermögen in Form von Rückforderungsansprüchen gegen
die Klägerin und ihre Schwester gehabt. Da dieses Vermögen, von dem man erst 1986 erfahren habe, bei der Bewilligung von Sozialhilfe
habe berücksichtigt werden müssen, seien die Hilfeleistungen zu Unrecht erfolgt. Die Bewilligungsbescheide könnten deshalb
nach § 45 SGB X zurückgenommen werden; auf schutzwürdiges Vertrauen könne sich die Klägerin nicht berufen, weil der Gebrechlichkeitspfleger
des damals bereits geschäftsunfähigen Hilfeempfängers grob fahrlässig unrichtige oder unvollständige Angaben gemacht habe.
Hieraus folge, daß die Hilfe von der Klägerin als Erbin nach § 50 SGB X zurückgefordert werden könne.
Am 03.03.1988 hat die Klägerin beim Verwaltungsgericht Karlsruhe Klage erhoben, mit der sie Aufhebung des Bescheides der Beklagten
vom 06.10.1987 und des Widerspruchsbescheides des Landratsamts Karlsruhe vom 03.02.1988 beantragt hat. Mit Gerichtsbescheid
vom 10.05.1988 hat das Verwaltungsgericht diese Klage abgewiesen; zur Begründung hat es sich im wesentlichen auf die Erwägungen
im Widerspruchsbescheid bezogen.
Gegen diesen ihr am 18.05.1988 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Klägerin am 27.05.1988 Berufung eingelegt, mit der sie
insbesondere bestreitet, daß ihr Vater zur Zeit des Bezugs von Sozialhilfe über anrechenbares Vermögen verfügt habe; sie selbst
habe von ihrem Vater "überhaupt keine Schenkungen" erhalten. Im übrigen sei sie zur Zahlung des Rückforderungsbetrages gar
nicht in der Lage.
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
den Gerichtsbescheid des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 10.05.1988 zu ändern sowie den Bescheid der Beklagten vom 06.10.1987
und den Widerspruchsbescheid des Landratsamts Karlsruhe vom 03.02.1988 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung der Klägerin zurückzuweisen.
Sie verteidigt den angefochtenen Gerichtsbescheid.
Die Beteiligten haben auf mündliche Verhandlung verzichtet.
Dem Senat liegen die zur Sache gehörenden Akten der Stadt Bruchsal und des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vor.
Entscheidungsgründe:
Im Einverständnis der Beteiligten kann der Senat über die Berufung ohne mündliche Verhandlung entscheiden (vgl. §
101 Abs.
2 VwGO).
Die Berufung der Klägerin ist begründet, denn das Verwaltungsgericht hat die Klage zu Unrecht abgewiesen. Der Bescheid der
Beklagten vom 06.10.1987 und der Widerspruchsbescheid des Landratsamts K vom 03.02.1988 sind rechtswidrig und verletzen die
Klägerin in ihren Rechten (vgl. §
113 Abs.
1 S. 1
VwGO).
Die Beklagte hat die Zurücknahme der Bewilligungsbescheide auf § 45 SGB X und die Rückforderung der bewilligten Leistungen auf § 50 Abs. 2 SGB X gestützt. Die Besonderheit besteht hier darin, daß Zurücknahme und Rückforderung nicht gegenüber dem Hilfeempfänger selbst,
sondern nach dessen Tod gegenüber der Erbin erfolgt sind. Das ist -- hiervon ist auch das Verwaltungsgericht ausgegangen --
im Grundsatz rechtlich möglich.
Zwar regeln BSHG und SGB X -- über § 92 c BSHG hinaus -- nicht ausdrücklich, ob und unter welchen Voraussetzungen die Erben von Hilfeempfängern zur Erstattung gewährter
Hilfe oder zu sonstigen Ersatzleistungen herangezogen werden können. Indessen ist in der höchstrichterlichen und obergerichtlichen
Rechtsprechung anerkannt, daß erbrechtliche Vorschriften und Grundsätze unter bestimmten Voraussetzungen auch auf den öffentlich-rechtlichen
Regelungsbereich des Sozialrechts übertragen werden können (vgl. Urteil des Senats vom 18.12.1974, FEVS 23, 251; für § 29 BSHG: BVerwGE 52, 16 ff.; OVG Münster, NJW 1989, 2834). In Fällen der vorliegenden Art bietet sich derartiger Rückgriff um so mehr an, als die §§ 45, 50 SGB X -- ebenso wie § 29 BSHG -- jedenfalls dem Wortlaut nach keine Ermächtigungsgrundlage dahin enthalten, der Kreis der Verpflichteten könnte über die
"Begünstigten" hinaus erweitert werden. Heranziehung erbrechtlicher Grundsätze erweist, daß die Klägerin vom rechtlichen Ansatz
her Adressatin der Zurücknahme und des Erstattungsanspruchs sein konnte.
