Auslegung der Übersendung eines ärztlichen Attests durch den Versicherten als Widerspruch im sozialrechtlichen Verwaltungsverfahren
Tatbestand:
Streitig ist die Weiterbewilligung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung ab 01.06.2006.
Der 1948 geborene Kläger stellte am 06.06.2005 einen Antrag auf Rente wegen Erwerbsminderung. Er hat keinen Beruf erlernt
und war zuletzt versicherungspflichtig als Steinarbeiter tätig. Seit Mai 2004 war er arbeitsunfähig. Auf der Grundlage des
Rehabilitation-Entlassungsberichtes der R.-Klinik A. vom 31.05.2005 bewilligte die Beklagte mit Bescheid vom 22.07.2005 aufgrund
eines Leistungsfalles vom 18.05.2004 eine arbeitsmarktbedingte Rente wegen voller Erwerbsminderung bis 31.05.2006.
Am 02.03.2006 beantragte der Kläger die Weiterbewilligung der Rente. Die Beklagte beauftragte die Sozialmedizinerin Dr. M.
mit der Erstellung eines Gutachtens. Diese kam am 29.06.2006 zu dem Ergebnis, der Kläger könne noch wenigstens sechs Stunden
täglich mit qualitativen Einschränkungen Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt verrichten. Mit Bescheid vom 26.07.2006
lehnte die Beklagte die Bewilligung einer Rente über den 31.05.2006 hinaus ab. Der Kläger könne noch wenigstens sechs Stunden
täglich auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt mit qualitativen Einschränkungen tätig sein. Am 08.08.2006 übersandte der Kläger
ein ärztliches Attest der ihn behandelnden praktischen Ärzte F. vom 04.08.2006, wonach der Kläger keine Arbeiten länger als
zwei bis vier Stunden verrichten könne. Der letzte Satz lautet: "Unsererseits wird um eine nochmalige Überprüfung der Angelegenheit
gebeten." Laut Aktenvermerk vom 28.8.2006 legte die Beklagte das Attest als Antrag auf Überprüfung gem. § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) aus, ein Widerspruch sei bisher nicht eingegangen.
Mit Bescheid vom 04.09.2006 lehnte die Beklagte die Rücknahme des Bescheides vom 26.07.2006 gemäß § 44 SGB X ab, da sich keine Änderung zu dem im Bescheid vom 26.07.2006 getroffenen Feststellungen ergeben hätten. Dagegen legte der
Kläger Widerspruch, eingegangen bei der Beklagten am 26.09.2006 ein. Mit Widerspruchsbescheid vom 24.10.2006 bestätigte die
Beklagte den Ausgangsbescheid.
Dagegen hat der Kläger Klage zum Sozialgericht Nürnberg (SG) erhoben. Das SG hat die medizinischen Unterlagen beigezogen und ein Gutachten von dem Internisten Dr.S. eingeholt. Dieser hat in seinem Gutachten
vom 28.03.2007 und seiner ergänzenden Stellungnahme vom 22.05.2007 folgende Diagnosen gestellt:
1. Zustand nach erweiterter Entfernung der Lunge links mit Perikardteilresektion, systematisch mediastinale Lymphknotenentfernung
links 06/04 wegen eines fortgeschrittenen zentralen Bronchialkarzinoms links mit abszedierender poststenotischer Pneumonie
links Torsion der Mediastinalorgane Z. n. Strahlentherapie
2. Ausgleichsskoliose der Brustwirbelsäule bei Beinverkürzung rechts, Spondylosis deformans der Lendenwirbelsäule.
Der Kläger könne auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt seit Juni 2006 nur noch Tätigkeiten drei bis sechs Stunden täglich mit qualitativen
Einschränkungen verrichten. Die Beklagte hat sich dieser sozialmedizinischen Beurteilung nicht angeschlossen.
Mit Urteil vom 23.05.2007 hat das SG die Beklagte unter Aufhebung der Bescheide vom 26.07.2006 und 04.09.2006 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 24.10.2006
verurteilt, dem Kläger Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Zeit über den 31.05.2006 hinaus bis 31.12.2007 zu gewähren.
Im Übrigen ist die Klage abgewiesen worden.
Zur Begründung der beim Bayer.Landessozialgericht erhobenen Berufung hat die Beklagte vorgebracht, die Minderung des quantitativen
Leistungsvermögens begründe Dr.S. mit den Schmerzen des Klägers im Bereich der Operationsnarbe linksseitig nach Lungenentfernung.