Der Erbe haftet für die Nachlaßverbindlichkeiten (§
1967 Abs.
1 BGB), zu denen die vom Erblasser herrührenden Schulden ("Erblasserschulden") und die den Erben als solchen treffenden Verbindlichkeiten
(insbesondere die Verbindlichkeiten aus Pflichtteilsrechten, Vermächtnissen und Auflagen; "Erbfallschulden") gehören; von
diesen wiederum sind die "Nachlaßerbenschulden" zu unterscheiden, die aus Rechtshandlungen des Erben anläßlich des Erbfalls
entstehen und grundsätzlich dessen Eigenschulden sind (vgl. zu alldem Palandt/Edenhofer,
BGB, 49. Aufl. 1990, §
1967 Anm. 1 und 2). Die Verbindlichkeit, um die es im vorliegenden Falle geht, kann grundsätzlich eine "Erblasserschuld" sein,
obwohl sie -- der Rückforderungsanspruch nach § 50 Abs. 1 SGB X setzt die Zurücknahme der Bewilligungsbescheide voraus, die damals gerade noch nicht erfolgt war -- im Zeitpunkt des Erbfalles
noch nicht bestand. Zwar sind "vom Erblasser herrührende" Schulden zunächst diejenigen Schulden, die bis zum Erbfall entstanden
sind. Darin erschöpft sich jedoch der Begriff der "Erblasserschuld" nicht. Da der Erbfall in vermögensrechtlicher Hinsicht
eine Gesamtnachfolge bewirkt, gehen auf den Erben grundsätzlich alle vermögensrechtlichen Beziehungen über, und zwar auch
dann, wenn sie noch "unfertig" sind oder wenn es sich um werdende oder schwebende Rechtsbeziehungen handelt (BGHZ 32, 367, 369, unter Bezugnahme auf Boehmer, JW 1938, 2634). Dies bedeutet, daß unter den Begriff der "Erblasserschuld" auch solche gesetzlichen, vertraglichen und außervertraglichen
Verpflichtungen fallen, deren Folgen erst nach dem Erbfall eintreten (Palandt/Edenhofer, a.a.O., § 1967 Anm. 1 a). Erstattungspflichten
der hier streitigen Art sind mithin auch dann "Erblasserschulden", wenn sie als rechtliche Verpflichtung deshalb erst nach
dem Erbfall entstanden sind, weil die Zurücknahme der Bewilligungsbescheide, die nach § 50 Abs. 1 SGB X Voraussetzung des Entstehens der Erstattungspflicht ist, aus tatsächlichen Gründen erst nach dem Erbfall ausgesprochen werden
konnte. Denn die Rechtswidrigkeit der Bewilligung und die -- wesentlich im Verhalten des Begünstigten wurzelnden -- tatsächlichen
Voraussetzungen für den Wegfall etwaigen Vertrauensschutzes lasten von Anfang an auf dem Rechtsverhältnis zwischen dem Träger
der Sozialhilfe und dem Hilfeempfänger; es handelt sich um eine "unfertige" Rechtsbeziehung auf dem Gebiet des öffentlichen
Rechts.
Im vorliegenden Falle sind die angefochtenen Bescheide dennoch nicht rechtswidrig, denn der Vater der Klägerin hat in der
Zeit vom 01.12.1982 bis zu seinem Tode am 19.05.1984 zu Recht Sozialhilfe bezogen, so daß die Voraussetzungen der §§ 45, 50 Abs. 1 SGB X nicht vorliegen. Die Beklagte und das Verwaltungsgericht gehen insoweit davon aus, daß sich der Vater der Klägerin damals
habe selbst helfen können (§ 2 Abs. 1 BSHG), denn er habe gegen die Klägerin und ihre Schwester Rückzahlungsansprüche aufgrund nichtiger Schenkung geltend machen können
(§
812 BGB). Derartige Verweisung auf Selbsthilfe setzt jedoch voraus, daß der Hilfeempfänger jene Ansprüche während der Zeit des Bezugs
der Hilfe tatsächlich realisieren konnte; es hätte sich um "bereite Mittel" handeln müssen. Daran fehlt es hier. Nach Sachlage
kann mit Sicherheit davon ausgegangen werden, daß die Beschenkten einen solchen Anspruch nicht freiwillig erfüllt hätten;
mithin wäre Durchsetzung auf dem Gerichtswege erforderlich gewesen. Insoweit steht schon keineswegs fest, daß jener Bereicherungsanspruch
überhaupt bestanden hat. Voraussetzung hierfür wäre gewesen, daß der Vater der Klägerin im Zeitpunkt der Schenkungen geschäftsunfähig
war. Dafür mag angesichts des amtsärztlichen Gutachtens vom 07.06.1979, auf das in den Akten hingewiesen wird, einiges sprechen.
Andererseits war die Geschäftsunfähigkeit des Vaters schon im Zivilprozeß zwischen der Klägerin und ihrer Schwester streitig;
mithin wäre möglicherweise ein weiteres Gutachten zu erheben gewesen, wobei die Möglichkeit, daß sich doch noch herausstellen
könnte, der Vater sei geschäftsfähig gewesen, nicht von vornherein auszuschließen gewesen wäre. Schon insoweit kann mithin
nicht ohne weiteres davon ausgegangen werden, dem Vater hätten tatsächlich realisierbare Ansprüche zur Seite gestanden. Weitere
Umstände kommen hinzu. Der Vater der Klägerin bezog die Hilfe vom 01.12.1982 bis zum 19.05.1984, mithin knapp eineinhalb Jahre.
Der Senat hält es für ganz unwahrscheinlich, daß ein Zivilprozeß, der voraussichtlich über zwei Instanzen hätte geführt werden
müssen, in dieser Zeit abgeschlossen worden wäre. Die Möglichkeit der einstweiligen Verfügung nach §
935 ZPO rechtfertigt keine andere Beurteilung, denn diesem Rechtsinstitut kommt nur "vorläufiger Charakter" zu (vgl. Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann,
ZPO, 44. Aufl. 1986, Grundzüge §
916, Anm. C), so daß Vorwegnahme der Hauptsache, um die es sich hier handeln würde, grundsätzlich nicht in Betracht kommt. Der
Senat hat noch erwogen, ob der Vater der Klägerin gegen diese und ihre Schwester nicht möglicherweise einen Rückforderungsanspruch
wegen Notbedarfs nach §
528 BGB hätte geltend machen können. Indessen hätte es sich jedoch auch insoweit nicht um "bereite Mittel" gehandelt (vgl. insbesondere
die Möglichkeit des Anspruchsausschlusses nach §
529 Abs.
2 BGB). Hinsichtlich etwaiger Ansprüche gegen die Schwester der Klägerin kommt zu allem hinzu, daß der Ehemann der Schwester Gebrechlichkeitspfleger
des Vaters war; da ausgeschlossen werden kann, daß dieser willens gewesen wäre, die Ansprüche zu realisieren, hätte voraussichtlich
noch ein Ergänzungspfleger bestellt werden müssen (vgl. §
1909 BGB).
Bei dieser Sachlage mag auf sich beruhen, daß die angefochtenen Bescheide auch kaum den Anforderungen an die -- nach §§ 45 Abs. 1, 35 Abs. 1 S. 3 SGB X gebotene -- Ermessensentscheidung genügen dürften, weil sie den besonderen Umstand, daß sich der geltend gemachte Erstattungsanspruch
nicht gegen den Hilfeempfänger, sondern gegen dessen Erbin richtet, nicht hinreichend in ihre Erwägungen eingestellt und sich
deshalb auch nicht in ausreichendem Maße mit der Frage auseinandergesetzt haben, ob und inwieweit möglicherweise gerade in
der Person der Klägerin als Erbin Gründe vorliegen können, die Anlaß hätten geben können, von der Rückforderung abzusehen.