Der Versicherte habe aber keine schmerztherapeutische Behandlung in Anspruch genommen, zum anderen träten die Beschwerden
erst bei Maximalbewegungen auf. Der Senat hat einen Befundbericht bei den den Kläger behandelnden praktischen Ärzten F. für
die Zeit ab 2006 sowie Auskünfte der C. und der Agentur für Arbeit B-Stadt eingeholt. Der Senat hat ebenfalls ein auf Veranlassung
der Agentur für Arbeit B-Stadt von Dr.S. am 30.10.2006 erstelltes Gutachten beigezogen. Danach war der Kläger noch in der
Lage, wenigstens sechs Stunden täglich leichte Tätigkeiten im Wechselrhythmus ohne häufiges Heben und Tragen zu verrichten.
Der Kläger hat am 04.08.2009 einen Antrag auf Weitergewährung der Rente über den 31.12.2007 hinaus sowie auf Altersrente gestellt.
Mit Bescheid vom 12.10.2009 hat die Beklagte den Antrag auf Altersrente für Schwerbehinderte abgelehnt, weil die erforderliche
Wartezeit nicht erfüllt sei. Der Bescheid hat den Hinweis enthalten, der Bescheid werde "gemäß §
89 Sozialgerichtsgesetz -
SGG - Gegenstand des anhängigen Berufungsverfahrens". Über den Antrag auf Weiterbewilligung über den 31.12.2007 hinaus hat die
Beklagte noch nicht entschieden.
Der Bevollmächtigte des Klägers beantragt,
die Berufung der Beklagten zurückzuweisen und unter Abänderung des Urteils des Sozialgerichts Nürnberg vom 23.05.2007 die
Beklagte zu verurteilen, dem Kläger Rente wegen voller Erwerbsminderung ab 01.06.2006 über den 31.12.2007 hinaus auf Dauer
zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 23.05.2007 aufzuheben und die Klage abzuweisen sowie die Anschlussberufung des
Klägers zurückzuweisen.
Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf die beigezogenen Akten der Beklagten und die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz
Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig und teilweise begründet. Das SG hat zu Recht den Bescheid der Beklagten vom 04.09.2006 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24.10.2006 aufgehoben, denn
die Voraussetzungen für eine Entscheidung gemäß § 44 SGB X lagen nicht vor. Zu Unrecht hat das SG den Bescheid der Beklagten vom 26.07.2006 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, Rente wegen voller Erwerbsminderung zu
leisten, denn insoweit war unmittelbar keine Klage erhoben, also schon nicht rechtshängig gemacht worden. Der Bescheid vom
26.07.2006 war allenfalls inzident im Rahmen des § 44 SGB X zu prüfen.
Streitgegenständlich ist im hiesigen Verfahren der Überprüfungsbescheid vom 04.09.2006 gem. § 44 SGB X in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24.10.2006 hinsichtlich des Bescheides vom 26.07.2006.
Nicht Streitgegenstand ist der Bescheid der Beklagten vom 12.10.2009 hinsichtlich der Ablehnung der Altersrente. Abgesehen
davon, dass der Hinweis der Beklagten auf §
89 SGG fehlerhaft war, setzt §
96 SGG voraus, dass der ursprüngliche Verwaltungsakt ersetzt oder abgeändert wird. Der hier maßgebliche Bescheid vom 04.09.2006
gem. § 44 SGB X wird durch eine Entscheidung zur Altersrente nicht ersetzt oder geändert.
Der Bescheid der Beklagten vom 04.09.2006 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24.10.2006 war rechtswidrig, denn die
Voraussetzungen für eine Entscheidung gem. § 44 SGB X lagen nicht vor.
Das Verfahren gemäß § 44 SGB X wird auf Antrag oder von Amts wegen eingeleitet. Im vorliegenden Falle ist die Beklagte von einem Antrag des Klägers ausgegangen.
Ein solcher Antrag auf Überprüfung gem. § 44 SGB X lag jedoch nicht vor. Nach Erlass des ablehnenden Bescheides vom 26.07.2006 hinsichtlich der Weitergewährung der Rente wegen
voller Erwerbsminderung über den 31.05.2006 hinaus ist bei der Beklagten ein Attest der prakt.Ärzte F. vom 04.08.2006 betreffend
die Ablehnung der Erwerbsunfähigkeitsrente für den Kläger eingegangen. Der Text lautete: "Wir schließen uns der Meinung von
Lungenarzt Dr.med. S. E. an, dass Herr D. bei Zustand nach Pneumektomie nach wie vor erwerbsunfähig ist. Er kann mit einer
Lunge keine Arbeit länger als zwei bis vier Stunden verrichten, zumal bei seiner Ausbildung lediglich körperliche Tätigkeiten
in Frage kämen. Unsererseits wird um eine nochmalige Überprüfung der Angelegenheit gebeten". Dieses Schreiben hat die Beklagte
fälschlicherweise als Antrag auf Überprüfung ausgelegt.
Zwar ist richtig, dass auch - soweit ein Verwaltungsakt noch nicht unanfechtbar geworden ist - § 44 SGB X anwendbar ist. Allerdings besteht Raum für die Anwendung des § 44 SGB X nur bei einer Rücknahme von Amts wegen (vgl. Steinwedel in Kassler Kommentar, § 44 SGB X Rdnr. 6). Vielmehr ist das vom Kläger eingesandte Attest als Widerspruch auszulegen. Das Attest enthält das Wort "Widerspruch"
zwar nicht, sondern das Wort "Überprüfung". Maßgeblich ist bei der Auslegung der objektive Erklärungswert, der sich danach
bestimmt, wie der Empfänger nach den Umständen, insbesondere nach der recht verstandenen Interessenlage die Erklärung verstehen
muss. Weiterer Anhaltspunkt bei der Auslegung ist das von den Beteiligten vernünftigerweise gewollte (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
SGG, Kommentar, 9. Aufl., vor §
60 Rdnr.11a). Bei noch offener Rechtsbehelfsfrist ist - insbesondere bei einem nicht durch einen Bevollmächtigten vertretenen
Betroffenen - regelmäßig davon auszugehen, dass sein Begehren auf Überprüfung der Sache ein Widerspruch ist. Es entspricht
seiner Interessenlage, voll umfänglich den Ausgangsbescheid überprüfen zu lassen und nicht den Grenzen des § 44 SGB X zu unterwerfen.
Dieser Widerspruch ist auch form- und fristgerecht eingelegt worden. Gemäß §
84 SGG ist der Widerspruch schriftlich zu erheben. Grundsätzlich ist für die Schriftform eine Unterschrift erforderlich, allerdings
genügt auch ein schriftlicher Widerspruch ohne Unterschrift, wenn sich aus dem Widerspruch alleine oder in Verbindung mit
Anlagen hinreichend sicher ohne Rückfragen und Beweiserhebung ergibt, dass der Widerspruch vom Widersprechendem herrührt und
keine Anhaltspunkte dafür sprechen, dass der Widerspruch ohne dessen Willen in den Verkehr gelangt ist (vgl. Leitherer in
Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer aaO., § 84 Rdnr. 3).
Nachdem die Beklagte zu Unrecht ein Verfahren gemäß § 44 SGB X angenommen hat, waren die entsprechenden Bescheide aufzuheben, da sie den Kläger in seinem Recht auf voll umfängliche Prüfung
verletzen.
Hinsichtlich des Ausgangsbescheides vom 26.07.2006 ist der form- und fristgerecht erhobene Widerspruch immer noch offen, ein
Widerspruchsbescheid ist insoweit nicht ergangen. Eine Aussetzung des Vorverfahrens gemäß §
114 Abs.2 analog
SGG kommt nicht in Betracht. Es wurde schon gar keine Klage gegen den Bescheid vom 26.07.2006 erhoben bzw. rechtshängig gemacht.
Eine Klage wird durch Einreichung einer Klageschrift (§
90 SGG) erhoben und damit rechtshängig gemacht (§
94 SGG). Dabei muss die Klage den Gegenstand des Klagebegehrens bezeichnen (§
92 SGG). Die Klageschrift vom 07.11.2006 kann nicht ausgelegt werden, dass insoweit auch der Bescheid vom 26.07 2006 angegriffen
werden sollte. Die Bescheide, nämlich der Bescheid der Beklagten vom 04.09.2006 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom
24.10.2006 sind exakt benannt worden und der Kläger ist durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten worden. Zwar ist richtig,
dass inzident Gegenstand dieser Bescheide die Überprüfung des Bescheids vom 26.07.2006 ist. Dies ändert aber nichts daran,
dass gegen den Bescheid vom 26.07.2006 unmittelbar keine Klage rechtshängig gemacht worden ist. Sofern lt. dem Antrag in der
Niederschrift am 22.05.2007 der Kläger beantragt hat, "...unter Aufhebung des Bescheides vom 26.07.2006 und des Bescheides
vom 04.09.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24.10.2006 ...", ist diese Erklärung im Lichte des Überprüfungsantrages
auszulegen und kann nicht als eigenständige Klage angesehen werden.
Das SG hat also zu Recht den Bescheid vom 04.09.2006 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24.10.2006 aufgehoben, durfte jedoch
mangels rechtshängiger Klage nicht unmittelbar über den Bescheid vom 26.07.2006 entscheiden, sodass insoweit das Urteil aufzuheben
ist, insoweit war die Berufung der Beklagten erfolgreich.
Die Berufung des Klägers war aus den gleichen Gründen zurückzuweisen,
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG.
Gründe, die Revision gemäß §
160 Abs.2 Nrn 1 und 2
SGG zuzulassen, liegen nicht vor.